Archivfund: Was die Notiz über die Nato-Osterweiterung bedeutet - WELT
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Was diese Notiz über die Nato-Osterweiterung tatsächlich bedeutet

Laut einer Akte im britischen Nationalarchiv sagte ein deutscher Diplomat am 6. März 1991, die Nato nicht „ausdehnen“ zu wollen. Doch eine Bestätigung von Putins These, der Westen habe Russland „verraten“, ist das keineswegs.
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„Russland bringt sich um die Chance, am Rande der Konferenz zu Kompromissen zu kommen“

Der designierte Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, bedauert, dass die russische Regierung sich dazu entschieden habe, in diesem Jahr niemanden nach München zu schicken. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, ihre Sichtweisen im Ukraine-Konflikt darzulegen.

Quelle: WELT / Christina Lewinsky

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Ein im britischen Nationalarchiv entdecktes Dokument soll den Vorwurf des russischen Präsidenten Wladimir Putin stützen, der Westen habe Russland mit der Nato-Osterweiterung „verraten“. Das berichtet das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, gestützt auf einen Fund des US-Politikwissenschaftlers Joshua Shifrinson. Es handelt sich um die Aktennotiz über ein Gespräch hochrangiger Vertreter des deutschen, des britischen, des französischen und des US-Außenministeriums in Bonn am 6. März 1991.

In der Aktennotiz, die der „Spiegel“ als Ausriss abbildet, heißt es wörtlich: „Chrobog said we needed new ideas on how to provide for the Security of Central and East European Countries. We had made it clear during the 2+4 negotiations that we would not extend Nato beyond the Elbe (sic). We could not therefore offer membership of Nato to Poland and the others.“ Übersetzt also: „Chrobog sagte, wir brauchen neue Ideen, wie wir die Sicherheit der mittel- und osteuropäischen Staaten gewährleisten. Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen wollen. Wir können deshalb nicht die Nato-Mitgliedschaft Polen und den anderen anbieten.“

Jürgen Chrobog, ehemaliger Diplomat, aufgenommen während der ARD-Talksendung "Anne Will" zum Thema: "Tote in Kairo - endet die ägyptische Revolution im Chaos?" in den Studios Berlin-Adlershof. Foto: Karlheinz Schindler
Der ehemalige Diplomat Jürgen Chrobog in einer Talkshow
Quelle: picture alliance / ZB

Seinerzeit leitete der Diplomat und spätere Botschafter sowie Staatssekretär Jürgen Chrobog das Büro von Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), war also ein sehr enger Vertrauter des deutschen Chefdiplomaten. Das gibt einer Äußerung wie der in der Aktennotiz niedergelegten natürlich einiges Gewicht. Aber wie immer lohnt es sich, die Äußerung genau zu analysieren, bevor man sie in einer bestimmten Richtung interpretiert.

Am wenigsten bemerkenswert ist noch, dass sich Chrobog offenbar versprach und „Elbe“ sagte statt richtig „Oder“ – deshalb setzte der offensichtlich (was bei einem professionellen Diplomaten nicht erstaunlich ist) gebildete Verfasser der Aktennotiz das lateinische Wörtchen „sic“ dahinter: üblicher Hinweis auf einen erkannten Irrtum.

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Größere Bedeutung hat natürlich Chrobogs Feststellung: „Wir haben in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe (gemeint: Oder) hinaus ausdehnen wollen.“ Doch was auf den ersten Blick neu und wichtig zu sein scheint, ist in Wirklichkeit lange bekannt – nämlich als die von Genscher 1990 tatsächlich zeitweise vertretene Ansicht.

Darüber kam es in jenem entscheidenden Sommer sogar im Bundeskabinett zum Streit mit Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU), der so eine Festlegung strikt ablehnte – übrigens nicht nur aus strategischen, sondern allein schon aus formalen Gründen. Denn ein deutscher Außenminister konnte natürlich niemals bindende Aussagen für die Nato treffen.

Die früheren Außenminister (l-r) James A. Baker (USA), Hans-Dietrich Genscher (Bundesrepublik Deutschland), Markus Meckel (DDR) und Eduard Schewardnadse (UdSSR) unterhalten sich am 28.9.2000 nach einem Essen in Berlin anlässlich des zehnten Jahrestages des sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrages. Die Außenminister der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs hatten 1990 zusammen mit den Amtskollegen der damals noch existierenden beiden deutschen Staaten den Weg für die staatliche Einheit frei gemacht. Die Verhandlungen der Zwei-plus-Vier-Mächte mündeten in einem am 12.9.1990 unterzeichneten Vertrag, der einem vereinigten Deutschland die volle Souveränität zurückgab.
Die Ex-Außenminister James Baker (USA), Hans-Dietrich Genscher (Bundesrepublik Deutschland), Markus Meckel (DDR) und Eduard Schewardnadse (UdSSR) im September 2000
Quelle: picture-alliance / dpa

1990 ging es ohnehin gar nicht um eine Osterweiterung der Nato, sondern um die Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands im westlichen Verteidigungsbündnis. Die hatten der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und sein Außenminister Eduard Schewardnadse zunächst verhindern wollen, dann aber doch bei der entscheidenden Runde der Zwei-plus-vier-Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten und den Siegermächten des Weltkriegs akzeptiert. Damit war die wesentliche Voraussetzung der USA erfüllt, die auf keinen Fall ein neutralisiertes Deutschland wollten.

Dazu passt, was der 1990 bis 1997 amtierende zunächst sowjetische, später russische Botschafter in Bonn, Wladislaw Petrowitsch Terechow, im Interview mit dem Osteuropa-Historiker und Gorbatschow-Biografen Ignaz Lozo vor laufender Kamera betonte: „Der Begriff Nato-Osterweiterung ist ein Begriff einer späteren Epoche“, nicht der Zeit 1990/91. Dem pflichtete ebenfalls vor Lozos Kamera der frühere Marschall der Sowjetunion Dimitri Jasow bei: „Gorbatschow hat mit mir niemals über die Nato-Osterweiterung gesprochen.“

Das bestätigte auch James Baker, der 1990 US-Außenminister war: „Es gab niemals eine Diskussion über eine Nato-Erweiterung im allgemeinen Sinn. Bei den Zwei-plus-vier-Verhandlungen wurde über die Nato ausschließlich im Zusammenhang mit der DDR gesprochen.“

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Das betonte sogar Gorbatschow persönlich. Ihm sollte ja angeblich die Zusage gegeben worden sein, eine Nato-Osterweiterung nicht zuzulassen. Dabei handele es sich um einen „Mythos“, sagte Gorbatschow 2014 abermals gegenüber Lozo und vor laufender Kamera: „Es konnte so eine Vereinbarung gar nicht geben, es ging nur um das Territorium der DDR. Es hat keine Tricksereien gegeben. Alles andere sind Erfindungen, mit denen man uns, den Deutschen oder sonst wem etwas anhängen will.“

epa04183786 Russian President Vladimir Putin attends a meeting with members of the Council of Legislators under the Russian Federal Assembly in Petrozavodsk, Russia, 28 April 2014. The US Treasury Department is imposing sanctions on seven Russian government officials, including two members of President Vladimir Putin's inner circle, it says. They will be subject to asset freezes and US visa bans. EPA/ALEXEY DRUZHINYN /RIA NOVOSTI / KREMLIN POOL MANDATORY CREDIT +++ dpa-Bildfunk +++
Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz 2014
Quelle: picture alliance / dpa

In seinem sehenswerten ZDF-Film „Poker um die deutsche Einheit. Wurde Russland in der Nato-Frage getäuscht?“ von 2015 und im Gespräch mit WELT wies Lozo auf zusätzliche Befunde hin, die gegen eine informelle Zusage des Westens gegen eine Nato-Osterweiterung sprechen. Erstens, dass „Russland 1994 der ,Partnerschaft für den Frieden’ beigetreten ist“. Der US-Außenminister Warren Christopher sagte aus diesem Anlass: „Alle Mitglieder dieser Partnerschaft sind potenzielle Mitglieder der Nato.“ Mitglieder dieses Programms waren neben Russland übrigens auch Polen und die drei baltischen Staaten.

Ebenfalls interessant ist das Budapester Memorandum von Dezember 1994. Darin ging es um die Rückgabe der ehemals sowjetischen, in den nun aber unabhängigen Staaten Ukraine, Belarus und Kasachstan lagernden Atomwaffen an Russland. Der damalige Präsident Boris Jelzin garantierte in diesem Dokument ausdrücklich die „Unabhängigkeit, Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine“.

Indirekt widerlegte sogar Wladimir Putin selbst am 5. März 2000, ein knappes Jahr nach unter anderem Polens Beitritt zur Nato, seine späteren Behauptungen vom „Verrat“ des Westens. Seinerzeit noch als kommissarischer Präsident stellte er nämlich Bedingungen für einen Beitritt seines Landes zur Nato. Im Interview mit der BBC sagte er: „Russland muss allerdings als gleichberechtigter Partner anerkannt werden.“

Daher bilanziert Ignaz Lozo den Streit über die Nato-Osterweiterung bündig: „Wenn jemand wortbrüchig geworden ist, dann Wladimir Putin.“

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