Hessen: Wie sich das Städtchen Hanau neu erfindet - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Debatte
  3. Hessen: Wie sich das Städtchen Hanau neu erfindet

Meinung Hessen

Wie sich das Städtchen Hanau neu erfindet

In Hanau (Hessen) wird ein großer Stadtumbau geplant. In Hanau (Hessen) wird ein großer Stadtumbau geplant.
In Hanau (Hessen) wird ein großer Stadtumbau geplant.
Quelle: picture alliance / dpa/dpa
Hanau muss sich zum zweiten Mal völlig neu erfinden. Die Weltgeschichte hinterließ in der hessischen Kleinstadt stets tiefe Spuren.

Hanau ist hässlich. Das ist der erste Eindruck, den ein Besucher gewinnt, der am Hauptbahnhof ankommt. Wer ein bisschen länger bleibt, erfährt, warum das so ist. Das schöne alte Hanau ging am 19. März 1945 unter, als in einer halben Stunde britische Bomber die Stadt nahezu komplett zerstörten. 2500 Menschen kamen in den Flammen um. Wer von den 38 000 Einwohnern der Vorkriegzeit überlebt hatte, verließ den Ort des Schreckens. Nur 10 000 blieben zurück und bauten wieder auf. An Schönheit dachte niemand mehr, man brauchte Dächer über den Köpfen.

Auch 65 Jahre nach Kriegsende hat Hanau etwas Unfertiges, Improvisiertes. Das soll sich ändern. Unter großer Zustimmung der Bevölkerung beschloss der Magistrat, die gesamte Innenstadt umzubauen. Eine Stadt, die ihr Zentrum neu erfindet, das kommt nicht oft vor. Was ist das für ein Ort, der so etwas beschließt?

Provinzstädte haben oft ein Identitätsproblem, wenn sie sehr nah an Metropolen liegen - so wie Hanau an Frankfurt. Man ist Vortort und unzufrieden darüber. Freitagabend fährt jeder unter 30 in die Großstadt. Doch an solcher provinzieller Passivität litt Hanau nie. Im Gegenteil: Man zog immer wieder – freiwillig oder unfreiwillig – die Aufmerksamkeit der gesamten Republik auf sich. Hier wurde Geschichte gemacht und hinterließ tiefere Spuren als in manchen deutschen Metropolen. Napoleon errang in der Schlacht bei Hanau seinen letzten Sieg auf deutschem Boden. In den revolutionären Jahren 1848 bis 1850 bildeten die Bürger Hanaus eine kämpferische Miliz, die dem Kurfürsten kräftig einheizte, und von den Demokraten in ganz Deutschland bewundert wurde. 1918 regierte der Arbeiter- und Soldatenrat ein gutes Jahr: Das rote Hanau.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nahm das Unheil wie überall seien Lauf, endete aber mit noch mehr Schrecken als anderswo. In den 30er-Jahren ekelte man die Juden aus der Stadt. Wer dennoch blieb, wurde 1942 zum Bahnhof befohlen und mit dem Zug in ein Vernichtungslager gebracht. Wie wohl geordnet und kaltblütig es dabei zuging hielt der Stadtfotograf fest. Dessen Bilder der Deportation sind heute in Gedenkstätten in aller Welt zu sehen. Drei Jahre später lag die Stadt in Asche und unter Aufsicht von US-Soldaten mussten 600 vormals aktive Nazis Trümmer aufräumen. Die Schuttberge waren gewaltig. Nach wenigen Tagen packten auch die anderen Bürger zu. Diese gewaltige Aufräumaktion wird bis heute alljährlich mit einem großen Fest am Main gefeiert.

Lesen Sie auch

Auch wenn die Stadtwerbung alles daran setzt, das betuliche Bild einer Brüder-Grimm-Stadt zu pflegen (die berühmten Märchensammler wurden hier geboren, wie auch Paul Hindemith und Rudi Völler), so weckt bei den meisten Deutschen der Ortsname Hanau doch ganz anderen Assoziationen. Bis heute hallt der Ruf des „Roten Hanau“ ein wenig nach. Aber das ist schon lange her. Frischer ist die Erinnerung an Hanau als Atomstadt. Hier stand bis in die 90er-Jahre Deutschlands Brennelement-Schmiede und die anderen Zentren der Atomindustrie.

Wessen Erinnerung etwas weiter zurückreicht, der verbindet mit Hanau die Präsenz Amerikas in der Bundesrepublik. Im Lamboyviertel und im Stadtteil Wolfgang waren einmal 35 000 GIs stationiert: eine Stadt in der Stadt. Der deutsche Atomausstieg bedeutete das aus für die Nuklearindustrie. Der Zusammenbruch der Sowjetunion machte die Anwesenheit der US-Truppen überflüssig. Beides kam zu gleicher Zeit. Kasernen, Wohnviertel, Garagen, Waffenhallen und Übungsplätze werden nicht mehr gebraucht. 340 Hektar Militärgelände fiel in die Planungshoheit der Stadt zurück. Auf den so genannte Konversionsflächen entstehen jetzt Wohnungen, Schulen, Konzertbühnen, Gewerbebetriebe und ein Katastrophenschutzzentrum. Ein ehemaliges Panzerübungsgelände im angrenzenden Wald wird Naturreservat für Wildpferde.

Während die alten Kasernen am Stadtrand immer schöner werden, hat das Zentrum immer noch kein Gesicht. Es ist ein bunter Flickenteppich aus teilweise ziemlich gebrechlichen Nachkriegsgebäuden die mit grellen Werbeschildern verunziert sind. Geschäftsnamen wie „Anadolu-Markt“ und „Istanbul-Discount“ zeugen von der neuen Bevölkerungsstruktur der 88 000-Einwohner-Stadt. Der Ausländeranteil beträgt etwa 20 Prozent und besteht hauptsächlich aus türkischen Staatsbürgern, darunter viele Kurden. Rechnet man die Deutschen mit Migrationshintergrund hinzu, kommt man auf über 40 Prozent der Stadtbevölkerung. „Wir haben hier kein Problem damit“, sagt Siggi Koch, Stadtrat der freien Wählergruppe „Bürger für Hanau“, „wenn ich lese, was in Berlin oder Hamburg so los ist, kann ich mich nur wundern. Straßenkriminalität gibt's hier weniger als in den meisten anderen Städten.“

Was ist in Hanau besser gelaufen? „Die deutsche Bevölkerung hat sehr gelassen auf die Einwanderer reagiert“, sagt Koch. Womöglich weil die Hanauer schon seit 1945 ständig mit Menschen auskommen mussten, die anders aussahen und sich anders benahmen als die Einheimischen. Schwarze, hispanische und asiatischstämmige US-Soldaten sorgten damals bereits für ein ziemlich buntes Stadtbild.

Manchmal wurde es zu bunt, besonders an den Zahltagen, den „Paydays“, wenn die jungen GIs die Taschen voller Dollars hatten. Dann rückte die Militärpolizei gemeinsam mit ihren deutschen Kollegen aus und stürmten die Clubs, in denen die Amerikaner und die hessische Jugend sich von wilden Rhythmen durchrütteln ließen. „Früher war die Club-Dichte in Hanau höher als in den größten deutschen Städten“, schwärmt Peter Milpacher, der einst im Club Studio Luxemburg Platten auflegte. In den 50er und frühen 60er-Jahren pilgerten Rock'n'roll-Begeisterte aus Frankfurt und dem ganzen Rhein-Main-Gebiet ins „hessische St. Pauli“ (Bildzeitung). Dort wurden die neuesten Scheiben aus Amerika aufgelegt, es spielten die besten ausländischen Bands. Eine Zeit lang brachte dies „multikulturelle“ Stilrichtungen hervor (obwohl es den Begriff „multikulturell“ noch gar nicht gab). Die Jolly-Bar war um 1960 Zentrum des „Indo-Rock“. Heute eine vergessene Musikrichtung, damals der absolut angesagte Sound. Gespielt von indonesisch-niederländischen E-Gitarren-Virtousen in Hanau. Als es in und um die Clubs immer wilder wurde, sorgte der damalige Polizeipräsident für Ruhe und Ordnung, indem er die Sperrstunde vorverlegte und das Jungendschutzgesetz rigoros zu Anwendung brache. „Die Polizisten sprangen auf die Bühne und riefen ‚Closed!'“ erinnert sich Milpacher. „Manchmal kam es zu Massenschlägereien mit denen erst die Militärpolizei fertig wurde.“

Anzeige

Nach dem Ende der wilden Rock'n'roll-Club-Zeit sorgte der nächste Club für Unruhe. Wiederum ging sie über das kleinstädtische Normalmaß weit hinaus. Im Club Voltaire trafen sich die revolutionären Oberschüler und eiferten ihren studentischen Vorbildern in Frankfurt und Berlin nach. Milpacher wandelte sich vom hedonistischen Discjockey zunächst zum stadtbekannten „Hasch-Pepperl“ dann zum Trotzkisten, und sorgte weiterhin für Unruhe in der Provinz. Die engen Gassen Hanaus brachten immer aufs Neue lebenshungrige Jugendkulturen hervor.

In den Industrievierteln fanden unterdessen folgenreiche Veränderungen statt. Nicht nur die Atomindustrie, auch andere große Unternehmen schlossen ihre Standorte. Ende der 90er Jahre war der Niedergang unübersehbar. Ein Traditionsgeschäft nach dem anderen machte dicht und wurde von Billigläden abgelöst. Und dann zogen auch noch die Amerikaner ab: 35 000 Bewohner weniger. Hanau war nicht mehr Hanau.

Man muss sich mit einem Niedergang nicht abfinden. Schon gar nicht in einer Stadt, die schon einen Untergang überlebt hat. Hanau versucht sich ein neues Gesicht zu geben, ein Zentrum in dem Wohnen, Einkaufen, Verkehr, Freizeit und Kultur eine harmonische Verbindung eingehen. Wo Kneipen und Restaurants ebenso Platz haben wie Ladengalerien und die Stadtbücherei. Und wo sogar ein Busbahnhof schön sein kann.

Das Rezept dafür heißt „Wettbewerblicher Dialog“ und meint eine Ausschreibung, bei der auch die Bürger mitreden dürfen. 5000 Hanauer schauten sich die konkurrierenden Entwürfe an. Um das Herz Hanaus bewarben sich einige der größten Investoren und Planungsbüros Europas. Am Schluss entschied sich der Magistrat für das Lübecker Unternehmen HBB (Hanseatische Betreuungs- und Beteiligungsgesellschaft). Der große Umbau kann beginnen. Für 200 Millionen Euro sollen die zentralen Plätze und die sie verbindenden Straßen, insgesamt 40 Hektar Innenstadt, neu gestaltet werden. 160 Millionen bringt der Investor mit. Der Rest kommt auch Grundstücksverkäufen, Landesmitteln und 22 Millionen neuen Schulden der Stadt, die bei der Hanauer Sparkasse bereits mit 330 Millionen in der Kreide steht. Man baut darauf, dass Heraeus, VAC, Dunlop und die viele Mittelständler weiterhin wirtschaftliches Fundament Hanaus bilden. „Die Kaufkraft ist da“, sagt Siggi Koch, „wir haben sogar die zweitgrößte Millionärsdichte Hessens.“

Es ist ein überaus ehrgeiziges Projekt, das der Innenstadt wieder ein schönes Gesicht geben soll. Rötlicher Sandstein, der einst das alte Hanau prägte, wird die Fassaden schmücken und es wird reichlich Reminiszenzen an die grimmsche Märchenwelt geben. Die Hanauer werden es hinkriegen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema