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Jürgen Habermas, der 2019 seinen 90. Geburtstag feiern konnte, gehört neben Horkheimer und Adorno zu den maßgeblichen Denkern der Frankfurter Schule und damit zur Kritischen Theorie insgesamt. Angesichts der Tatsache, dass er derzeit der weltweit am häufigsten gegoogelte und zitierte Autor ist, der von einem internationalen Preis zum anderen eilt, kann man ohne Übertreibung auch sagen, dass Habermas in paradigmatischer Hinsicht das Gesicht der Kritischen Theorie weltweit darstellt. Allerdings hat der am 18. Juni 1929 geborene Autor, der in seinen zahlreichen Schriften auf originelle Weise soziologische, philosophische wie sprachanalytische und kulturelle Axiomata zu verbinden weiß, sich nie als einen zentralen Vertreter der Frankfurter Schule begriffen. Sicherlich ist Habermas ein Repräsentant der Kritischen Theorie, allerdings dies auch wieder in einer eigenwilligen Mischung, in der die klassische Hegelexegese mit einem Kantischen Idealismus verbunden und noch dazu durch eine marxistische Kritikform an den ökonomischen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft überlagert bzw. grundiert wird. Habermas, der auf verschiedenen Professuren in Heidelberg und Frankfurt (1961–1994) tätig war, hat sich Zeit seines Lebens immer wieder mit dem Zusammenspiel von Individuum und Öffentlichkeit unter den Strukturbedingungen der Moderne beschäftigt. Im Folgenden soll daher hier besonders auf die Bedeutung der sogenannten Diskurstheorie eingegangen werden, mit und an der sich für Habermas ein ganz wesentlicher Ansatzpunkt für das bürgerliche Selbstverständnis und die Freiheitsrechte im demokratischen Staat verbindet.

1 Das (hermeneutische) Problem der Moderne

So erfolgreich der Prozess der Moderne auch ist, so beinhaltet diese Moderne dennoch (oder gerade deswegen) eine Reihe von grundsätzlichen Problemen. Zwar hat sich seit der Aufklärung eine Säkularität des öffentlichen Lebens eingestellt, die man insgesamt unter dem Paradigma der Emanzipation einstufen kann. Die Individualisierung, die hiermit verbunden ist, macht das Freiheitsmoment auf einer Ebene adressierbar, die für jedermann einsehbar und praktizierbar geworden ist. Die Idee der Menschenrechte läuft im Kern auf das Format einer selbstreflexiven, vernunftgeleiteten Setzung des je eigenen Selbst hinaus, das sich hierbei freiheitlich (d. h. im Einklang mit den je eigenen Normen und Überzeugungen) bewegen kann. Auch wenn diese gewiss etwas ideale Verständnisweise von Aufklärung gerade in der Säkularität der modernen Existenz immer wieder von religiösen Dogmen und Bevormundungen anderer Art, wie z. B. den politischen Ideologien, herausgefordert und durchbrochen wird, so bleibt der Befund letztlich als Ganzes so zunächst einmal bestehen. „Aufklärung“, so hat es Habermas einmal formuliert (Habermas 1990, S. 136), „ist ein Reflex der Selbsterfahrung im Verlauf von Lernprozessen“. Das ist hier ganz kantianisch gedacht, d. h., das aufgeklärte Subjekt muss sich selbst immer wieder kritisch überprüfen. Aber woran macht es die Standards der Überprüfung fest? Und was bietet sich hier als stabiler Grund für die kritische Selbstreflexion an? Das wird nicht so recht deutlich. Denn die Vernunft selbst bleibt ja vage, weil ambivalent.

Während in prämodernen oder mittelalterlichen Zeiten die Kirche und die jeweiligen territorialen Obrigkeiten die Gründe für das Maß der Vernunft anzeigten, bleibt dem aufgeklärten Intellekt hier zunächst nur der Rückbezug auf sich selbst. Das kann einerseits in einen nihilistischen Existenzialismus führen (wie ihn Nietzsche vorexerziert hat) oder in ein depressives Zaudern und Zweifeln an allem (und besonders an dem eigenen Selbst). Der Beginn der Psychoanalyse ist insofern folgerichtig auch ein Projekt der Moderne mit sich selbst, indem es seine pathogene Begleitstruktur zu eruieren und zu beseitigen sucht.

Die kollektiven, großformatigen Systemangebote der Moderne wie Staat, Nation, Gesellschaft und Wirtschaft liefern hier für das einzelne Subjekt Hilfsangebote in der Zu- und Einordnung des je Eigenen in das große Ganze. Diese Institutionen der Moderne vermitteln Sinninterpretationen zur Beantwortung der Frage, wo, wie und wer man was zu gegebener Zeit ist – oder eben nicht ist. Doch so omnipotent sich diese Beschreibungen und Appelle an die moderne Existenz auch geben, so lässt sich dennoch nicht vermeiden, dass hierbei Antinomien entstehen, diese wiederum Spannungen und Missverständnisse erzeugen, die letztlich auf ein komplettes Unverständnis bezüglich der je eigenen Situation hinauslaufen können. Zwar sind die Antinomien in der modernen Alltagsstruktur systemimmanent, anders ließe sich die Pluralität der individuellen Lebensentwürfe unter dem Freiheitsgedanken gar nicht organisieren. Doch kognitiv betrachtet kann diese antinomische Struktur derart frappierend sein, dass ein konkretes Ich das Wir, in dem es lebt, gar nicht mehr versteht.

Dieser Fall, der als Grenzwertfall individualisiert der Psychoanalyse vorbehalten bleibt, ist jedoch endemisch eingebettet in die Alltagsstruktur der modernen Welt. Über die meisten Dinge, die uns umgeben, wissen wir fast gar nichts. Jede Anwendung eines Smartphones von Milliarden von Nutzern basiert auf einer Struktur von Algorithmen, von denen die Nutzer in der Regel gar nichts verstehen. Dieser Befund gilt nicht nur für den Umgang mit den technischen Dingen dieser Welt, sondern er gilt ganz besonders auch im Hinblick auf die noetischen Dinge in der Wahrnehmung dessen, was überhaupt passiert. Trotz aller Systemlogiken erscheint die Moderne damit weitaus fragmentierter und widersprüchlicher als frühere Epochen. Sie erweist sich sogar in einem ganz spezifischen Bereich als ausgesprochen problematisch – und zwar im Umgang mit der politischen Praxis.

Politik ist eigentlich in der säkularen Moderne vom Typus her zwar ein Hauptsteuerungsmittel für die individuelle Existenz, weil hierdurch Lebenswelten sachgerecht miteinander verbunden werden. So ist zumindest der logische Anspruch. Doch bei der Herstellung dieser Verbindung zwischen dieser je eigenen Lebenswelt und der Systemwelt (des Staates) hapert es. In der Formationsphase des modernen Staates haben Ideologien recht erfolgreich den Kode dieser Verbindung zwischen dem Menschen als Bürger und dem Staat und seinen Bürgern hergestellt. Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus formulierten hierfür die Paradigmen, mit denen man sich ein- und zuteilen konnte, dies dann auch noch schichten-, klassen- oder gruppenbezogen, je nachdem, wie man es selbst für sich als passend hielt oder man passend gemacht wurde.

Doch im Verlauf der Moderne bekamen diese politisch-ideologischen Zuordnungsangebote ihre Risse. Sie blieben nicht stabil. Die Individualisierungsschübe der privaten Lebenswelt wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer stärker. Egal, ob man diese Phase, in der wir heute auch noch sind, Spätmoderne (oder wie manche meinen, schon eine Postmoderne) nennt, ist die Vermittlungsebene zwischen der je eigenen (internen) Lebenswelt und der Außenwelt als Systemwelt immer brüchiger geworden. Formal gesehen ist dann das einzig wirkliche Bindegewebe, was den spätmodernen Menschen gesellschaftlich wie politisch zusammenhält mit den anderen Bürgern, die Ebene des Rechts. Folgerichtig ist das der Kode, bei dem Habermas für seine soziologische Betrachtung ansetzt. Wie verhalten sich das Recht und die Institutionen des Rechtsstaates als ein von der Gemeinschaft aller Bürger her legitimiertes System in der Vermittlungsfrage zwischen System- und Lebenswelt?

Diese Frage so zu stellen, setzt natürlich voraus, dass es sich bei dem politischen System um eine Demokratie handelt. Dieser Hinweis ist keineswegs unnötig, weil selbstverständlich, denn in der systemischen Perspektive, die Habermas bei seiner Analyse einschlägt, wird schnell deutlich, wie gefährdet die Vermittlungsleistung des Rechts zwischen System- und Lebenswelt ist.

2 Faktizität und Geltung

Wenn das Recht nicht einfach auf dem Machtanspruch der Herrschenden basieren soll, egal, ob es sich dabei um eine konkrete Einzelperson, eine Partei oder eine Clique handelt, dann bedarf die Rechtsfrage einer Sicherung in zweierlei Hinsicht: a) im Hinblick auf diejenigen, die das Recht anwenden (dürfen/sollen/müssen) und b) in Bezug auf all diejenigen, die mit diesem Recht leben und ihre Ansprüche demzufolge formulieren dürfen. Im Grunde ist dies der klassisch republikanische Kode, wie ihn schon Cicero vertreten und Rousseau dies für die Moderne als Paradigma erneuert hat:Footnote 1 der Bürger ist Auftraggeber, Exekutor wie Nutznießer des Rechts (in Form der Gesetze) gleichermaßen. Nur bei einem solchen Kreislaufverständnis stellt sich eine Republik (und damit auch eine Demokratie im modernen Sinne) ein. Im Grunde ist dies eine Synthese, die hier angezeigt wird und die jeweils dann und dort zustande kommt, wenn die Verhältnisse entsprechend weitestgehend austariert worden sind.

Das alles ist demokratietheoretisch bekannt und auch nicht neu. Was hingegen neu ist, das zeigt Habermas mit seiner Schrift über Faktizität und Geltung (1992),Footnote 2 die sicherlich als die stringenteste Auseinandersetzung mit der Begründung politischer Ordnung in der Geschichte der Kritischen Theorie bezeichnet werden darf. Während Habermas in seinen früheren Schriften eher (nur) soziologisch oder sozialphilosophisch bzw. sprachanalytisch argumentierte, begibt er sich mit dieser Schrift unmissverständlich auf einen institutionellen Diskurs, der von seiner Metastruktur her nicht nur die Gesellschaft als Rahmensystem für die individuellen Präferenzen konnotiert, sondern hierbei auch dezidiert die Handlungsmacht und vor allem deren Legitimation durch das maßgebliche politische Ordnungsgefüge (den Staat) bilanziert. Spöttisch haben insbesondere Juristen hierauf reagiert, indem man konzedierte, dass der Vertreter der Kritischen Theorie damit auch endlich beim Rechtsstaat angekommen sei. Doch diese Einordnung ist hermeneutisch zu kurz gegriffen und zu augenfällig, weil sie unterschlägt, mit welchem Begründungsmodell Habermas hier zugunsten der Qualität des Rechts als Vermittlungsinstanz zwischen der privatistischen Lebenswelt und der Allgemeinheit (und damit auch der Verbindlichkeit) der öffentlichen Systemwelt argumentiert.

Denn der heuristische Anspruch liegt nicht einfach in einer systemischen Begründung und Rechtfertigung des bestehenden demokratischen Rechtsstaatsmodells, schon gar nicht (nur) dem der Bundesrepublik Deutschland. Fast in sozialistischer (um nicht zu sagen neomarxistischer) Provenienz ist hier das heuristische Ziel, eine Begründung zu liefern, mit deren Hilfe „eine Assoziation freier und gleicher Bürger“ untereinander zustande kommen kann. (Habermas 1994, S. 24) Wie lässt sich ein gesellschaftliches Band der Teilhabe in Freiwilligkeit formatieren, wenn alle Beteiligten dabei auch die Möglichkeit haben, sich eben davon (aus guten Gründen) zu absentieren? – Denn nur wenn das Prinzip der Freiwilligkeit gewährleistet bleibt, ist die Einsicht in die Notwendigkeit des Ganzen, egal worin diese inhaltlich bestehen mag, vernünftigerweise gegeben. Der Appell an den republikanischen Kode ist also hier nicht einfach der zugunsten der Notwendigkeit und der normativen Autorität von Institutionen (des Staates), die im Rahmen eines Gewaltmonopols (wie bei Rousseau) schon dafür sorgen werden, dass das Richtige als ein Vernünftiges sich durchsetzt. Der (neu) zu gewinnende Kode besteht vielmehr darin, dass sich alle Beteiligten über ihre Rolle als Bürger im Sinne der Gleichheit und der Freiheit der Wahl klar werden müssen, wie sie selbst hier zur richtigen Entscheidung (über ihr Leben) kommen wollen.

Im Grunde ist es der alte Konflikt zwischen der rein privativen Existenz und der einer öffentlichen Person, die jeder als Bürger eben auch ist, die hier überwunden bzw. zu einer Einheit gelangen soll. Dieses Thema ist quasi der innere normative Kern der Kritischen Theorie, an der sich alle Vertreter mit mehr oder weniger Kompetenz an den Prämissen und Folgerungen der Hegelschen Rechtsphilosophie abarbeiten.Footnote 3 Bei Habermas bekommt diese Auslegung eine immanent rousseauistische Perspektive erneut zugeteilt, indem der Mensch als Bürger die Voraussetzungen seiner Ordnung wie auch deren Umsetzung in freiheitlicher Absicht sich selbst gegenüber legitimiert. Die Gesetzgebung des Staates als der maßgeblichen Systemwelt wird dann akzeptabel sein, wenn sie einer Selbstauslegung quasi als Selbstgesetzgebung des einzelnen Bürgers entspricht. Darin zeigt sich auch ein kantianischer Impetus, wenn Habermas formuliert:Footnote 4 „Die Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie zeigt sich erst, wenn wir die Denkfigur der Selbstgesetzgebung, wonach die Adressaten zugleich die Urheber ihrer Rechte sind, diskurstheoretisch entschlüsseln.“ (Habermas 1994, S. 135).

Das Neue in seiner Argumentation ist also nicht einfach die Verbindung klassischer Theoreme von Rousseau über Kant bis hin zu Hegel, sondern deren Verschmelzung bzw. Verbindung über das Medium der Diskurstheorie.

3 Der Diskurs

Die Diskurstheorie ist das Thema bei den zahlreichen Arbeiten von Habermas, dem er sich seit den Anfängen mit der Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) immer wieder gewidmet hat.Footnote 5 Vor allem die sprachwissenschaftliche Diagnose ist hier neben der soziologischen interessant und relevant geworden, denn ohne sie wären die Ausführungen in Faktizität und Geltung nicht von derart grundsätzlicher Bedeutung. Deshalb sei an dieser Stelle kurz im epistemologischen Exkurs an die Grundzüge der Diskurstheorie erinnert.Footnote 6

Der Dualismus der modernen Existenz in Form der je individuellen Lebensweise und der, die durch die Allgemeinheit vorgeschrieben oder bürgerlich (als zum guten Ton der Sitten gehörend) erwartet wird, ist immer auch ein Vorgang, der sprachlich kommuniziert wird. D. h., die Selbstheit des Individuums muss mit der Allgemeinheit des Staates kommunizieren können. Beide Ebenen müssen kongruent aufeinander abgestellt sein. Es muss hierbei keine perfekte Synthese vorhanden sein, diese wird es nie geben (auch nicht in einer Diktatur). Doch im Rahmen der Dualität zwischen Lebens- und Systemwelt bedarf es einer zumindest funktionalen Übereinstimmung in der Art und Weise des Sprechens (und des Verstehens) zwischen beiden Welten. Insofern ist auch jede Privatsprache nur so weit privativ, wie sie immer noch anschlussfähig bleibt an die Sprachkodes des Öffentlichen, der Allgemeinheit. Umgekehrt dringt auch die Sprache des Öffentlichen, hier vor allem die der politischen Formate, nur so weit in die Privatheit vor, wie sie diese nicht per se ausschließt von ihrer eigenen Terminologie.

Das bedeutet, zwischen beiden Sprachwelten, wenn man den Dualismus so bezeichnen darf, existiert ein Moment der Überlappung, in der die Kodizes aus- und eingetauscht werden können (und müssen), sonst können beide Welten nicht miteinander kommunizieren. Das ist, darauf weist Habermas schon sehr früh in seinen Arbeiten hin, nicht nur ein sprachwissenschaftliches, sondern auch ein identitätsphilosophisches Problem. Die heute aktuelle Auseinandersetzung über Sinn und Unsinn von identitätspolitischen Angeboten hat gerade hierin ihren heuristischen Ausgangspunkt.

Damit die Teilnehmer, also die Menschen als Bürger, in ihrer Intersubjektivität ihre freiheitliche Perspektive tatsächlich im kommunikativen Umgang miteinander einnehmen und wahren können, bedarf es einer Reihe von Gründen bzw. Regeln, sonst kann der Diskurs nicht funktionieren. Für Habermas sind dies folgende vier Bedingungen (vgl. Horster 2010, S. 36):

  1. 1.

    Alle (Teilnehmer) müssen die gleiche Chance haben, um im Diskurs bestehen zu können.

  2. 2.

    Alle müssen ihre Geltungsgründe erläutern können.

  3. 3.

    Die Sprechakte müssen repräsentativ sein.

  4. 4.

    Am Diskurs nehmen nur diejenigen teil, deren Handlungschancen auch ihren Sprechakten entsprechen.

Nur wenn diese vier Bedingungssätze gelten, dann kann der Diskurs a) als offen und b) als freiheitlich angesehen werden. Für eine freiheitliche (also demokratische) Gesellschaft eine conditio sine qua non, ohne die sie als demokratische Ordnung nicht bestehen kann. Das Problem besteht natürlich schon in der Reichweite der Geltung dieser vier Bedingungen. Rein theoretisch betrachtet sind sie klar formuliert, doch was bedeutet dies ganz konkret in einer jeweiligen Praxis?

  1. A)

    ist zu klären, wer und warum zu dem Begriff alle gehört? Sind das z. B. alle Menschen, die in einem Land leben und arbeiten, ihre Steuern zahlen oder sind dies nur die politisch Ausgewiesenen in Form der modernen Staatsbürgerschaft? Die aktuelle Konstellation mit großen Flüchtlings- und Migrationszahlen demonstriert anschaulich, wie schwierig hier eine bloß formale Kennzeichnung ist.

  2. B)

    Wenn die Geltungsgründe erläutert werden, verhalten sich hierbei dann auch alle tatsächlich offen, d. h. transparent? Oder werden sich manche einen Vorteil dadurch zu verschaffen versuchen, dass sie falsche Gründe für ihre Absichten, die strategisch verheimlicht werden, anzeigen? Und was ist mit all denjenigen, die sich gar nicht deutlich klar gemacht haben, was denn ihre spezifischen Gründe sein mögen?

  3. C)

    Die Qualität der Repräsentativität ist insofern eher eine ideale Unterstellung als eine faktische Normativität. Was, wer, wie repräsentiert, erweist sich oft erst am Ende eines Diskurses – oder auch erst historisch im Nachhinein.

  4. D)

    Die Teilnahmeforderung für nur diejenigen, deren Handlungschancen auch ihren Sprechakten entsprechen mögen, wirkt wie eine Oktroyierung zugunsten derjenigen, die quasi am Rationalsten ihre Argumente vorbringen würden. Das ist dann die Vergötzung der scientistischen Argumentation zum Selbstzweck. Über den Diskurs des Öffentlichen entscheiden nur noch Experten, weil diese (angeblich) den Sinn ihrer Sprechakte mit den Handlungsfolgen rational kalkulieren können.

Ganz abgesehen davon, dass gerade Letzteres (D) ganz offensichtlich nicht der Fall ist, führt also die Diskurstheorie, so wie sie von Habermas als Postulat aufgestellt wird, zu einer Reihe von intrinsischen Problemen. Diese werden noch deutlicher, wenn man sie vor dem Hintergrund des praktischen Bezugsfeldes analysiert, also auf dem Gebiet der Politik.

4 Deliberative Politik

In Faktizität und Geltung führt Habermas als Novum das Konzept einer deliberativen Politik vor. Allerdings ist dieses Politikverständnis gar nicht so neu, wie er es hier glauben machen will, sondern basiert auf einer intensiven Debatte innerhalb der USA in den 1980er Jahren. Diese inneramerikanische Diskussion wird von Habermas über weite Strecken seines Buches nachgezeichnet und kommentiert. (Vgl. Habermas 1994, S. 349 ff. u. passim) Das ist für den deutschen Kontext zweifellos in den frühen 1990er Jahren eine Neuheit gewesen, aber das eigentlich heuristisch Neue an dieser Beweisführung ist etwas anderes, nämlich die Verbindung der Diskurstheorie mit der Argumentation einer deliberativen Politik!

Deliberation meint klassischerweise eine verhandelnde, die einzelnen Argumente (klug) abwägende Form bei der Ausgestaltung von politischer Ordnung. Diese Art der Demokratiebetrachtung ist vor allem im Kontext der Argumentation von John Rawls eine Zeitlang sehr populär geworden, geht man doch hierbei von einem Lagebild aus, bei dem der einzelne Bürger sich mit seinen (privaten) Interessen sowohl zum Wohle der Allgemeinheit als auch des eigenen Selbst in einem wechselseitigen Aushandlungsprozess einbringt und damit Politik im Alltagshandeln legitimiert.Footnote 7

Im Gegensatz zum klassischen Repräsentationsverständnis von Demokratie setzt die Deliberative Demokratie nicht einfach nur auf Partizipation, sondern fokussiert und motiviert den kommunikativen Austausch der Bürgerinnen und Bürger untereinander, mit dem Ziel, die gemeinsame Ordnung integrativ zu gestalten. Während das klassische Repräsentationsmodell eher zum liberalen Staatsverständnis führt, beinhaltet der Deliberationsgedanke die Aufforderung, streng genommen mit dem kantianischen Anspruch, sich aus der eigenen Unmündigkeit hinweg zu begeben, indem man einen permanenten Dialog mit all den anderen Bürgern seines Systems führt. Für Habermas ist der liberale Staat synonym mit einer grundsätzlich unpolitischen Gesellschaft. (Vgl. Habermas 1994, S. 361) Unpolitisch deshalb, weil hier die Akteure in ihrem bürgerlichen Dasein recht einseitig auf ihren jeweiligen Kosten-Nutzen-Vorteil in ihrer privaten Existenz zielen und dabei tendenziell die Verpflichtung für das allgemeine Interesse außer Acht lassen. Dagegen geht es in einer deliberativen Demokratie zentral darum, sich rational einzubringen in den Bürgerdialog über die Gemeinsamkeiten (und das Trennende). Beides zusammen macht dann die Politik aus.

Die deliberative Politik lebt hierbei

  1. 1.

    von der Voraussetzung einer formalen Chancengleicheit für alle Beteiligten,

  2. 2.

    von Verfahren, die prozedural durch rationale Standards geprägt sind,

  3. 3.

    und von einem Geltungsanspruch, demzufolge die Richtigkeit der jeweils genannten Gründe deshalb akzeptiert werden kann, weil sie sich im Pro- und Kontra der Debatte als die vernünftigsten Gründe manifestiert und durchgesetzt haben.

Was also eine Ordnung ausmacht, wird hierbei nicht einfach nur (mit Macht) behauptet oder willkürlich herbeigeführt, sondern durch die möglichst rationale Sachlichkeit der besten Gründe argumentativ bewiesen. Insofern ist hier die prozedurale Festlegung der rationalen Standards zentral. Nicht einfach statuarisch die Repräsentation oder ihr graduelles Niveau entscheidet über die Legitimation der politischen Ordnung, sondern die Legitimation kommt über die Rationalität der Verfahren hin zustande.

Wie aber kann man politische Verfahren rational kennzeichnen? Eben indem man auf eine Kommunikationsform setzt, bei der weitest gehende Transparenz überhaupt die Voraussetzung für das Gelingen dieser Kommunikation darstellt. Und genau an dieser Stelle bringt Habermas die Diskurstheorie in die Argumentation: „Die Diskurstheorie macht das Gedeihen deliberativer Politik nicht von einer kollektiv handlungsfähigen Bürgerschaft abhängig, sondern von der Institutionalisierung entsprechender Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen, sowie vom Zusammenspiel der institutionalisierten Beratungen mit informell gebildeten öffentlichen Meinungen.“ (Ebd. S. 361–362).

In der Analyse von Habermas reicht demzufolge allein die Existenz und das normative Angebot der Institutionen des Staates für sich alleine nicht mehr aus, um die notwendige Akzeptanz und normative Rückkoppelung zum Bürger gewährleisten zu können. Deshalb hier die Verbindung der Diskurstheorie mit den Prinzipien der deliberativen Politik: „Das positive Recht kann seine Legitimität nicht mehr einem übergeordneten moralischen Recht, sondern nur noch einem Verfahren präsumtiv vernünftiger Meinungs- und Willensbildung entlehnen.“ (Ebd. S. 674) In gewisser Weise ist dies ein Abstand zur Lehre von Hegel, der doch von einer Setzung durch die übergeordnete Moralität des Staates ausgegangen ist. Die damit verbundene versteckte Metaphysierung des Staates wird hier ebenso abgelehnt wie die rein positivistische Auffassung, die sich in der empirischen Perspektive der Ansammlung aller Interessen und Leidenschaften zur Legitimierung von Politik ergibt. Es geht (weiterhin) schon um das beste, weil vernünftigste Argument, das alle zur Einsicht in die eigene Bedingtheit der Existenz bringt.

Doch damit sind zugleich auch eine Reihe von Problemen verbunden, die sich auch idealiter nicht einfach hinwegdiskutieren lassen. Denn der Diskurs, egal, worüber er jeweils inhaltlich in der öffentlichen Sphäre verhandelt (und entschieden) wird, ist nie ein statischer, sondern immer ein dynamischer Vorgang. D. h., die Argumente werden nicht linear statuarisch gesammelt und gewichtet, sondern sie ergeben sich oft willkürlich und ad hoc. Problematisch ist hierbei:

  1. A)

    Die Verbindlichkeit der Aussagen.

  2. B)

    Die Limitierung des Diskurses: wann, wie und warum werden Akteure in ihren Sprechakten ausgeschlossen.

  3. C)

    Die tatsächliche Anerkennung der Gründe, die vorgebracht werden; oft bekommen sie eine unterschiedliche Gewichtung, nicht wegen der Rationalität, sondern gerade wegen der darin manifestierten Vorurteile, die einem common sense oder mainstream entsprechen.

  4. D)

    Schließlich die Rationalität der Sprechakte(ure) selbst; inwieweit ist man sich bewusst, dass man rational argumentiert und worin bestehen die Kriterien der wechselseitigen Anerkennung von Vernunftgründen?

5 Ausblick auf die Geltung

Auch eingedenk der hier geschilderten Problematiken bleibt dennoch unbestritten, dass die Diskurstheorie grundsätzlich ein heuristisch wichtiges Medium für die Herstellung der Vernunftansprüche im öffentlichen Raum darstellt. Deliberative Politik, so kann man mit Habermas feststellen, lässt sich ohne einen sachlichen Diskurs (mit der Absicht, den besten Grund zu finden) gar nicht führen. Belässt man alles bei der Moralvorstellung des je individuellen Bürgers, würde dies die politische Norm destabilisieren. Und nicht nur die Normen, sondern auch die damit verbundenen politischen Institutionen. Umgekehrt reicht es auch nicht aus, jedenfalls nicht für ein demokratisches Gemeinwesen, einfach nur auf die strategische Normierung durch die Institutionen zu setzen. Gerade das Phänomen der aktuellen Pandemie des Jahres 2020 unterstreicht, wie wichtig es ist, dass die Behörden nicht einfach nur ihre Maßnahmen anordnen, sondern auch sachlich begründen. Erst durch das Wechselspiel von Argumenten im öffentlichen Diskurs findet sich die Akzeptanz dann umso besser strukturiert, je deutlicher man die Gefährdungen und Vorteile von dieser oder jener Maßnahme benennen kann. Die Corona-Pandemie zeigt allerdings auch, dass ein solcher Diskurs nicht ewig geführt werden kann. Die Entscheidung in der Politik unterliegt (wie immer) der Zeitknappheit, insofern kann man hier nicht auf das beste Argument warten, schon allein deshalb nicht, weil bei der Neuheit dieser Gefährdungslage nicht wirklich klar ist, was das Beste in der Situation denn tatsächlich wäre!

Wenn im Diskurs die Normen, das Recht und die Funktionen in Übereinstimmung gebracht werden sollen, dann scheitert dies (nicht nur bei der Pandemie) an der Komplexität der Gefahrenlage. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Diskurstheorie nur ein Mittel für die Schönwetterlagen der Demokratie sei. De facto ist sie sowohl in der Krise zu gebrauchen wie in ruhigeren Zeitlagen. Allerdings sollte man hier mehr realitätsgerechte (empirische) Sättigung erwarten dürfen. Wenn Habermas daher rückblickend die Funktion der Diskurstheorie als „Moraltheorie“ begreift, (vgl. Habermas 2020, S. 14) dann ist dies doch wieder zu normativ gedacht. Der Ort, an dem die Moralität funktional greift oder aber eben brüchig wird, ist der politische Raum, also die Öffentlichkeit in Form ihrer internen Selbst-Anerkennungsprozesse. Hierbei gibt es immer einen Überschuss, gerade, was die Frage einer Verteilungsgerechtigkeit oder eben der reinen Moralität betrifft. (Ebd. S. 15).

Hier stellt sich die Frage, wie nachhaltig die Diskurstheorie für das Verständnis von Politik tatsächlich ist? Habermas selbst hat darauf hingewiesen, dass Theorien zeitgeistbedingt sind in ihrer jeweiligen Wertschätzung oder eben Nichtbeachtung. (Vgl. Habermas 1990, S. 132) Das trifft sicherlich auch auf die Kritische Theorie zu und hier insbesondere auf Habermas selbst. Psychoanalytisch betrachtet ist die Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule selbst Bestandteil einer Eigeninterpretation der aufgeklärten Gesellschaft im System der Bundesrepublik Deutschland. (Vgl. ebd. 133) Insofern sind auch bei seiner Auslegung von Diskurstheorie immer alle beteiligt, ob sie wollen oder nicht, ob sie den Diskurs verstehen oder sich an ihm verweigern. Habermas versteht dies in dieser Hinsicht allerdings nicht normativ, sondern statuarisch, wenn man so will, funktional. Hierbei stellt jeder, der sich am Diskurs beteiligt, seine eigenen Normen, d. h. seine normativen Voraussetzungen und Auffassungen, zur Disposition. Die Idealisierungen, die damit verbunden sind, entsprechen jedoch nicht denen der reinen Wissenschaft, sondern sind normative Praktiken, (vgl. ebd. 135) die hierbei eher lose mit dem Idealtypus verbunden sind. Habermas sieht dies prozessual als never ending story. Zu Recht rückt er hierbei auch von dem Kriterium der Emanzipation ab (vgl. ebd. 137): stattdessen wird die Maxime der Verständigung als leitendes Kriterium postuliert. Auch die Moderne sieht er skeptisch, denn mit „dem Begriff der Moderne verbindet sich kein Glückversprechen mehr“ (vgl. ebd. 141). Man könnte Habermas insofern als einen skeptischen Fortschrittsanalysten einstufen. Fortschritt, sofern er stattfindet, ist nicht selbstevident zum Guten hin angelegt. Hier greift dann die Diskurstheorie als kritisches Medium des Geistes: Klassisch hegelianisch kann man sagen, dass das, was ist, zu keinem gewählten Zeitpunkt so wirklich gut ist, sondern nur durch eine rational vorgetragene Kritik zum Besseren hingewendet werden kann. Das ist dann aber nie statuarisch in dem Sinne, dass man ein Ziel erreichen könne, ab dem man sich ausruht, weil alles richtig (und gut) wäre. Deshalb ist es auch konsequent, dass Habermas im „Potential zur Selbsttransformation“ von Kulturen, Politiken und Institutionen den Vorteil für die Diskurstheorie sieht. (Ebd. 145) Sie ist demnach epistemologischer, d. h. die Freiheit in der Erkenntnis setzender Art. Die Diskurstheorie ist deshalb auch so wichtig, weil sie in der Moderne bei der Vielzahl der „geteilten kulturellen Lebensformen“ die Möglichkeit zur Verbindung im Gemeinsamen (und damit zur Herstellung von Öffentlichkeit) herstellt. (Vgl. ebd. S. 147) Damit wird Politik als Teilhabe von allen mit allen überhaupt erst möglich.

Man kann, wie Habermas, idealerweise darauf insistieren, dass die Idee der Menschenrechte unabhängig von ihrer abendländischen Genese zu reflektieren sei. (Vgl. Habermas 2020, S. 18) Das ist im besten Sinne aufklärerisch und sympathisch zugleich. Damit werden aber die Probleme der Diskurstheorie (und auch die des deliberativen Politikstils) nicht kleiner, sondern noch größer. Sie bekommen und verlangen ihre universale Perspektive. Habermas selbst hat einmal erklärt, dass er sich keineswegs als Philosoph versteht, „der die Welt aus einem Punkt erklärt“. (Habermas 1990, S. 150) Demnach müsste man allerdings dann auch die Diskurstheorie nur als ein Teilangebot von mehreren zur Herstellung des Öffentlichen betrachten.