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Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik

Rezensiert von Prof. Dr. Mark Galliker, 17.02.2023

Cover Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik ISBN 978-3-518-58790-4

Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2022. 108 Seiten. ISBN 978-3-518-58790-4. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,90 sFr.

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Thema der Publikation

Habermas befasst sich seit Beginn seines Schaffens mit den Voraussetzungen der Demokratie, zu denen er eine tatsächliche Öffentlichkeit der Meinungsbildung zählt. In der vorliegenden Publikation stellt er die Frage, ob die neuen, insb. sozialen Medien nach jener überkommenen Strukturierung durch die traditionellen Medien zu einer erneuten Umstrukturierung von Öffentlichkeit und Politik führen.

Vorstellung des Autors

Der 1929 in Düsseldorf geborene und seit den Studentenunruhen bekannte Autor habilitierte sich 1961 in Marburg und wurde 1964 als Nachfolger Horkheimers auf den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie in Frankfurt berufen.

Entstehungshintergrund

In seiner 1962 unter dem Titel „Strukturwandel und Öffentlichkeit“ publizierten Habilitationsschrift vertrat Habermas (1962/2021) die vor dem historischen Hintergrund des sich ausbreitenden Warentausches entwickelte These, dass nur so lange von wahrer Demokratie die Rede sein könne, wie das Gebot einer politisch fungierenden Öffentlichkeit ernst genommen werde. 

Im Vorwort zur Neuauflage 1990 dieses Werkes wies der Autor darauf hin, dass unter Bedingungen einer Klassengesellschaft die bürgerliche Öffentlichkeit und Demokratie „von Anbeginn in Widerspruch zu wesentlichen Prämissen ihres Selbstverständnisses“ geriet (ebd., S. 18).

So wie schon im alten Buch und dessen Neuauflage wird indes auch im neuen Buch auf eine Widerspruchsanalyse verzichtet. Der Autor will lediglich das nach wie vor aktuelle Thema des Niedergangs des öffentlichen politischen Lebens unter besonderer Berücksichtigung der neuen Möglichkeiten des Meinungsaustausches im Netz einem breiteren Publikum zugänglich machen. Hinzu kommen ein Interview sowie die Bearbeitung eines Vorwortes zu einem Interviewband mit dem gleichen Thema (vgl. Prattico, 2022). 

Aufbau

Die 2022 publizierte neue Schrift zum Thema Öffentlichkeit besteht aus folgenden drei Teilen:

Teil 1: Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit (S. 9-67).

Teil 2: Deliberative Demokratie. Ein Interview (S. 69-87).

Teil 3: Was heißt „deliberative Demokratie“? (S. 89-109).

Inhalte

Im Teil 1 stellt sich Habermas die Frage, ob die neuen Medien das bisher in der Öffentlichkeit vorherrschende Kommunikationsmuster überhaupt verändern. In den sozialen Medien könnten zwar sämtliche Nutzer:innen, die sich als „prinzipiell gleiche und selbst verantwortliche Teilnehmer“ begegnen, spontan die Rolle von Autor:innen ergreifen; doch einerseits drohe dadurch dem professionellen Journalismus der allmähliche Entzug seiner Basis und andererseits würde sich bei den Nutzer:innen der jeweiligen Plattformen nur eine um sich selbst kreisende Kommunikation durchsetzen, welche die Wahrnehmung von politischerÖffentlichkeitals solcher deformiert“ (vgl. S. 12; Hervorhebung von J.H.). Der Autor diagnostiziert dogmatische Abschottungen in eine fragmentierte Öffentlichkeit. Die Defizite der Kommunikation werden auf die Monopolbildung der neuen Medien zurückgeführt, die – i.U. zu Unternehmen der traditionellen Medien – weltweit wirksam sind und der exzessiven Kapitalverwertung dienen. „Ihre Gewinne verdanken sie der Verwertung von Daten, die sie zu Werbezwecken oder anderweitig als Waren veräußern. [..]: es sind die persönlichen Daten, die ihre Kunden im Netz [..] hinterlassen.“ (S. 54).

Im Teil 2 beantwortet der Autor verschiedene Interviewfragen. Unter anderem kommen das Problem der Konsensbildung aller Bürger:innen sowie jenes des Verhältnisses zwischen dem Verständigungsprozess und der schlußendlichen Entscheidungsfindung zur Sprache. In real existierenden repräsentativen Demokratien würden viele Wähler:innen nicht mehr wählen gehen. „Demokratische Wahlen funktionieren nicht mehr, wenn sich beispielsweise ein vitiöser Zirkel zwischen den unterprivilegierten Nichtwählern und der Nichtberücksichtigung ihrer Interessen einspielt oder wenn die Infrastrukturen der öffentlichen Kommunikation zerfallen, sodass dumpfe Ressentiments statt wohlinformierter öffentlicher Meinungen das Feld beherrschen“ (S. 71f).

Im Teil 3 beschäftigt sich der Autor u.a. mit der repräsentativen Demokratie bzw. dem ausschließlichen Parlamentarismus (zu behandeln gilt es hierbei auch den Lobbyismus). Die Willensbildung der meisten Bürger:innen werde „nur indirekt“ ausgeübt (vgl. S. 89). Ein sich selbst bestimmender Diskurs freier und gleicher Rechtsgenoss:innen basiere jedoch auf der Idee, nur solchen Gesetzen zu genügen, die sie sich selbst gegeben haben und geben – eine anspruchsvolle Idee, die nicht allein durch krude Mehrheitsentscheidungen eingelöst werden könne. „Stattdessen muss die demokratische Wahl als der letzte Schritt eines probemlösenden Prozesses, das heißt als das Ergebnis einer gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung von Bürgern, begriffen werden [..]“ (S. 99; Hervorhebungen von J.H.).

Diskussion

Habermas (1962/2021) wies bereits in „Strukturwandel und Öffentlichkeit“ darauf hin, dass das liberale Modell der Kleinwarenwirtschaft entsprochen und nur horizontale Tauschbeziehungen individueller Warenbesitzer:innen vorgesehen habe. „Bei freiem Wettbewerb und unabhängigen Preisen sollte dann keiner so viel Macht erwerben können, daß sie ihm erlaubt hätten, über einen anderen zu verfügen. Entgegen dieser Erwartungen konzentriert sich aber nun, bei unvollständigem Wettbewerb und abhängigen Preisen, gesellschaftliche Macht in privater Hand.“ (ebd., S. 228; Hervorhebungen von M.G.).

Habermas hat zwar in seiner ursprünglichen Arbeit den Warentausch berücksichtigt, aber dies ohne dialektische Auswertung der ihm vorliegenden historischen Materialien, so dass deren reale Widersprüchlichkeit verloren ging und auch im neuen Buch ihre Weiterentwicklung bis in die Gegenwart hinein nicht wahrgenommen werden konnte. Der Autor verweist auf die Monopolkapital im neuen Buch nur im Bereich der neuen Medien, nicht aber auf die Monopolisierung als im kapitalistischen System allgemeine Tendenz (und damit auch im traditionellen Zeitungswesen). Bei den ersteren beklagt er generell die mangelnde Qualität der Beiträge (u.a. auch Fake News), jedoch nicht bei den traditionellen Leitmedien, die aufgrund der westlichen (US-)Nachrichtenagenturen, der eigenen Monopolbildung sowie der Verschränkung mit andern Monpolen inzwischen v.a. aufgrund von stark selektiver Wahrnehmung und Projektion zu einer recht einheitlichen und einseitigen Meinungsbildung beitragen (v.a. im außenpolitischen Bereich) und damit die liberale Bildung von Meinungen, den Pluralismus und die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Meinungen immer mehr verabschiedet. 

Weder in der alten noch in der neuen Schrift werden konkrete Beispiele demokratischer Prozesse (direkte Demokratie, außerparlamentarische Bewegungen) berücksichtigt. So wird auf die direkte Demokratie etwa der Schweiz (v.a. obligatorische und fakultative Referenden; Volksinitiativen) nicht hingewiesen, obwohl mit eidgenössischen Abstimmungen gerade die für den Autor so relevante Prozesshaftigkeit von Öffentlichkeit und Demokratie im Vordergrund steht. Allerdings wurden bisher die Begehren des Souveräns aufgrund der Formierung von Monopolen im materiellen und ideellen Bereich und deren Möglichkeiten von Propaganda eher selten erfüllt. Beispielsweise wurden seit 1891 von 226 Initiativen nur 24 angenommen (BK, 202, S. 22), doch genau dieses Phänomen wäre eben bei der vorliegenden Thematisierung fehlender Öffentlichkeit zu diskutieren.

Fazit

Habermas kommt das große Verdienst zu, auf die Relevanz der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung für die Demokratie hingewiesen zu haben. Wenn nicht vermehrt auf die Prozesshaftigkeit derselben geachtet wird, besteht die Gefahr, dass der sog. demokratische Rechtsstaat weiterhin erodiert. Zu wenig beachtet wird einerseits die Monopolierung im Warentausch sowie auch bei der Meinungsbildung und andererseits das kollektive Widerstandsverhalten in der antagonistischen Gesellschaft.

Literaturangaben

Bundeskanzlei BK der Schweizerischen Eidgenossenschaft (2022). Der Bund erkärt. Bern.

Habermas, J. (1962/2021). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt a.M.

Prattico, E. (Ed.).(2022). Habermas and the Crisis of Democracy. Interviews with Leading Thinkers. London.

Rezension von
Prof. Dr. Mark Galliker
Institut für Psychologie der Universität Bern
Eidg. anerkannter Psychotherapeut pca.acp/FSP
Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für den Personzentrierten Ansatz
Weiterbildung, Psychotherapie, Beratung (pca.acp).
Redaktion der Internationalen Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung (PERSON).
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Zitiervorschlag
Mark Galliker. Rezension vom 17.02.2023 zu: Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2022. ISBN 978-3-518-58790-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30385.php, Datum des Zugriffs 06.05.2024.


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