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Philosophie

Die umfangreiche und nach mehr als ein Jahrzehnt dauernden Vorbereitungen im Jahre 1981 publizierte Arbeit gilt als philosophisches Hauptwerk des Autors. Nachdem Habermas die Marx'sche Gesellschaftsanalyse in Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘ (1968) kritisiert und den Objektivitätsanspruch der Wissenschaften in Erkenntnis und Interesse (1968) destruiert hatte, galt es, eine Analyse der komplexen spätkapitalistischen Gesellschaft vorzunehmen und vor allem die normativen Grundlagen dieser Gesellschaftsanalyse auszuweisen. Diese Arbeit wurde von Habermas durch verschiedene Einzelschriften vorbereitet, die ab 1970 publiziert wurden. Die bekanntesten und vor dem Erscheinen der Theorie des kommunikativen Handelns am meisten diskutierten waren der gemeinsam mit Niklas Luhmann verfasste Band Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie (1971) und die beiden Abhandlungen „Wahrheitstheorien“ (1972) und „Was heißt Universalpragmatik?“ (1976). Diese beiden Aufsätze finden sich neben anderen in den Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns (1984), einer für das Verständnis der Theorie des kommunikativen Handelns wertvollen Sammlung. Vor allem an dem ersten darin enthaltenen Beitrag, „Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie“ (1970/71), lässt sich die Entwicklung des Habermas'schen Denkens bis zur Theorie des kommunikativen Handelns klar ablesen.

Die Absicht der Theorie des kommunikativen Handelns wird im Vorwort so beschrieben: „Die Theorie des kommunikativen Handelns ist keine Metatheorie, sondern Anfang einer Gesellschaftstheorie, die sich bemüht, ihre kritischen Maßstäbe auszuweisen. [...] Die Formierung von Grundbegriffen und die Beantwortung substantieller Fragen bilden, gut hegelisch, einen unauflöslichen Zusammenhang.“ So gehen Gesellschaftsanalyse und grundlegende erkenntnistheoretische Äußerungen in diesem Buch ineinander über. In kritischer Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von relevanten Gesellschaftstheoretikern wie – um nur einige zu nennen – M. Weber, G. Lukács, T. W. Adorno, K. Marx, G. H. Mead, E. Durkheim, T. Parsons und N. Luhmann entwickelt Habermas seine eigene Gesellschaftstheorie. Vor allem will er den Missstand beheben, dass die normativen Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie völlig ungeklärt waren. Er will rekonstruierend zeigen, dass die Fundamentalnormen einer kritischen Gesellschaftstheorie in den Strukturen sprachlicher Kommunikation enthalten sind.

In Zur Logik der Sozialwissenschaften (1970) schrieb er: „Noch ist die Sprache nicht als Gespinst durchschaut, an dessen Fäden die Subjekte hängen und an ihnen zu Subjekten sich erst bilden.“ In einer der erwähnten Vorarbeiten zur Theorie des kommunikativen Handelns, in dem Aufsatz „Was heißt Universalpragmatik?“, hatte sich Habermas seinem Vorhaben bereits angenähert. Darin heißt es, dass jeder Satz, den jemand spricht, in den Realitätsbezug der Lebenswelt eingebettet sei. Sprecher und Hörer bezögen sich stets „aus dem Horizont ihrer vorinterpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt“ (Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1). Darum teilt Habermas alle möglichen Sprechhandlungen in drei Klassen ein: in konstative Sprechhandlungen, mit denen sich der Sprecher auf etwas in der objektiven Welt bezieht, einen Sachverhalt wiedergibt; in regulative Sprechhandlungen, mit denen er sich auf etwas in der sozialen Welt bezieht, eine interpersonale Beziehung herstellen, z. B. befehlen, auffordern, warnen, Ratschläge erteilen will; schließlich in repräsentative Sprechhandlungen, mit denen sich der Sprecher auf etwas in seiner subjektiven Welt bezieht – mit den Repräsentativa offenbart sich der Sprecher einem anderen, oder er verhüllt sich, verschweigt etwas oder verleugnet sich. In diesen in der ersten „Zwischenbetrachtung“ in der Theorie des kommunikativen Handelns dargestellten drei Klassen von Sprechhandlungen (in dem Aufsatz „Was heißt Universalpragmatik?“ waren es vier) sind – so Habermas – Geltungsansprüche enthalten, die in jeder Rede mitthematisiert werden: In den Konstativa ist ein Wahrheitsanspruch enthalten, in den Regulativa der Richtigkeitsanspruch und in den Repräsentativa der Wahrhaftigkeitsanspruch. Die drei Geltungsansprüche Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit „konvergieren in einem einzigen: dem der Vernünftigkeit“ (Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns).

Dieser Vernunftbegriff ist für die Habermas'sche Gesellschaftstheorie die normative Basis. Sie sei nicht konstruiert, sondern lasse sich durch Rekonstruktion aus den Strukturen der Sprache heben. Mittels der Sprache bezögen sich alle Gesellschaftsmitglieder auf die für alle selbstverständliche und nicht mehr eigens reflektierte Lebenswelt. Sie also sei letztlich die normative Basis. In ihr konstituiere sich Vernunft. Vernunft sei somit nichts Überempirisches oder Metaphysisches. Die Lebenswelt, schreibt Habermas in den Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, bestehe „aus individuellen Fertigkeiten, dem intuitiven Wissen, wie man in einer Situation fertig wird, und aus sozial eingeübten Praktiken, dem intuitiven Wissen, ‚worauf‘ man sich in einer Situation verlassen kann, nicht weniger als aus den trivialerweise gewußten Hintergrundüberzeugungen“.

In seinem Buch Nachmetaphysisches Denken (1988) erläutert er den Begriff Lebenswelt, der auf den Philosophen Edmund Husserl zurückgeht, bei Habermas aber eine spezifische Ausprägung erfährt, so: „Uns allen ist die Lebenswelt als eine nichtgegenständliche, vortheoretische Ganzheit auf unproblematische Weise intuitiv immer schon gegenwärtig – als Sphäre der täglichen Selbstverständlichkeiten, des Common sense.“ Um sich der normativen Grundlagen des individuellen, sozialen, alltäglichen und wissenschaftlichen Lebens bewusst zu werden, bedürfe die Lebenswelt der kritischen Reflexion. Nur so seien emanzipative Fortentwicklungen möglich. Die Aufgabe der kritischen Reflexion falle der Philosophie zu. Eine solche Reflexion entzünde sich an den „Nahtstellen von System und Lebenswelt“ (Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2). Sie richte sich „gegen die gewinnabhängige Instrumentalisierung der Berufsarbeit, gegen die marktabhängige Mobilisierung der Arbeitskraft, gegen die Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule. Sie zielt auch gegen die Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Zeiten, gegen die konsumistische Umdefinition von privaten Lebensbereichen und persönlichen Lebensstilen. Weiterhin soll das Verhältnis der Klienten zu den öffentlichen Dienstleistungsbetrieben aufgebrochen und partizipatorisch, nach dem Vorbild von Selbsthilfeorganisationen, umfunktioniert werden.“ (Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2) Ziel dieses Protests, schreibt Habermas weiter in der „Schlußbetrachtung“ der Theorie des kommunikativen Handelns, müsse es sein, eine Antwort auf folgende zwei Fragen geben zu können: „Ob die objektiv in ihre Momente auseinandergetretene Vernunft noch eine Einheit wahren kann, und wie die Expertenkulturen mit der Alltagspraxis vermittelt werden können.“ (Bd. 2)

Zu der Zeit, als Habermas die Theorie des kommunikativen Handelns schrieb, hatte er sich nicht mehr – wie noch zur Zeit der Niederschrift von Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘ und Erkenntnis und Interesse – mit verschiedenen marxistischen Strömungen auseinanderzusetzen. Er musste sich vielmehr in der Theorie des kommunikativen Handelns und in einigen nachfolgenden Publikationen (z. B. Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985, und Nachmetaphysisches Denken, 1988) mit einer vernichtenden Vernunftkritik auseinandersetzen, die durch Heideggers und Nietzsches Wissenschaftskritik genährt wurde und vor allem in der französischen Philosophie Wurzeln schlug. Ihre Ausläufer erreichten schon Mitte der 1970er Jahre die Bundesrepublik. Habermas sah zwar auch, dass das Denken und Handeln der Wissenschaftler und der Menschen im Alltag vom instrumentell-technischen Vernunftmoment beherrscht wurde. Er setzte sich aber von Max Weber und von seinem Lehrer T. W. Adorno ab, für die dieser abendländische Rationalisierungsprozess die Basis düsterer Zukunftsprognosen sei. Habermas dagegen diagnostiziert in den sprachlichen Strukturen immer noch das praktische Vernunftmoment, wenn auch rudimentär und entwicklungsbedürftig. Seine sprachanalytische Gesellschaftsanalyse will ja zeigen, dass die drei Vernunftmomente, so wie Kant sie in seinen drei großen Kritiken analysiert hatte, immer noch vorhanden sind, wenn auch nicht mehr mit dem Primat des praktischen Vernunftmoments. Diesen Primat gelte es wiederherzustellen.