Gustav Stresemann: Der Mann, der die Goldenen Zwanziger möglich machte

Der Mann, der die Goldenen Zwanziger möglich machte

Es ist an der Zeit, einen Berliner Politiker zu würdigen, der mit heroischem Einsatz die erste deutsche Demokratie rettete: Vor 100 Jahren wurde Gustav Stresemann Reichskanzler.

Gustav Stresemann im Jahr 1929
Gustav Stresemann im Jahr 1929piemag/imago

Angeblich leben wir im postheroischen Zeitalter. Helden seien etwas Archaisches aus düsteren und gewaltgeprägten Vorzeiten. Auch passten Demokratie und Heldentum nicht zusammen. Gehe es doch in der Demokratie vor allem um immer wieder zu schließende Kompromisse und Ausgleich, geprägt von Diskurs und komplizierten Verfahren, die wenig Raum – und Bedarf – für Heldentum ließen. Der Philosoph Dieter Thomä hat aber 2019, also noch vor dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, darauf hingewiesen, dass dies angesichts der Herausforderungen der Demokratien durch autoritäre Regime nicht (mehr) so stehen gelassen werden könne: „Warum Demokratien Helden brauchen“ lautete der Titel seines viel beachteten Buches. Und zu einer lebendigen und wehrhaften Demokratie gehört auch die Erinnerung an jene, die sie in der Vergangenheit aufopferungsvoll gegen ihre Feinde verteidigt haben.

Es ist deshalb an der Zeit, einen Berliner Politiker zu würdigen, ohne dessen heroischen Einsatz die erste deutsche Demokratie schon nach fünf Jahren gescheitert wäre. Vor 100 Jahren, am 13. August 1923, wurde Gustav Stresemann Reichskanzler und führte die junge Weimarer Republik durch ihre schwersten Krisen. Stresemann ist selbst historisch Interessierten vor allem als Außenminister in Erinnerung. Dieses Amt übte er von 1923 – zunächst im „Nebenberuf“ als Reichskanzler – bis zu seinem frühen Tod 1929 aus. Er steht für das Abkommen von Locarno, eine europäische Sicherheitsarchitektur, die Aussöhnung mit Frankreich und die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund 1926. Als bis heute einziger gebürtiger Berliner erhielt er 1926 den Friedensnobelpreis – zusammen mit dem französischen Außenminister Briand.

Wie einem Gemälde von George Grosz entsprungen

Aber Gustav Stresemann war auch Reichskanzler. Zwar nur für 100 Tage, aber die hatten es in sich. Was er in dieser kurzen Zeit an Herausforderungen zu bewältigen hatte, erscheint heute, selbst angesichts multipler Krisen, unfassbar. Stresemann hätte es verdient, als Held der Demokratie mehr Beachtung zu finden. Vielleicht wäre er auch optisch heute präsenter, würde Kaffeetassen und Poster in Andy-Warhol-Manier zieren, wenn er anders ausgesehen hätte. Mit seinem runden, etwas blass-teigigen Gesicht, den hervorquellenden Augen – Stresemann litt unter anderem an der Basedowschen Krankheit – und dem Schmiss auf der Wange sah er aus, als wäre er einem Bild von George Grosz entsprungen: wie ein typischer Vertreter der reaktionären Elite – Militärs, Kapitalisten, Politiker –, die der Maler mit seinen Bildern demaskieren und verhöhnen wollte. Aber Gustav Stresemann war ganz anders und sein viel zu früher Tod eine Katastrophe für die Demokratie von Weimar.

Diese hatte von Anfang an auf schwankendem Grund gestanden. Ihre Feinde von rechts wollten sie abschaffen und die „Novemberverbrecher“ beseitigen. So wurden jene Politiker verunglimpft, die im November 1918 den Scherbenhaufen, den die Monarchie hinterlassen hatte, zusammenkehrten und die parlamentarische Republik gründeten. Auch von Links drohte Gefahr – die Kommunisten lehnten das neue Staatswesen ebenfalls ab, orientierten sich an der Sowjetunion und wiegelten die Arbeiterschaft auf. Die Wirtschaft stand im Sommer 1923 kurz vor dem völligen Zusammenbruch. Ungeheure Reparationsforderungen der Sieger lasteten auf ihr. Um diese durchzusetzen, hatte Frankreich im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzt und als Pfand genommen – damals das industrielle Herz Deutschlands.

Stresemann während einer Rede zum deutschen Betritt zum Völkerbund 1926
Stresemann während einer Rede zum deutschen Betritt zum Völkerbund 1926piemags/imago

Die Reichsregierung reagierte mit einer Politik des passiven Widerstands, die sich allerdings als Fass ohne Boden erwies. So wurde die Fortzahlung der Löhne von Arbeitern, deren Betriebe stillgelegt worden waren, übernommen, ebenso die der Gehälter von aus den besetzten Gebieten ausgewiesenen Beamten und Angestellten. Dafür hatte die Reichsregierung die Notenpresse angeworfen und eine dramatische Entwertung des Geldes in Kauf genommen. Als Stresemann Kanzler wurde, kostete ein US-Dollar 3,7 Millionen Reichsmark. Ende September waren es schon 160 Millionen. Ein Brötchen kostete eine Million, eine Straßenbahnfahrt 10 Millionen. Viele Berliner sahen sich gezwungen, aus Kostengründen aufs Fahrrad umzusteigen: „Berlin ist jetzt die Stadt der Fahrräder geworden“, schrieb das Berliner Tagblatt.

Breite Gesellschaftsschichten verarmten, verloren all ihre Ersparnisse – und viele auch das Vertrauen in Politik und Demokratie. In dieser schier aussichtslosen Lage übernahm Stresemann das Amt des Reichskanzlers – ein Himmelfahrtskommando, oder, wie er seiner Frau schrieb, eigentlich „politischer Selbstmord“. Ja, mehr noch: Wer unter diesen Umständen die höchste politische Verantwortung übernahm, musste mit einem gewaltsamen Tod rechnen. Die Minister Erzberger und Rathenau waren 1921 beziehungsweise 1922 ermordet worden, um nur die prominentesten Opfer des politischen Terrors zu nennen.

Sohn eines Schankwirts aus der Köpenicker Straße

Gustav Stresemann wurde am 10. Mai 1878 in Berlin geboren. Seine Eltern entstammten dem Kleinbürgertum, aber die Familie hatte es mit Bierhandel und eigener Schankwirtschaft an der Köpenicker Straße zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Dieser ermöglichte es dem jungen Gustav zu studieren. Stresemann machte schnell Karriere in Wirtschaftsverbänden, wurde mit 28 Jahren der jüngste Reichstagsabgeordnete seiner Zeit. Einfach hatte er es trotzdem nicht. Als eines von acht Kindern war er weitgehend sich selbst überlassen worden. Zwei seiner Brüder seien als Alkoholiker gestorben, bemerkte er einmal. Für einen sensiblen Menschen wie ihn kein leichtes Umfeld. Er selbst war zudem Zeit seines Lebens von schwacher Konstitution und krankheitsanfällig.

Stresemann war lange überzeugter Monarchist. Während des Weltkriegs gehörte er zu den Scharfmachern, die ausufernde Kriegsziele propagierten. Das umfasste die Forderung, das französische Calais müsse besetzt und eine Art „deutsches Gibraltar“ werden. Dass wir über solche Vorstellungen heute nur noch den Kopf schütteln, hat wiederum viel mit Stresemann zu tun, der nach dem Krieg zu einem Wegbereiter der europäischen Einigung und der deutsch-französischen Aussöhnung wurde.

Stresemann als Vorsitzender der Deutschen Volkspartei um 1920
Stresemann als Vorsitzender der Deutschen Volkspartei um 1920Cola Images/imago

Aber dazu musste er selbst sich erst entwickeln und nationalistisch-imperialistisches Denken überwinden. Im Zusammenhang mit Stresemann fällt häufiger das Wort „lernbereit“. Die Fähigkeit dazuzulernen, zeigt sich auch in seinem Verhältnis zur Demokratie. Stresemann gehört zu jenen Politikern, die später als „Vernunftrepublikaner“ bezeichnet wurden. Politiker also, die aus der Verfassungswelt der Monarchie kamen, die demokratische Republik von Weimar aber zu akzeptieren lernten. Vielleicht war Stresemann sogar mehr als nur ein Republikaner aus Vernunft. Denn für ihn waren die Niederlage im Krieg und der totale Zusammenbruch des kaiserlichen Regimes Belege dafür, dass die alten Eliten gründlich abgewirtschaftet hatten und eine neue Zeit anbrechen musste.

Auch war er schon lange ein Mann des Kompromisses und des sozialen Ausgleichs gewesen. Als Industrievertreter forderte er früh, dass Unternehmer nicht mehr einfach „Herr im Hause“ ihrer Betriebe sein konnten, sondern die Interessen der Arbeiterschaft mit zu berücksichtigen hatten. Es passt, dass er 1923 unter Einbindung der Sozialdemokratie Reichskanzler der ersten Großen Koalition der Weimarer Republik wurde. Für seine eigene Partei, die liberalkonservative Deutsche Volkspartei (DVP), war das durchaus eine Herausforderung, wenn nicht gar eine Zumutung.

Als Stresemann Regierungschef wurde, stand Deutschland am Abgrund. Nicht nur, dass die Wirtschaft darniederlag und die Inflation in aberwitzige Höhen schnellte. Die Gefahr eines Bürgerkrieges war mit Händen zu greifen, das Reich drohte während seiner kurzen Amtszeit förmlich zu zerbröseln: Das Ruhrgebiet war besetzt, im Rheinland blühten separatistische Bewegungen, in Hamburg kam es zu einem bewaffneten kommunistischen Aufstand. Vergleichbares schien in Sachsen und Thüringen unmittelbar bevorzustehen. Dort wurden die Kommunisten Regierungspartner der SPD – mit der Stresemann in Berlin gemeinsam regierte. Schließlich im November der Hitler-Putsch in München, der nach den Vorstellungen des späteren Diktators in einen „Marsch auf Berlin“ hätte münden sollen. Dies alles musste irgendwie bewältigt und abgewehrt werden mit einer Reichswehr, bei der man nie sicher sein konnte, ob sie nicht im nächsten Moment putschen und eine Militärdiktatur errichten würde.

Hätte er bei voller Gesundheit Hitler verhindert?

Als Stresemann als Reichskanzler nach nur gut 100 Tagen zurücktreten musste, weil er keine parlamentarische Mehrheit mehr hatte, waren seine politischen Erfolge für die Zeitgenossen noch nicht wirklich sichtbar. Aber heute erscheinen sein Krisenmanagement und seine Weichenstellungen für die Zukunft als kaum vorstellbare politische Meisterleistung. Nicht nur, dass die junge Demokratie alle oben genannten Krisen überstanden hatte. Stresemann hatte den Mut aufgebracht, den zwar populären, aber auch ruinösen passiven Widerstand gegen die französische Besatzung im Ruhrgebiet zu beenden. Spätestens jetzt wurde er zum Hassobjekt aller Nationalisten, die darin Verrat und eine zweite Niederlage gegen Frankreich sahen.

Stresemanns Regierung setzte auch eine Währungsreform aufs Gleis und holte die Vereinigten Staaten als aktiven Player in die Verhandlungen über Deutschlands Kriegsschuldleistungen an Bord. All dies trug ab 1924 zu einer schnellen Entspannung der Lage und zur Stabilisierung der Republik bei – wirtschaftlich ebenso wie innen- und außenpolitisch. Stresemann rettete 1923 die erste deutsche Demokratie und leitete die „Goldenen Zwanziger“ ein. Sie endeten mit dem Börsencrash an der Wall-Street – und mit Stresemanns Tod 1929.

Stresemann wird nach der Unterzeichnung des Pakts von Locarno am 16. Oktober 1925 von Journalisten umringt.
Stresemann wird nach der Unterzeichnung des Pakts von Locarno am 16. Oktober 1925 von Journalisten umringt.Photo12/imago

Als er am 3. Oktober 1929 mit nur 51 Jahren völlig erschöpft und ausgezehrt nach einem Schlaganfall starb, ahnten viele Zeitgenossen, dass sein Tod für ganz Europa ein Drama werden würde. Sebastian Haffner etwa sah darin „den Anfang vom Ende“. Joseph Goebbels indes freute sich in seinem Tagebuch: „Ein Stein auf dem Weg zur deutschen Freiheit weggeräumt.“ Tatsächlich haben sich Historiker immer wieder die Frage gestellt, ob Stresemann bei voller Gesundheit den Aufstieg Hitlers zum Reichskanzler hätte verhindern können. Sein Sohn Wolfgang, langjähriger Intendant der Berliner Philharmoniker und Autor einer Biographie seines Vaters, war davon überzeugt. Allerdings scheint hier eine vorsichtigere Einschätzung angebracht. Ein gesunder Stresemann, der ein erfahrener politischer Stratege und auch ein brillanter, mitreißender Redner war, hätte Hitlers Aufstieg aber mindestens erschwert und vielleicht verzögert. Stresemann war nicht nur „ein Stein“, sondern ein Fels der Demokratie. Alles andere bleibt Spekulation.

Aber Helden regen zum Träumen an. Stresemann selbst soll überlegt haben, sich für eine Weile ganz aus der Politik zurückzuziehen, um sich im Ausland gründlich auszukurieren und danach bei der Wahl zum Reichspräsidenten 1932 als Kandidat der demokratischen Parteien anzutreten. Stresemann anstelle von Hindenburg – das hätte bei der „Machtergreifung“ Hitlers im Januar 1933 den entscheidenden Unterschied machen können.

Dr. Ralf Gebel ist Historiker und lebt in Berlin.


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