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Geschichte Erster Bundespräsident Heuss

Als Bürgerlichkeit in Deutschland noch mehrheitsfähig war

Am 12. September 1949 wurde der Liberale Theodor Heuss zum ersten Staatsoberhaupt der Bundesrepublik gewählt. Er haderte mit dem offiziellen Protokoll und wollte dem „Bürger die Würde wieder zurückzugewinnen“.
Leitender Redakteur Geschichte
Sven Felix Kellerhoff zu 70 Jahren Grundgesetz

Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft. Es wurde zur erfolgreichsten Verfassung in der deutschen Geschichte. Ein Videokommentar von Sven Felix Kellerhoff, leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der WELT.

Quelle: WELT/Sven Felix Kellerhoff/Dominic Basselli

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Die Richtungsentscheidung ging zugunsten der Bürgerlichkeit aus. Am 12. September 1949 um 19:11 Uhr verkündete Bundestagspräsident Erich Köhler das Ergebnis des zweiten Wahlgangs: „Auf die einzelnen Kandidaten sind an Stimmen entfallen – auf Dr. Heuss 416, Dr. Schumacher 312, Dr. Amelunxen 30, Dr. Schlange-Schöningen zwei Stimmen. Enthaltungen: 37, ungültig: drei Stimmen.

416 der 804 Mitglieder der ersten Bundesversammlung hatten in geheimer Wahl für Heuss votiert, der bis dahin Vorsitzender der FDP gewesen war. Das war die absolute Mehrheit. Köhler fuhr fort: „Herr Dr. Heuss, ich habe die Frage an Sie zu richten, ob Sie bereit sind, die danach auf Sie entfallene Wahl als Bundespräsident anzunehmen?“ Theodor Heuss (1884-1963) antwortete: „Ja, ich nehme die Wahl an.“ Damit hatte die gerade erst wenige Monate alte Bundesrepublik ihr erstes Staatsoberhaupt.

Nach seiner Wahl am 12. September 1949 wurde Theodor Heuss im Bundestag vereidigt
Nach seiner Wahl am 12. September 1949 wurde Theodor Heuss im Bundestag vereidigt
Quelle: picture-alliance / akg-images

Für Westdeutschland erwies sich diese Entscheidung als Glücksfall. Genau zehn Jahre lang, bis zum 12. September 1959, blieb er im Amt und gab in dieser Zeit dem kriegszerstörten deutschen Teilstaat den liberal-demokratischen Kurs vor, auch wenn er sich aus der Tagespolitik weitestgehend fernhielt.

Dabei war seine eigene Wahl von der Tagespolitik bestimmt worden. Konrad Adenauer, der machtbewusste CDU-Chef von Nordrhein-Westfalen, hatte mit einigen Parteifreunden am 21. August 1949 das Paket der ersten christdemokratisch-liberalen Koalition geschnürt. Die wesentlichen Personalentscheidungen: Heuss sollte Bundespräsident, Adenauer Bundeskanzler werden.

Doch es gab in der westdeutschen Politik viele Befürworter einer „großen“ Koalition aus CDU/CSU und SPD. Sie meinten, die Probleme des Landes sollten von einer breit aufgestellten Regierung angegangen werden. Adenauer sah es anders; er wollte lieber eine „kleine“ Koalition mit der FDP und der Deutschen Partei, die die Westbindung und die soziale Marktwirtschaft vorantreiben könne.

T. Heuss und K. Adenauer 1950 Heuss, Theodor Politiker u. Schriftsteller; 1949-59 Bundespraes. der Bundesrep. Dtschld.; 1884-1963. - Theodor Heuss (rechts) mit Bundeskanz- ler Konrad Adenauer bei einem Treffen in Buergenstock in der Schweiz. - Foto, 21. Juli 1950. |
Architekten der christdemokratisch-liberalen Koalition: Theodor Heuss und Konrad Adenauer
Quelle: picture-alliance / akg-images

Auch vier Wochen nach der ersten Bundestagswahl am 12. September 1949 gab es immer noch Anhänger der „großen“ Koalition, die Adenauers Absprachen platzen lassen wollten. Ihr Kandidat für das oberste Staatsamt war Hans Schlange-Schöningen, ebenfalls CDU, aber kein Freund Adenauers. Doch im ersten Wahlgang erhielt er nur sechs Stimmen und im zweiten nur noch zwei.

Das lag vor allem an der von vorneherein aussichtslosen Kampfkandidatur des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher gegen den Liberalen Heuss. Mit seinem Antreten verhinderte der äußerst streitbare Schumacher eine Weichenstellung gegen Adenauer und für eine „große“ Koalition, denn natürlich stimmten die 279 SPD-Mitglieder der Bundesversammlung für ihren Vorsitzenden.

Entscheidend wurden damit Kleinparteien wie das katholische Zentrum, die ländliche CSU-Alternative Bayernpartei und die konservativ-populistische Wiederaufbau-Vereinigung. Die 40 Abgeordneten der KPD würden die Wahl wohl boykottieren, lehnten sie doch den Bürgerlichen Heuss genauso ab wie den erklärten Antikommunisten Schumacher.

Menschen Personen Politiker MBÖ0201 Prof. Dr. Theodor Heuss erster Bundespräsident 1949-1959 sitzend mit Zigarre in Ledersessel historisch 50er Jahre Schwarzweißaufnahme schwarzweiß s / w schwarz-weiß Bekannte Personen Heuss Theodor geboren 31.01.1884 gestorben 12.12.1963 Freie Demokratische Partei FDP Deutschland BRD Rauchen Portrait people politicians Heuss first federal president of Federal Republic of Germany historic Fifties 50ties black & white b / w 2619/224 | Verwendung weltweit
Theodor Heuss (1884-1963) war von 1949 bis 1959 erster Bundespräsident
Quelle: picture-alliance / Helga Lade Fo

Im ersten Wahlgang enthielten sich noch 76 Mitglieder der Bundesversammlung ihrer Stimme: Damit war Heuss von der absoluten Mehrheit noch weit entfernt. Im zweiten Wahlgang änderte sich das: Nur noch 37 Abgeordnete enthielten sich. Das Zentrum versammelte auf seinen Kandidaten Rudolf Amelunxen 30 Stimmen, doch nun stand die Mehrheit für Heuss.

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In seiner Antrittsrede sagte der neu gewählte Bundespräsident: „In den Zeitungen habe ich in den letzten Tagen allerhand seltsame Dinge von mir lesen können, nette Sachen – aber auch, dass mir die ,Ellbogenkraft’ fehle, die zum Politiker gehöre.“ Nach einer Kunstpause fuhr er fort: „Ich selber habe das Gefühl – von der Ellbogenpolitik haben wir reichlich genug gehabt.“

Alle im Plenum des gerade erst eingeweihten Bundeshauses am Rheinufer im Süden Bonns wussten, was Heuss meinte, denn jeder Abgeordnete des Bundestages und die zusätzlichen von den damals elf Landtagen der Bundesrepublik entsandten Mitglieder hatten die nationalsozialistische Diktatur erlebt. Sie kannten und verabscheuten die meist aufplusternde, aufputschende Selbstdarstellung, die Aggressivität von Hitler und Goebbels an der Spitze bis hinunter zu vielen Blockwarten (offiziell „Blockleitern“) der NSDAP.

Theodor Heuss 1949 auf der Rathaustreppe in Bonn bei seiner denkwürdigen Rede nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten vor 25.000 Menschen. |
Nach seiner Wahl hielt Heuss auf der Rathaustreppe in Bonn eine Rede vor 25.000 Menschen
Quelle: picture-alliance / Presseamt Bon

Davon grenzte sich Heuss unmissverständlich ab. Aber ihm ging es nicht nur darum, die zerstörerischen Seiten des Extremismus abzulehnen; er wollte Westdeutschland über den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus hinweghelfen, indem er an demokratische Traditionen anknüpfte. Darin hatte der Sohn eines württembergischen Regierungsbaumeisters selbst Anteil gehabt. Nach dem Studium der Nationalökonomie, Literatur und Geschichte in München und Berlin war er Journalist geworden, hatte Biografien Friedrich Naumanns und Robert Boschs geschrieben und war Gründungsmitglied und Abgeordneter der DDP gewesen, die zu den wenigen Parteien gehört hatte, die die Weimarer Republik vorbehaltlos unterstützten. Zum Widerstand des 20. Juli 1944 stand er in Verbindung.

Als Staatsoberhaupt verstand sich Heuss als Bürgerpräsident und schrieb bald nach der Wahl einem alten Freund mit feiner Selbstironie: „Es wird ein interessantes Spiel werden, wie Heuss mit dem Protokoll kämpft.“ Vor allem die traditionelle Kleiderordnung der höheren Politik war dem Wahl-Stuttgarter ein Graus.

Bundespräsident Theodor Heuss neben seiner Staatslimousine mit Standarte und dem Nummernschild "01" (Mann neben Heuss nicht identifiziert). Heuss hatte das höchste Staatsamt von 1949 bis 1959 inne. | Verwendung weltweit
Heuss neben seiner Staatslimousine mit Standarte und dem Nummernschild "01"
Quelle: picture-alliance / dpa

Der erste Bundespräsident personifizierte den Sieg des sich selbst mäßigenden Bürgertums über politische Triebkräfte wie Klassenkampf, Fremdenhass und jede Form von Radikalität. Bürgerlichkeit war der Wert, den Heuss verkörperte und verkörpern wollte. Schon bald nach seiner Wahl ins höchste Staatsamt hatte er sein Ziel formuliert: „Dem viel geschmähten Wort vom Bürger die Würde wieder zurückzugewinnen. Nicht dem Spießbürger und nicht dem Besitzbürger“, sagte er im Januar 1950. Ziel müsse die „Verbreitung des Bürgertums in der Arbeiterschaft“ sein.

Neben vielen anderen Feststellungen des ersten Bundespräsidenten gilt noch immer eine Differenzierung, die Heuss 1955 auf dem Jubiläumskongress des Deutschen Städtetages machte: „Einwohner wollen, müssen behördlich betreut werden – Bürger wollen sich selbst betreuen.“ Ob allerdings Bürgerlichkeit in diesem Sinne heute noch mehrheitsfähig ist, muss man bezweifeln.

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Dieser Artikel wurde erstmals im September 2019 veröffentlicht.

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