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Was Kanzlerspion Guillaume wirklich verriet

Wegen Günter Guillaume musste der erste SPD-Bundeskanzler 1974 zurücktreten. Welche Geheimnisse gab der eingeschleuste Spitzel tatsächlich nach Ost-Berlin weiter?
Leitender Redakteur Geschichte

Gute Spione agieren im Verborgenen. Idealerweise für immer, mindestens aber zu ihren Lebzeiten. Wer also Geheimnisse verrät und dabei öffentlich entlarvt wird, ist sicher kein guter Spion. Allerdings können beide Seiten ein großes Interesse haben, auch so jemandem als „Topagenten“ darzustellen.

Das zeigt, am Beispiel des berühmt-berüchtigten Stasi-Spions im Bundeskanzleramt, der Historiker Eckard Michels 2013 in seinem Buch „Guillaume, der Spion“, der ersten kritischen Biografie des berühmtesten je enttarnten MfS-Offiziers im Westen. Über ihn stürzte im Mai 1974 der erste sozialdemokratische Bundeskanzler, Willy Brandt – auch wenn die Guillaume-Affäre nur der Anlass für seinen Rücktritt war, keineswegs aber der Grund.

Michels schildert minutiös, wie Guillaume ausgebildet und im Westen installiert wurde. In Frankfurt am Main begann der noch überzeugte Sozialist seinen Aufstieg, weil die SED große Hoffnungen auf die betont linke hessische SPD setzte.

Der Spionageeifer erlahmte

In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre allerdings erlahmte das Interesse des Agentenehepaars Guillaume an ihrem Auftrag offenbar. Zwar sind ihre eigentlichen Berichte 1989/90 vernichtet worden; erhalten blieben nur Verzeichnisse über die Zahl der angelegten Aktenbände. Doch daraus kann man erkennen, dass bis 1966 zu Guillaume und seiner Frau Christel je 16 Aktenbände angelegt worden waren, in den folgenden vier Jahren jedoch zu ihm nur zwei weitere und zu ihr kein einziger.

Warum das so war, bleibt Spekulation. Hatten die Guillaumes auf einmal Skrupel, Interna über Menschen, die ihnen vertrauten, nach Ost-Berlin weiterzugeben? Oder hatte es im Gegenteil eine Weisung seiner Führungsoffiziere gegeben, möglichst unauffällig weiter an seiner Karriere zu arbeiten, um in wirklich wichtige Funktionen aufzusteigen? Das behauptete Guillaume nach seinem Austausch in einem Vortrag vor DDR-Auslandsagenten, der sogar als Videoaufzeichnung überliefert ist.

Michels neigt der ersten Deutung zu: „Eingeschleuste vormalige DDR-Bürger, die den Kontrast des Lebens zwischen Ost- und Westdeutschland aus eigener Anschauung kannten, waren wahrscheinlich anfälliger für das Verdrängen des ursprünglichen Kundschafterauftrags als gebürtige Westdeutsche“, begründet er seine Ansicht einleuchtend.

Guillaume stieg überraschend auf

Eigentlich hätte Guillaume nach der Bundestagswahl 1969 Pressereferent im Verkehrsministerium werden sollen – doch dazu fehlte ihm die formal nötige Qualifikation für den höheren Verwaltungsdienst. Stattdessen aber bekam der bewährte Wahlkämpfer und SPD-Mann das Angebot, ins Bundeskanzleramt zu wechseln, mit der Zuständigkeit, Kontakt zu Gewerkschaften und Parteien zu halten.

Kanzleramtschef Horst Ehmke und Abteilungsleiter Herbert Ehrenberg hatten aber wohl einen anderen Grund für die auch intern umstrittene Einstellung. Wie Michels schreibt, ging es vor allem darum, „einen Genossen als Belohnung für seinen Einsatz so zu versorgen, dass er auch bei mangelnder Qualifikation nicht zu viel Schaden anrichten konnte“. Was für ein Irrtum!

Die Sicherheitsüberprüfung ergab zusätzlich Zweifel an Guillaumes Vertrauenswürdigkeit. Staatssekretär Egon Bahr, Brandts wichtigster politischer Mitarbeiter, warnte deshalb Ehmke schriftlich: „Meines Erachtens sollten Sie mit G. sprechen. Selbst wenn Sie einen positiven Eindruck haben, bleibt doch ein gewisses Sicherheitsrisiko, gerade hier.“

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Doch alle Vorbehalte bewirkten nichts: Ende Januar 1970 wurde Günter Guillaume rückwirkend zum Jahresbeginn im Kanzleramt eingestellt. Zwar war das Arbeitsfeld seines Referat, die Sozialpolitik, „nicht zentral für die Sicherheitsbelange der Bundesrepublik“. Gleichwohl ging es um „Kernelemente sozialdemokratischen Selbstverständnisses“. Für einen Agenten an sich eine perfekte Ausgangsposition.

Die HVA war vorsichtig

Doch vorerst war die HVA, die Auslandsspionage des MfS, vorsichtig. Um sich keinesfalls verdächtig zu machen, sollte Guillaume erst einmal stillhalten. Erst im Herbst 1970 bekam ein Residenten-Ehepaar der Stasi in Bonn den Auftrag, wieder Kontakt mit dem Agenten im Kanzleramt aufzunehmen. Ab dem 6. November liefen für die nächsten 14 Monate wieder kontinuierlich Berichte von Guillaume in Ost-Berlin ein.

Um festzustellen, welche Relevanz seine Informationen hatten, untersucht Michels das zufällig als Datei erhaltene Posteingangsbuch der HVA, bekannt unter der Abkürzung Sira. Demnach betrafen Guillaumes Berichte fast ausschließlich Themen aus seinem direkten Arbeitsgebiet. Informationen über die neue Ostpolitik der Regierung Brandt dagegen konnte der Agent nicht liefern.

In Ost-Berlin war man darüber offenbar enttäuscht – jedenfalls wurde nach knapp 18 Monaten das Residenten-Ehepaar wieder zurückgezogen. Die von ihnen weitergeleiteten Informationen waren nicht wertvoll genug, um ihre Enttarnung zu riskieren.

Im persönlichen Büro des Kanzlers

Da stand Guillaumes letzte und wichtigste Beförderung allerdings noch bevor: Nach der Bundestagswahl 1972 rückte er ins persönliche Büro von Willy Brandt im Kanzleramt auf, als Referent für Parteifragen.

Doch Michels kann gut begründen, warum der Agent auch in dieser Vertrauensstellung vergleichsweise wenig brisantes Material in die Hände bekam: Seine für die Außen- und Sicherheitspolitik zuständigen Referentenkollegen achteten genau auf ihre vertraulichen Unterlagen.

Zwar schätzen sie wie auch der Bundeskanzler selbst Guillaumes organisatorische Fähigkeiten und seinen unermüdlichen Einsatzwillen, schreibt Michels: „Sie sprachen ihm aber politisches Gespür ab und empfanden ihn im persönlichen Umgang als eher unangenehm.“

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Lediglich wenn die Reihe an Guillaume war, Willy Brandt auf Reisen zu begleiten, bekam er die Gelegenheit, in geheime Regierungsvorgänge Einblick zu nehmen. Denn dann agierte der Spion als Kontaktmann zwischen Kanzler und Kanzleramt. Nachträglich als verheerend erwies sich, dass Brandt Guillaume auf einen vierwöchigen Urlaub nach Norwegen begleitete – allerdings nur in der öffentlichen Wahrnehmung. Brandt selbst hatte erkannt, dass Guillaume „weder Ideen habe noch Fingerspitzengefühl“.

Der Verfassungsschutz schöpft Verdacht

Doch inzwischen drängte das Bundesamt für Verfassungsschutz darauf, dass der Referent in seiner Position bleibe – man hatte in Köln Verdacht geschöpft, verfügte aber noch nicht über ausreichend Beweise, um zuzuschlagen. Um eine mögliche Flucht Guillaumes in die DDR zu verhindern, sollte keinerlei Veränderung an seiner Position erfolgen, die ihn misstrauisch hätte machen können. Es war eine klassisch falsch konzipierte Operation des westdeutschen Sicherheitsdienstes: Der Kanzler wurde zum Köder.

Ungefähr gleichzeitig entdeckte Christel Guillaume bei einem Treffen mit einer Kurierin, dass sie observiert wurde. Bis zu ihrer Festnahme Ende April 1974 blieben die Indizien gegen das Ehepaar jedoch vage. Erst als Günter Guillaume in einer Schreckreaktion einem Durchsuchungsteam des Bundeskriminalamtes zurief: „Ich bin Bürger der DDR und ihr Offizier, bitte respektieren Sie das!“, war er überführt.

Ende 1975 wurde Guillaume zu 13 Jahren Haft verurteilt und 1981 im Rahmen eines Agentenaustauschs in die DDR entlassen. Er wurde befördert, mit Orden ausgezeichnet und ehrenhalber promoviert. Zu dieser Zeit galt er längst allgemein als „Topspion“.

Was einen guten Spion ausmacht

Möglicherweise zu Unrecht. Doch beide deutschen Staaten hatten ein Interesse daran, Guillaumes Bedeutung höher anzusetzen als sie tatsächlich war. Immerhin war über den Agenten ein überaus beliebter Bundeskanzler gestürzt, wenn auch die tatsächlichen Gründe eher innerhalb der SPD zu suchen waren. Für die DDR war es ein Triumph, einen Spion in der Regierungszentrale des „Klassenfeindes“ installiert zu haben, auch wenn er wenig zu berichten gehabt hatte.

Drei Bedingungen gibt es, damit Spionage wirklich Politik beeinflussen kann: Der Agent braucht erstens Zugang zu wirklich sensiblen Informationen. Zweitens muss er diese Informationen an seine Auftraggeber weiterleiten können. Und drittens müssen seine Auftraggeber willens und interessiert sein, diese Informationen tatsächlich zu nutzen.

„Im Fall Guillaume bestehen starke Zweifel, ob auch nur eine der drei Bedingungen gegeben war“, bilanziert Eckard Michels: „Der bloße Umfang des von der Bundespolitik erlittenen Geheimnisverrats rechtfertigt jedenfalls nicht den Rücktritt Willy Brandts.“

Dieser Artikel wurde erstmals 2013 veröffentlicht.

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