Die allgemeine soziologische Diskussion über Sozialisation seit den 1968er-Jahren hatte – neben der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen – deutlich das Subjekt in den Vordergrund gerückt. Durch die Rezeption des Symbolischen Interaktionismus war ins Bewusstsein gehoben worden, dass und wie das Individuum an der Organisation der Bedingungen seines Denkens und Handelns beteiligt ist. Die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz hatte diese Leistung in den gesellschaftlichen Kontext einer gemeinsamen sozialen Wirklichkeit gestellt. Die wissenssoziologische Sozialisationstheorie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann hatte schließlich gezeigt, wie einerseits die Gesellschaft das Individuum dazu bringt, sich in soziale Strukturen einzufügen, wie aber andererseits auch das Individuum an der Produktion der Bedingungen seines Handelns beteiligt ist. Diesem Ansatz lag die soziologische These zugrunde, dass die soziale Wirklichkeit – in all ihren Facetten – zwar eine gesellschaftliche Konstruktion ist, die sich in objektiven Strukturen und Institutionen verfestigt hat, diese Wirklichkeit aber nur dadurch Bestand hat, dass Individuen durch ihr Handeln an ihr mitwirken.

In dieser Aufbruchstimmung erschien in England ein Buch, das auf den ersten Blick gar nichts mit dem Thema Sozialisation zu tun hat, unseres Erachtens aber sowohl für das Verständnis der optimistischen Sozialisationsforschung, die sich aus der Aufmerksamkeit für die Möglichkeiten und Leistungen des Subjekts ergab, als auch für das Verständnis der späteren kritischen Einwände gegen diese Sozialisationsforschung wichtig ist. Wir meinen das Buch „New Rules of Sociological Method“ (1976) von Anthony Giddens (*1938), das in Deutschland im Jahre 1984 unter dem Titel „Interpretative Soziologie“ erschien. Wir beschränken uns auf einige zentrale Aussagen, soweit sie die Sozialisationsforschung berühren.

Das fängt schon beim englischen Titel an, denn darin spielt Giddens auf Emile Durkheims Buch „Regeln der soziologischen Methode“ (1895) an. Wie wir in Kap. 4.1 gezeigt haben, hatte Durkheim behauptet, dass die Gesellschaft und ihre Regelungen „soziale Tatsachen“ sind, die „losgelöst von den bewussten Subjekten, die sie sich vorstellen“ (Durkheim 1895, S. 125), existieren. Diese sozialen Tatsachen haben sich in „Institutionen“ festgestellt, und die Individuen passen sich im Prozess der Sozialisation an diese vorgegebene soziale Welt an oder werden durch „methodische Sozialisation“ in die objektiven Strukturen eingeführt. Die Soziologie müsse die sozialen Tatsachen wie „Dinge“ behandeln. (Durkheim 1895, S. 125) Gegen diese Annahme stellt Giddens die neue Regel der „Produktion und Reproduktion der Gesellschaft“, nach der sich Soziologie „nicht mit einer »vor-gegebenen« Welt von Objekten“ beschäftigt, „sondern mit einer, die durch das aktive Tun von Subjekten konstituiert oder produziert wird.“ (Giddens 1976, S. 197) Das heißt: Strukturen existieren nicht an sich und losgelöst von konkreten Subjekten, sondern nur als „Verhalten situativ Handelnder“ (S. 155). Die „Konstruktion des gesellschaftlichen Lebens“ ist als „Produktion durch aktive Subjekte“ zu betrachten. (S. 146) Sie interpretieren Situationen, strukturieren sie zu eigenen Zwecken und produzieren durch ihr Handeln Bedingungen des weiteren Handelns – für sich und für die anderen. Sie schaffen also Strukturen. Deshalb hat Giddens seine Theorie auch „Theorie der Strukturierung“ genannt.

Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die Subjekte keineswegs völlig frei und autonom bei der Definition und Bewältigung einer Situation sind. Diese „Grenzen des Handelns“ (Giddens 1976, S. 197) kommen in einer zweiten neuen Regel zum Ausdruck: „Menschliches Handeln hat Schranken. Die Menschen produzieren die Gesellschaft, aber sie tun es unter bestimmten historischen Bedingungen und nicht unter den Bedingungen ihrer eigenen Wahl.“ (S. 198) (1) Sie handeln unter den Bedingungen schon lange bestehender, objektiver Strukturen, die ihnen im Prozess der Sozialisation vermittelt wurden und die durch das kollektive Wissen der Alltagswelt abgesichert sind. Neben dieser Strukturierung des Denkens und Handelns durch gesellschaftliche Bedingungen wirkt eine zweite Strukturierung, die von den handelnden Subjekten selbst ausgeht: (2) Indem sie interagieren und sich fortlaufend auf eine gemeinsame Definition der Situation verständigen, schaffen sie situative Strukturen. Jedes zweite gemeinsame Handeln wird also durch ein erstes strukturiert.

Giddens fasst diese doppelte Funktion von Strukturen so zusammen: „Strukturen üben auf menschliches Handeln nicht nur Zwang aus, sondern ermöglichen es auch. Dieses Konzept nenne ich die Dualität von Struktur. Strukturen können im Prinzip immer im Sinne ihrer Strukturierung untersucht werden. Die Untersuchung der Strukturierung sozialen Handelns bedeutet den Versuch einer Erklärung, wie Strukturen durch Handeln konstituiert werden, und umgekehrt, wie Handeln strukturell konstituiert wird.“ (Giddens 1976, S. 198) Durch unser Denken und Handeln strukturieren wir das gesellschaftliche Leben, aber dieses Denken und Handeln ist bereits gesellschaftlich strukturiert und wird in unserem Alltag fortlaufend strukturiert. Diese Doppelseite der Struktur, dass Handeln strukturiert ist und Strukturen schafft, bringt Giddens in seinem Konzept der „duality of structure“ zum Ausdruck.

Hinter der Theorie der Strukturierung steht ein bestimmter Begriff des Handelns, den Giddens später in einem Interview mit Bernd Kießling zu seiner Theorie der Strukturierung als Fähigkeit definiert hat, in die „natürliche und soziale Ereigniswelt“ einzugreifen. (Giddens 1988, S. 289) Der Handlungsbegriff schließt alle Formen von Handeln ein: von der offensichtlichen Reaktion bis zur stummen Interpretation der Situation, vom scheinbaren Nichthandeln bis zum bewusst intendierten Handeln. Und deshalb betrachten wir auch Denken im weitesten Sinne als Handlung. Jede Handlung und jeder Effekt unseres Handelns tragen zur Strukturierung der Handlungssituation bei. „Menschliche Handlungen sind – wie einige sich selbst reproduzierende Phänomene in der Natur – rekursiv. Das bedeutet, dass sie nicht nur durch die sozialen Akteure hervorgebracht werden, sondern von ihnen mit Hilfe eben jener Mittel fortwährend reproduziert werden, durch die sie sich als Akteure ausdrücken. In und durch ihre Handlungen reproduzieren die Handelnden die Bedingungen, die ihr Handeln ermöglichen.“ (Giddens 1984, S. 52)

Der Akteur schafft mit seiner individuellen Selektion aus den Handlungsmöglichkeiten sowohl individuelle Bedingungen seines weiteren Handelns, als auch, da dieses Handeln auf das Handeln der anderen bezogen ist und es korrigierend oder bestätigend beeinflusst, soziale Strukturen immer wieder neu. Das heißt natürlich nicht, dass der Akteur dabei von Null anfängt, sondern er bringt soziale Gewohnheiten mit, die ihm in seiner Gesellschaft nahegelegt wurden, und er handelt auch in einem objektiven Rahmen, den soziale Institutionen und materielle Bedingungen definieren.

Nach dem Konzept der Dualität der Struktur hat weder „das soziale Objekt“ noch „das handelnde Subjekt“ einen „kategorialen Vorrang“, sondern beide werden vielmehr „in rekursiven sozialen Handlungen oder Praktiken konstituiert und das heißt: produziert und reproduziert.“ (Giddens 1988, S. 288 f.) Konsequent richtet sich Giddens deshalb sowohl gegen einen „Imperialismus des gesellschaftlichen Objekts“ als auch gegen die interpretative Soziologie, die „gleichsam auf einen Imperialismus des Subjekts“ gründe. (Giddens 1984, S. 52) Er begründet seine Kritik mit dem Argument, dass die sozialen Praktiken, an denen sich der Handelnde selektiv orientiert, als „alltagsweltliche Wissensbestände“ vorhanden sind. Deshalb spricht Giddens (unter Hinweis auf das „Rezeptwissen“ nach Alfred Schütz, s. oben Kap. 16.1) auch von einem „praktischen Bewusstsein“, aus dem heraus wir handeln, oder von einem „praktischen Wissen“: Es ist „ein eher stillschweigend hingenommenes, implizit und unausgesprochen bleibendes Wissen darüber, wie in den vielfältigen Zusammenhängen des sozialen Lebens zu verfahren sei.“ (Giddens 1988, S. 291) Halten wir also zur Handlungsperspektive der „duality of structure“ fest: Handeln ist insofern strukturiert, als die Individuen um die sozialen Regeln wissen, nach denen in dieser Gesellschaft normalerweise gehandelt wird. Das Handeln strukturiert insofern, als das Individuum sich für oder gegen diese Regeln entscheidet.

Die Relevanz dieser kritischen Theorie der Strukturierung für eine kritische Sozialisationstheorie liegt auf der Hand: Indem „die Handelnden (kognitiv) erkennen, dass Strukturen ihre eigenen Produkte sind“, erhalten sie auch die „Möglichkeit (…), die Kontrolle über sie (praktisch) zurückzugewinnen.“ (Giddens 1976, S. 153) Und wenn man die selbstbetriebene Produktion von Strukturen als ständige Vermittlung von Gesellschaft und Subjekt versteht, kann man sagen, dass Handeln immer auch Selbstsozialisation ist.

Handeln ist strukturiert und schafft Strukturen. Handeln ist somit immer auch Selbstsozialisation.