Gastbeitrag von Gerhard Schröder: Gemeinsame Sicherheit statt Selbstzerstörung

Gastbeitrag von Gerhard Schröder: Gemeinsame Sicherheit statt Selbstzerstörung

Der Ukraine-Krieg entscheidet über die Zukunft der Welt. Es wird Zeit, sich Gedanken über einen Friedensplan zu machen. Ein Gastbeitrag von Ex-Kanzler Gerhard Schröder.

Zerstörte und beschädigte Häuser nach einem Angriff auf ein ziviles Viertel in Isjum.
Zerstörte und beschädigte Häuser nach einem Angriff auf ein ziviles Viertel in Isjum.Picture Alliance/Evgeniy Maloletka

I.     Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Was Theodor W. Adorno in der „Minima Moralia“, seinen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“, kategorisch festgestellt hat, gilt auch für den Krieg in der Ukraine. Krieg ist immer falsch. Er bringt mit jedem Tag mehr Leid, Elend, Tod und Zerstörung. Und mit jedem Tag wächst das Risiko, dass er eskaliert und sich ausweitet. Auch der Krieg in der Ukraine. Carl von Clausewitz hatte recht mit seiner Warnung: Der Krieg hat keine Grenzen in sich.

Die Ukrainer haben ein Recht auf Selbstverteidigung, jedes Land hat den berechtigten Anspruch auf Sicherheit. Aber gerade deshalb heißt die wichtigste Aufgabe für ein gutes Leben: Frieden schaffen. Nur im Frieden ist ein gutes Leben möglich. Das heißt konkret für die Ukraine: Waffenstillstand, Verhandlungen über ein dauerhaftes Friedensabkommen zwischen den Kriegsparteien sowie eine stabile Friedensarchitektur in Europa. Nicht die Sprache des Militärs darf die weitere Entwicklung bestimmen, sondern die Sprache der Diplomatie und des Friedens. Um es mit Helmut Schmidt zu sagen: „Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen.“

„Rendezvous mit dem Schicksal“

Diese Aufgaben richten sich nicht nur an die Kriegsparteien, sondern sie sind eine Herausforderung an Europa, das Verantwortung für einen Friedensschluss übernehmen muss. Dazu gibt es keine Alternative, zumal der Krieg in der Ukraine kein regionales Drama ist, sondern längst eine geostrategische Dimension angenommen hat. Es ist ein Krieg, der auch die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet, vor allem durch seine Auswirkungen auf Energie, Lebensmittel und Lieferketten. Und er ist mitentscheidend für die künftige Weltordnung.

Das bedeutet: Wir sind erneut Zeugen, ja sogar Mitbeteiligte einer historischen Schlüsselsituation, die der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt in den 1930er-Jahren ein „Rendezvous mit dem Schicksal“ nannte. Damals erschütterte die „Große Depression“ von 1929 die Welt und es kam zum Aufstieg des Nationalsozialismus. Auch heute kommt es darauf an, entschlossen jede Eskalation der Gefahren zu stoppen.

Wir sind im gefährlichsten Jahrzehnt seit dem Zweiten Weltkrieg

Erneut erlebt die Menschheit ein „Jahrzehnt der Extreme“. Es begann mit der weltweiten Covid-19-Pandemie, dann kam es zum Krieg in der Ukraine unter dem Atomschirm Russlands. Das ist ein Krieg direkt an der Grenze zur Nato, der sogar eine atomare Katastrophe auslösen kann. Und schon in wenigen Jahren wird die Welt die Wucht der Klimakrise immer härter zu spüren bekommen, denn die globale Erwärmung wird die 1,5-Grad-Grenze überschreiten und sich damit den gefürchteten Kipppunkten im Erdsystem nähern, an denen die Schädigungen der Klimazonen in großen Weltregionen schnell außer Kontrolle geraten können.

Kurz: Wir sind im gefährlichsten Jahrzehnt seit dem Zweiten Weltkrieg, beängstigend sind die Summe, Ausdehnung und Parallelität der Krisen. Alles zu tun, dass es nicht ähnlich furchtbar endet, ist heute die dringlichste Aufgabe. Doch scheint jedes Verständnis verloren gegangen zu sein, dass die großen Menschheitsgefahren von der Weltgemeinschaft nur gemeinsam bewältigt werden können. Das wichtigste Gebot unserer Zeit ist eine „Weltinnenpolitik“, wie sie bereits von Willy Brandt gefordert wurde.

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Zur Person
Gerhard Schöder war von 1998 bis 2005 deutscher Bundeskanzler. Gegen den Widerstand der damaligen Opposition im Bundestag lehnte er 2002 eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg ab.

Die Verteilungskämpfe werden härter

Statt der Militarisierung der Welt brauchen wir die Bereitschaft zu mehr Frieden, Zusammenarbeit und Nachhaltigkeit. Das ist nicht nur wegen der denkbaren Folgen atomarer und konventioneller Hochrüstung von zentraler Bedeutung, sondern auch angesichts der Klimakrise, der zunehmenden Knappheit der Rohstoffe, der sozialen Spaltung und des wachsenden Hungers auf der Welt. Die Verteilungskämpfe werden härter. Von daher ist „Gemeinsame Sicherheit“ in einem erweiterten Sinne eine Frage universeller Vernunft, die heute geschaffen werden muss, ganz so wie das der Palme-Bericht 2022 beschrieben hat.

Mit den Ursachen und Folgen des Ukraine-Kriegs und der heraufziehenden Klimakrise beschäftigt sich das im Frankfurter Westend-Verlag erschienene Buch „Selbstvernichtung oder Gemeinsame Sicherheit“. Die Autoren Michael Müller, Peter Brandt und Reiner Braun, die aus der Friedensbewegung kommen, beschreiben darin nicht nur die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges, sondern auch seine möglichen Folgen für Europa und die Weltordnung.

Eine gesamteuropäische Friedensordnung will die Nato nicht

Sie warnen vor einer doppelten Gefahr der Selbstvernichtung der Menschheit – sowohl durch die verstärkte Hochrüstung als auch die Auswirkungen einer Klimakatastrophe. Sie plädieren für eine Politik der gemeinsamen Sicherheit, die der frühere schwedische Regierungschef Olof Palme vorgezeichnet hat, und für eine soziale und ökologische Gestaltung der Transformation, deren Leitidee die Nachhaltigkeit ist. Gemeinsame Sicherheit und Nachhaltigkeit beruhen darauf, zu mehr Gemeinsamkeit in der Welt zu kommen. Denn nur dann können die globalen Herausforderungen bewältigt werden. Eine tief gespaltene Welt kann das nicht.

An der heutigen Wegscheide geht es den Autoren in erster Linie um die Selbstbehauptung Europas. Hierin sehen sie den Schlüssel für einen Waffenstillstand in der Ukraine. Sie knüpfen dabei an die Vision einer gesamteuropäischen Friedensordnung an, die 1990, nach dem Ende der in Ost und West gespaltenen Welt, auf der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in der „Charta von Paris für ein neues Europa“ vorgezeichnet wurde. Aber die Chance einer gesamteuropäischen Friedensordnung wurde (bisher) nicht genutzt, auch weil sie von wichtigen Nato-Partnern, vor allem den USA, nicht gewollt wurde.

Vor allem Deutschland und Frankreich, die Kernländer der EU, müssen die Initiative für einen neuen Anlauf unternehmen, um zu einem Europa der Nachhaltigkeit und Zusammenarbeit zu kommen. Sie müssen mit einem „Plan für den Frieden“ die Kriegsparteien an einen Tisch holen, ohne die Konflikte und die Unterschiede in den Interessen, Werten und gesellschaftlichen Ordnungen zu verschleiern. Das „Gemeinsame Haus Europa“, die große Vision von Michail Gorbatschow, der die deutsche Einheit möglich gemacht hat, darum geht es auch heute, obwohl die Verständigung durch den Krieg in der Ukraine schwieriger und komplexer geworden ist.

Ein Feld ist mit Kratern übersät, die der Beschuss in der Nähe von Isjum in der Region Charkiw hinterlassen hat.
Ein Feld ist mit Kratern übersät, die der Beschuss in der Nähe von Isjum in der Region Charkiw hinterlassen hat.Picture Alliance/Kostiantyn Liberov

II.  Echter Frieden in der Ukraine muss das Produkt europäischer Staaten sein. Frieden ist ein Prozess.

Meine Generation wurde stark geprägt von der Friedens- und Entspannungspolitik der 1970er-Jahre und den programmatischen Berichten der Vereinten Nationen in den 1980er-Jahren für eine Weltinnenpolitik. Neben „Mehr Demokratie wagen“ und den inneren Reformen war die Ostpolitik von Willy Brandt ein wichtiger Teil meiner politischen Bewusstseinsbildung. Es war die Zeit, in der die Verkrustungen des „CDU-Staates“ aufgebrochen wurden und unser Land grundlegend modernisiert wurde. Es war eine Zeit von Aufklärung und Vernunft.

Die sozial-liberale Epoche hat wichtige Grundlagen geschaffen, um die in Ost und West geteilte Welt zu überwinden und mit dem 2-plus-4-Vertrag die deutsche Einheit und die Überwindung der europäischen Spaltung möglich zu machen. Auch Helmut Kohl ist zu danken, dass er 1989 die sich auftuenden Chancen für die deutsche Einheit konsequent genutzt hat. Aber ohne die Vorarbeit von Willy Brandt, Walter Scheel und Egon Bahr wäre die damalige Verständigung mit der Sowjetunion nicht denkbar geworden. Michail Gorbatschow hat die Friedens- und Abrüstungsvorschläge der deutschen Sozialdemokratie mit großer Aufmerksamkeit und viel Sympathie verfolgt.

Verständigung und Zusammenarbeit müssen das Ziel sein

Damals wurden von den Vereinten Nationen durch drei unabhängige Kommissionen unverändert wichtige Grundlagen für eine Weltinnenpolitik geschaffen: Willy Brandt mit den Vorschlägen für ein „Gemeinsames Überleben“ durch eine faire und solidarische Zusammenarbeit der Industriestaaten mit dem globalen Süden; Olof Palme mit seinem Konzept „Gemeinsame Sicherheit“ im Atomzeitalter; Gro Harlem Brundtland mit dem Report „Unsere gemeinsame Zukunft“, der die Leitidee der Nachhaltigkeit für die Zusammenführung von Umwelt und Entwicklung beschreibt.

Diese drei UN-Berichte müssen als Einheit verstanden werden, als statisches Gerüst für unsere zusammengewachsene Welt, in der die Menschheit zur Bewältigung der großen globalen Herausforderungen wie der Klimakrise, Bekämpfung des Hungers oder Rohstoffsicherheit auf das Verständnis von Gegenseitigkeit angewiesen ist. Trotz nicht zu leugnender Unterschiede zwischen den Staaten muss versucht werden, zu Verständigung und Zusammenarbeit zu kommen. Doch die Empfehlungen der Vereinten Nationen gerieten in den Hintergrund.

Eine Frau trägt ein Hilfspaket in der durch ukrainische Streitkräfte zurückeroberten Stadt Lyman.
Eine Frau trägt ein Hilfspaket in der durch ukrainische Streitkräfte zurückeroberten Stadt Lyman.Picture Alliance/Leo Correa

Vorgeschichte des heutigen Dramas

Hans-Dietrich Genscher hat nach dem historischen Jahr 1989 mehrfach davor gewarnt, die Angebote zur Verständigung mit Russland nicht zu nutzen. Die Nato, die 1949 gegründet wurde, damit sich die sowjetische Einflusszone nicht über die Elbe nach Westen ausdehnen kann, wurde immer weiter nach Osten erweitert, ohne dass es dafür eine gesamteuropäische Friedensordnung gab. Neben Frankreich und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel warnten selbst die amerikanischen Sicherheitsberater Präsident George W. Bush vor einer Nato-Ausdehnung in die Ukraine und nach Georgien, ohne dass es zu einer Verständigung mit der politischen Führung in Moskau gekommen sei. Doch die Versprechen wurden gebrochen.

Das falsche Motto „The winner takes it all“ rechtfertigt nicht den Krieg in der Ukraine, aber es gehört zur Vorgeschichte des heutigen Dramas. Die Ukraine hat für Russland eine herausragende Bedeutung, denn Kultur und Geschichte der beiden Länder sind eng miteinander verbunden. Statt alles vom Ende, nämlich der Bewahrung des Friedens her zu denken, kam es in der gespaltenen Gesellschaft der Ukraine nach den Maidan-Demonstrationen von 2013/14 zu westlichen Waffenlieferungen und zu einer Zuspitzung der Konflikte mit dem russischen Teil der Bevölkerung im Osten des Landes.

Engpässe bei wichtigen Rohstoffen nehmen zu

Die Zahl der Opfer steigt, die Wut nimmt zu, nicht nur in der Ukraine. Die Folgen des Krieges sind weltweit zu spüren. Die Vereinten Nationen kamen bereits im Mai zu der erschreckenden Feststellung, dass mindestens 107 Länder mit 1,7 Milliarden Menschen von den Folgen des Krieges und der Sanktionen betroffen seien: mit der sich zuspitzenden Energiekrise, den steigenden Lebensmittelkosten und den verschlechterten Finanzbedingungen. Engpässe bei wichtigen Rohstoffen nehmen zu, globale Lieferketten sind gestört. Wie soll in dieser verletzten und gespaltenen Welt, so fragen auch die drei Autoren, die globale Klimakrise bewältigt werden, wenn es nicht schnell zu einer Friedenslösung kommt?

Der Krieg vertieft die Spaltung. Die Länder, die sich nicht den Sanktionen gegen Russland angeschlossen haben, stehen für die Mehrheit der Weltbevölkerung. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die 40 Prozent der Weltbevölkerung vertritt, lehnt Sanktionen ebenso ab wie die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), zu denen nach Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl von fast 2,8 Milliarden Menschen die beiden stärksten Länder der Erde – China und Indien – gehören. Sie verfügen über eine große Bedeutung in der Rohstoffpolitik, gewinnen technologisch stark an Einfluss und arbeiten an einer Abkehr vom Leitwährungssystem des US-Dollars. Der Ukraine-Krieg lässt befürchten, dass speziell Europa nicht nur ein Problem mit Russland hat, sondern auch zum Verlierer der globalen Machtverschiebungen und ihrer Folgen wird.

Ein Feuer, das durch russischen Beschuss ausgelöst wurde und die örtlichen Landwirte an der Getreideernte hindern soll, zerstört ein Weizenfeld in der Region Saporischschja.
Ein Feuer, das durch russischen Beschuss ausgelöst wurde und die örtlichen Landwirte an der Getreideernte hindern soll, zerstört ein Weizenfeld in der Region Saporischschja.Picture Alliance/Ukrinform

Ein Plan für den Frieden

Die Frage ist: Wer baut neue Brücken? Aus den ersten Versuchen wurde nichts. Das Minsk-I-Abkommen, ausgehandelt unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), scheiterte, ebenso Minsk II, an dessen Aushandlung Francois Hollande und Angela Merkel beteiligt waren und das durch die einstimmige Zustimmung des UN-Sicherheitsrates sogar völkerrechtlich in Kraft trat. Die Verhandlungen zogen sich hin, der Einmarsch Russlands in die Ukraine beendete diesen Friedensprozess.

In Istanbul legte die ukrainische Delegation am 29. März 2022 einen 10-Punkte-Vorschlag für Sicherheitsgarantien vor, der nahe einer Einigung war. Der weitere Kriegsverlauf, auch die umfangreichen Waffenlieferungen und laut ukrainischen Medienberichten westliche Interventionen in Kiew waren für einen Abbruch dieser aussichtsreichen Verhandlungen ausschlaggebend.

Im Mai 2022 legte Italien dem UN-Generalsekretär António Guterres einen Friedensplan vor. Dieser sah vor, die UN, die EU und die OSZE in Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine einzubinden, um einen vierstufigen Plan umzusetzen: Waffenstillstand, kein Nato-Beitritt/Neutralität der Ukraine, Selbstbestimmung territorialer Fragen und internationaler Sicherheitspakt unter dem Dach der OSZE.

Es muss zu einer Friedenslösung kommen

Auf Einladung des Vatikans erarbeitete im Juni 2022 eine internationale Expertengruppe unter der Leitung des amerikanischen Ökonomen Jeffrey Sachs einen Vorschlag für einen „gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine“. Statt eines von den Experten befürchteten „Zermürbungskrieges“ schlagen sie eine Vorgehensweise in acht Punkten vor, zu denen neben einer militärischen Neutralität der Ukraine und internationalen Sicherheitsgarantien auch die schrittweise Aufhebung der Sanktionen, ein multilateraler Wiederaufbaufonds und ein internationaler Überwachungsmechanismus der UN gehören.

Ich gebe den Autoren recht: Statt einer Kriegslogik muss es zu einer Friedenslösung im Sinne der Gemeinsamen Sicherheit kommen. Das ist im Interesse Europas, ja im Interesse der Selbstbehauptung Europas in einer Welt, die sich in einem tiefen Umbruch befindet. Wenn der Ukraine-Krieg weiter eskaliert, wie soll dann die Weltgemeinschaft die großen globalen Herausforderungen unserer Zeit überhaupt noch bewältigen können? Wir haben nur die „Eine-Welt“.

Michael Müller/Peter Brandt/Reiner Braun: „Selbstvernichtung oder Gemeinsame Sicherheit? Unser Jahrzehnt der Extreme: Ukraine-Krieg und Klimakrise“. Westend Verlag, Frankfurt am Main. 144 Seiten, 20 Euro.

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