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Meinung Gerhard Schröder über Chirac

„Europa hat einen ganz Großen verloren“

Frankreich nimmt Abschied von Jacques Chirac

Der Ex-Präsident von Frankreich Jacques Chirac ist im Alter von 86 Jahren gestorben. Bisher trugen sich rund 5000 Menschen in ein Kondolenzbuch im Elysée-Palast ein.

Quelle: WELT

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Jacques Chirac war ein brillanter Gesprächspartner, machte aber genauso seinem Spitznamen „Le Bulldozer“ alle Ehre. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder beschreibt im Gastkommentar die Beziehung der beiden. Ein Streit hatte eine besondere Bedeutung.

Frankreich, Deutschland und Europa nehmen Abschied von einem großen Staatsmann, der ein Patriot und ein überzeugter Europäer zugleich war. Jacques Chirac hat die deutsch-französische Freundschaft gelebt, die europäische Politik entscheidend gestaltet und in der internationalen Politik der Rolle Frankreichs und unserem Kontinent Stimme und Gewicht gegeben.

Als Bundeskanzler durfte ich sieben Jahre mit ihm zusammenarbeiten. Ich brauchte einige Zeit, diesen differenzierten Menschen zu entschlüsseln. Bei ihm konnte man Distanz und Nähe zugleich erleben. Er verkörperte als Staatspräsident die zentralistische Macht des französischen Staates und brachte dies auch gern durch große Gesten zum Ausdruck. Er war ein intelligenter und charmanter Charakter; einer, der Loyalität zu schätzen wusste und selbst verlässlich war.

So hielt die Verbindung zu mir, auch nachdem ich aus dem Amt geschieden war. Gelegentlich klingelte bei uns in Hannover das Telefon, es melde sich der Élysée-Palast, der Amtssitz des Präsidenten. Und dann telefonierte Jacques mit der ganzen Familie und mir. Ebenso lud er, wenige Monate nachdem ich mein Amt abgegeben hatte, die ganze Familie in den Élysée-Palast zu einem Mittagessen ein.

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Dabei erwiesen er und seine Frau sich als sehr liebenswürdige Gastgeber, die sich herzlich um unsere Kinder kümmerten. Das war für ihn, obwohl das Amt ihm wenig Zeit ließ, eine Selbstverständlichkeit, weil er wusste, wie wichtig solche Zeichen der Freundschaft waren. Und dann ist da natürlich seine Ehefrau Bernadette, eine ungewöhnlich kluge und interessante Frau, selbstbewusst und lebensfroh. Jedes Gespräch mit ihr ist eine Bereicherung.

Im Verhältnis zwischen ausländischen Staats- und Regierungschefs geht es in erster Linie um den Ausgleich von unterschiedlichen Interessen. Aber eine freundschaftliche und vertrauensvolle Beziehung kann die Lösung von bilateralen Problemen erleichtern. Als ich 1998 ins Amt kam, traf ich auf einen skeptischen und distanzierten Jacques Chirac.

Die ersten zwei Jahre waren von Konflikten geprägt. Er war in Brüssel für seine harte Verhandlungsführung, insbesondere wenn es um die Interessen der französischen Bauern ging, gefürchtet. Seinem Spitznamen „Le Bulldozer“ machte er alle Ehre, und es war für mich eine Herausforderung, dagegenzuhalten. Für mich war es in dieser Auseinandersetzung schon ein großer Erfolg, die Agrarausgaben der EU nicht weiter wachsen zu lassen.

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Zu einem richtigen Konflikt kam es dann beim EU-Gipfel im Jahr 2000 in Nizza. Im Vorfeld der EU-Osterweiterung mussten die Abstimmungsmodalitäten in den europäischen Gremien reformiert werden. Chirac wollte partout nicht, dass sich Deutschlands größere Einwohnerzahl in der Stimmgewichtung niederschlägt.

Es waren laute Auseinandersetzungen, wir fanden nur mühsam einen Kompromiss. Dieser Streit hatte aber auch eine positive Konsequenz, eine Art reinigende Wirkung. Wenn ich zurückdenke, dann glaube ich, dass er an diesem Punkt akzeptiert hatte, dass ich ein ebenbürtiger Verhandlungspartner war.

Und vor allem: Wir beide erkannten, dass Fortschritte in der Europäischen Union nur dann möglich waren, wenn Deutschland und Frankreich sich einig waren und Kompromisse fanden, die in allen EU-Staaten – vor allem in den kleinen – mehrheitsfähig waren. Diese Erkenntnis ist für das Heute und die Zukunft Europas weiterhin gültig.

Chiracs größte politische Niederlage

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Einige Wochen später trafen wir uns zur persönlichen Aussöhnung im elsässischen Städtchen Blaesheim und vereinbarten regelmäßige, alle sechs bis acht Wochen stattfindende Treffen. Dieses Format der „Blaesheim-Treffen“ hat sich über unsere Amtszeiten hinaus etabliert. Es trat etwas ein, was ich kaum für möglich gehalten hatte. Durch eine Institutionalisierung unserer Treffen wuchs das persönliche Vertrauen.

Und dieses war Grundlage, um auf Basis der deutsch-französischen Freundschaft wichtige europäische Impulse zu setzen: den EU-Beitritt von acht osteuropäischen Staaten sowie Zypern und Malta im Jahr 2004, die Beitrittsverfahren für die Staaten des Balkans und der Türkei und die Einsetzung des „Europäischen Konvents“, der den Entwurf für eine europäische Verfassung erarbeitete.

Das Scheitern dieser Verfassung in einem Referendum in Frankreich war die größte politische Niederlage von Jacques Chirac. Zugleich war es auch eine Niederlage für mich, die sich auch dadurch nicht schmälerte, dass Teile des Verfassungsentwurfs – unter anderem der Grundrechtekatalog – in den EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2007 einflossen.

Ohne dieses Maß an gegenseitigem Vertrauen wäre auch das Aufbegehren von Teilen Europas gegen den fatalen Irak-Krieg, den George W. Bush 2003 begann, nicht möglich gewesen. Heute wissen wir, dass diese Militäraktion eine entscheidende Ursache für Kriege und Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten, nicht zuletzt auch für das Entstehen des IS, war.

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Lange ließ Chirac mich, der ich mein Nein schon früher festgelegt hatte, im Unklaren. Frankreich als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat dürfe sich nicht zu früh festlegen, so war seine Position. Aber als er fest davon überzeugt war, dass die Begründungen für den Krieg falsch waren und dieser Krieg zu unkontrollierbaren Folgen in der Region führen würde, stand er fest zum Nein. Für mich war diese Festlegung Chiracs, ebenso wie das russische Nein zum Krieg, eine wichtige Rückendeckung.

Außenpolitisch war Chirac ein Gaullist, der Frankreichs Stellung in der Welt offensiv vertrat. Aber er war auch ein geschichtsbewusster Politiker. Als erster Staatspräsident bekannte er sich zur Mitschuld des Vichy-Regimes an der Deportation der Juden während der nationalsozialistischen Besatzung.

Im Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus war er konsequent. Und er blieb dieser Position auch nach seiner Amtszeit treu: Gemeinsam waren wir Schirmherren des „Projet Aladdin“, das von der Fondation pour la Mémoire de la Shoah unter dem Unesco-Patronat initiiert wurde und den globalen interkulturellen und interreligiösen Dialog fördert.

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Gegenüber Deutschland, dem ehemaligen Feind und Rivalen, sandte er versöhnliche Töne. Anlässlich des 40. Jahrestags der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags proklamierten wir den 22. Januar zum alljährlichen „Deutsch-Französischen Tag“. Und zum 60. Jahrestag des D-Day, der Landung der Alliierten in der Normandie, lud er mich als Vertreter des neuen Deutschlands an die Seite der Siegermächte nach Caen zur Gedenkveranstaltung ein.

Die deutsch-französische Freundschaft, die für uns Grundlage unseres Handelns war und die wir pflegten, kam in einer besonderen Begebenheit zum Ausdruck: Da ich an einer Bundestagsabstimmung teilnehmen musste, vertrat Jacques Chirac mich bei einem EU-Gipfel im Jahr 2003 und stimmte für Deutschland ab. Das zeigte, wie groß das gegenseitige Vertrauen war – in die Person, aber auch in die gegenseitigen politischen Positionen, vor allem in das andere Land.

Jacques Chirac war ein großer Staatsmann, der in seinem 50-jährigen politischen Leben fulminante Siege, aber auch schwere Niederlagen erlebt hat. Sie haben ihn gezeichnet, aber vor allem haben sie ihn stark gemacht. So stark, dass er auch Fehler eingestehen und deren Konsequenzen aushalten konnte.

Es lohnte sich immer, ihm zuzuhören, wenn er von politischen Begegnungen und Erfahrungen aus dieser Zeit berichtete. Seine Analysen, insbesondere zu internationalen Fragen und zu Regionen wie dem Nahen Osten, Asien und Afrika, waren brillant. Er kannte die Gesellschaften und Kulturen, vor allem auch die Kunst dieser Länder. Seine sonore Stimme, die mir dies alles ausführte, wird mir fehlen. Ich werde den Menschen Jacques Chirac vermissen. Europa hat einen ganz Großen verloren.

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