Herkunft und Aufstieg der Familie

Georg Trakl war ein Kind des habsburgischen Österreich-Ungarn. Die Mutter hatte tschechische Wurzeln, der Vater stammte aus einer deutschsprachigen Kaufmannsfamilie in Ödenburg, heute Sopron. Der wirtschaftliche Aufstieg des Raumes im Süden von Wien führte beide in Wiener Neustadt zusammen.

Die väterlichen Vorfahren kamen aus dem Dorf Harkau. Ein Spross heiratete in eine protestantische Ödenburger Bürgerfamilie ein, aus der Georg, der Großvater des Dichters, stammte. Von den dreizehn Kindern der Familie soll Tobias, der Vater des Dichters, das jüngste gewesen sein. Er wurde am 11.6.1837 in Ödenburg geboren und am nächsten Tag protestantisch getauft. Die Ausbildung zum Kaufmann begann er in seiner Heimatstadt und setzte sie in Wiener Neustadt fort. Mit 31 Jahren heiratete er dort 1868 Valentine Götz. Zwei Monate später gebar sie einen Sohn Wilhelm Maximilian, den späteren Halbbruder des Dichters. Die Mutter Wilhelms starb aber schon 1870 mit 29 Jahren bei der Geburt eines zweiten Kindes. Tobias Trakl war damit Witwer und musste sich erneut um eine Frau umsehen.

Augustin Mathias Halick, Georg Trakls Großvater mütterlicherseits, wurde 1809 in Prag geboren und katholisch getauft. Er diente zunächst in der k.u.k. Armee, entschloss sich aber mit 36 Jahren zu einem beruflichen Wechsel. Als 36-Jähriger übersiedelte er nach Wiener Neustadt, wo er 1846 die um zwölf Jahre jüngere Anna Schod heiratete. Eines der zahlreichen Kinder dieser Ehe war Maria Halik, die 1852 katholisch getauft wurde. Maria wuchs in der Geburtsstadt auf und heiratete mit 23 Jahren Maximilian Schallner, einen aus Mähren zugewanderten Müller. Dieser scheint mit Tobias Trakl näher bekannt gewesen zu sein, denn er lud ihn 1875 als Trauzeuge und »Beistand« zur Hochzeit ein. Diese Entscheidung erwies sich als folgenreich, denn die Ehe zerbrach bald und Maria Halik, geschiedene Schallner, gebar drei Jahre nach ihrer Hochzeit am 22.5.1878 einen Sohn Gustav, zu dem sich Tobias Trakl als Vater bekannte. Etwa einen Monat zuvor war die Mutter Maria von der katholischen zur evangelischen Konfession übergetreten, womit eine Eheschließung im ungarischen Transleithanien möglich werden sollte. Dort erlaubte eine liberalere Ehegesetzgebung die Wiederverheiratung einer geschiedenen Frau. Dafür verlegte das Paar vorübergehend den Wohnsitz offiziell nach Ödenburg in das Elternhaus des Mannes. Vom dreimaligen Aufgebot wurde es dispensiert und konnte am 22.8.1878 in der evangelischen Pfarre getraut werden. Nach der Rückkehr nach Wiener Neustadt wurde das gemeinsame Kind Gustav getauft und für ehelich erklärt; es starb aber ein gutes Jahr später. Vielleicht hatte Tobias Trakl schon länger einen Ortswechsel vor und der Tod des Kindes war möglicherweise nicht der einzige Grund, aber gewiss ein Anlass, ein solches Vorhaben jetzt zu verwirklichen: Ab dem 14.11.1879 war das Ehepaar Trakl in Salzburg polizeilich gemeldet.

Neben wirtschaftlichen Überlegungen legten die besonderen Umstände der Eheschließung und der Tod des Kindes einen Ortswechsel nahe. Beides scheint ein Familiengeheimnis geblieben zu sein, denn das erste in Salzburg geborene Kind erhielt wieder den Namen Gustav, was die schmerzliche Erfahrung vermutlich vergessen lassen sollte. Dass dies ganz gelungen ist, darf bezweifelt werden, denn Wilhelm, der Halbbruder Georgs, war bei der Übersiedlung schon elf Jahre alt und hat von diesen Vorgängen sicher manches mitbekommen und seinen jüngeren Halbgeschwistern weitergegeben. In Trakls Dichtung finden sich Spuren davon, beispielsweise in der stark von autobiographischen Bildern geprägten Prosa »Traum und Umnachtung«, im »Dramenfragment« und im Gedicht »Der Spaziergang«.

Die Verbindungen zur Heimat der Eltern wurden nach der Übersiedlung nicht ganz abgebrochen. Die Taufpaten und –patinnen der späteren Kinder kamen häufig aus Wiener Neustadt oder Ödenburg. Die Großmutter mütterlicherseits und die Tante Agnes Hallick [sic] kamen mit nach Salzburg. Die Trakl-Kinder waren manchmal in der Heimat der Eltern zu Besuch und schickten von dort Karten. Der 1906 veröffentlichte Prosatext »Traumland« könnte ein Echo auf einen solchen Besuch Trakls in Ödenburg sein. Das Leiden an der Vergänglichkeit war bereits in diesem frühen Text bestimmend, es hat Trakl nicht mehr losgelassen – so wie auch die von dieser Landschaft geprägte Dichtung Nikolaus Lenaus.

Salzburg also. Warum? Die Stadt war ein Umschlagplatz für Eisen aus der Steiermark und aus Kärnten ins Deutsche Reich, sie war durch die Westbahn seit 1860 an das europäische Eisenbahnnetz angeschlossen und eine Nord-Süd-Verbindung nach dem Hafen Triest war angedacht. Der Eisenhändler Tobias Trakl wusste möglicherweise auch von einer günstigen Gelegenheit, an diesem Ort Fuß fassen zu können, denn bereits am 26.11.1879 schloss er mit Carl Steiner, einem bekannten Eisenhändler im Zentrum der Stadt, einen Vertrag ab. Demnach sollte er mit 1.1.1880 die Firma für zehn Jahre übernehmen, da sich Carl Steiner wegen seines schlechten Gesundheitszustandes nicht in der Lage sah, die Firma zu führen. Mit der Übernahme der Prokura durch Tobias Trakl begann der wirtschaftliche Aufstieg der Familie.

Es war nicht einfach, eine geeignete Unterkunft zu finden. Die Familie wohnte unterschiedlich lang an verschiedenen Adressen. An der ersten nur kurz, an der zweiten wurde Georgs älterer Bruder, der zweite Gustav, geboren. An der dritten, am »Platzl«, kamen die älteren Schwestern Maria und Hermine zur Welt. Die vierte Wohnung, die sie 1885 bezogen, war der Geburtsort für die weiteren drei Kinder. Diese lag an zentraler Stelle der Altstadt auf der linken Salzachseite in einem Haus zwischen Waagplatz und Rudolfskai, das aus dem Mittelalter stammte. Die Wohnung lag im ersten Stock zur Salzach hin. Der Vater hatte von dort nur wenige Schritte zur Firma in der Judengasse. Der Ausblick auf den Kapuzinerberg war wegen des bunten Buchenwaldes besonders im Herbst beeindruckend. Die nahe Salzach konnte bei Hochwasser bedrohlich ansteigen, was nicht selten vorkam.

Kindheit

In dieser Wohnung kam Georg Trakl am 3.2.1887 um 6.30 Uhr abends zur Welt. Fünf Tage später wurde er in der Wohnung protestantisch getauft. Als Taufpate stellte sich der k.k. Hofjuwelier Georg Beck mit seiner Gattin Anna Maria zur Verfügung. Von ihm dürfte der Neugeborene den Namen »Georg« erhalten haben; er erinnert aber auch an den Großvater väterlicherseits. Am 27.2.1890 wurde der jüngste Sohn Fritz geboren; auch er wurde daheim getauft. Als letztes Kind kam am 8.8.1891 Margarete Jeanne, genannt Grete oder Gretl zur Welt; sie sollte im Leben Georgs eine besondere Rolle spielen. Im Kreis dieser Geschwister hat Georg seine Kindheit verbracht. Etwas distanziert war das Verhältnis zu dem um 19 Jahre älteren Halbbruder Wilhelm, der bald wegen seiner weitläufigen Reisen interessant erscheinen mochte (Abb. 1.1).

Abb. 1.1
figure 1

Trakl als Kind 1889; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Als Spielplatz stand den Kindern zunächst nur der etwas düstere Hof des Hauses zur Verfügung, der von den Bewohnern hauptsächlich als Wirtschaftshof genützt wurde. Ein Hausmeister soll dort manchmal Ratten gejagt haben. Ein freundlicherer Aufenthaltsort war ein Garten, den der Vater in der Nähe pachtete. Dieser lag östlich zwischen alter Stadtmauer und Pfeifergasse. Der Weg dorthin führte quer über den Mozartplatz. Es war (und ist) ein abgeschiedener Ort, von außen kaum einsehbar. Vor Regen und Hitze schützte das ›Salettl‹, ein Gartenhäuschen, das ohne große Veränderungen bis heute erhalten geblieben ist. Die Kinder hielten sich dort häufig auf, betreut von französischen Gouvernanten. Georg hat hier viel gelesen und wahrscheinlich auch seine ersten Gedichte geschrieben.

Als der Vater 1892 ein vierstöckiges Haus zwischen Waagplatz und Residenzplatz erwarb und darin ein eigenes Geschäft für Eisenwaren eröffnete, musste die Familie erneut umziehen. Als Wohnung standen nun etwa zehn Zimmer im 1. Stock zur Verfügung mit Blick auf die zentralen Plätze der Stadt – Mozartplatz und Residenzplatz. Hier konnte ein gehobener Lebensstil mit Dienstboten und Gouvernanten entfaltet werden. Sie lebten »in jener behaglichen und selbstverständlichen Aisance, die sich heute niemand mehr vorstellen kann« (Bondy 1952, 9), wie sich Trakls Bruder Fritz später in einem Interview erinnerte. Der Eingang zur Wohnung war auf der Seite des Waagplatzes, daher auch die Adresse Waagplatz 3. Die Geschäftsräume mit einer eigenen Abteilung für Küchengeräte lagen im Parterre, die Firmenadresse lautete Mozartplatz 2 u. 3. Solange der Vater lebte, war dieses Geschäft eine solide materielle Grundlage.

Georg wohnte zunächst zusammen mit Fritz in einem Zimmer mit Blick auf den Mozartplatz, als Gymnasiast erhielt er daneben später ein eigenes Kabinett.

Wie sich das Leben Trakls als Kind gestaltet hat, dafür gibt es nur spärliche Dokumente. Meist sind es Erinnerungen von Familienmitgliedern, die ein wenig Einblick in Verhaltensweisen des Kindes geben. Die Geschwister waren später freilich in erster Linie bestrebt, das Ansehen der Familie zu wahren und der gemeinsame Nenner lautete daher auch meist: »Georg war ein Kind wie wir anderen auch« (Bondy 1952, 9). 1952 erzählte der Bruder Fritz ein wenig von den Vorlieben Georgs: Er liebte es demnach, mit Freunden an den Turngeräten im Garten zu spielen, und sammelte gerne Briefmarken. Als junger Gymnasiast tauschte er Ansichtskarten mit dem Chinesen Chen Lin in Amoy (heute Xiamen) und beschäftigte sich zur Verständigung mit der damals noch jungen Plansprache Volapük (Bondy 1952, 9). Ansichtskarten waren ein beliebtes Sammelobjekt. Eine besondere Anregung dürften die Karten Wilhelms aus fernen Ländern (England, USA, Mexiko) gewesen sein.

Nach allen bekannten Äußerungen war der Vater als Kaufmann erfolgreich. Die beruflichen Verpflichtungen nahmen ihn stark in Anspruch, Erfolge stellten ihn zufrieden. Daneben genügten ihm »ein Tarockspiel im Café« oder »ein Glas Wein des Abends« (Spoerri 1954, 42). Für die Kinder stellte er eine anerkannte Respektsperson dar. Politisch war er kaisertreu, was durch eine Offenheit gegenüber liberal-deutschnationalen Strömungen nicht in Frage gestellt wurde. Dazu gehörte auch, dass in der Familie das Salzburger Volksblatt gelesen wurde, das in diese Richtung tendierte; die Redaktion dieses Blattes befand sich direkt gegenüber am Waagplatz, die Familien kannten sich. Die ersten Texte Trakls sind dort erschienen. Für die literarischen Ambitionen seines Sohnes dürfte der Vater aber kaum Interesse und Verständnis gehabt haben. Seine Einstellung wird am ehesten der entsprochen haben, wie sie später Fritz auf die Frage nach Georgs literarischem Schreiben geäußert hat: »Nun, wir ließen ihm seine Freude« (Bondy 1952, 9). Mit dem Tod des Vaters 1910 ist der ruhende Pol der Familie verloren gegangen.

Wesentlich spannungsvoller war das Verhältnis Georgs zu seiner Mutter. Ihr Aufstiegswille einerseits und sechs Geburten in elf Jahren andrerseits dürften sie überfordert haben. Sie reagierte mit Rückzug auf ihre eigenen Interessen, insbesondere auf die Sammlung von Antiquitäten. Fritz hatte sie als »kühle, reservierte Frau« in Erinnerung, die sich »unverstanden von ihrem Mann, ihren Kindern, von der ganzen Welt« fühlte. »Ganz glücklich war sie nur, wenn sie allein mit ihren Sammlungen blieb – sie schloß sich tagelang in ihre Zimmer ein, die vollgestopft waren mit Barockmöbeln, Gläsern und Porzellan« (Bondy 1952, 9). Als ein Versuch der Entlastung kann auch ihre Flucht in die Betäubung gesehen werden. Georg stufte sie später im Krakauer Garnisonsspital als »Opiumesserin« und »nervenkrank« ein (HKA II, 729). Er soll sie deswegen einerseits gehasst haben, andererseits war ihm ihr Schicksal auch nicht egal, denn als 1913 die Auflösung des Geschäftes bevorstand, erschien es ihm als »leichtfertig, das Haus der Mutter zu verlassen« (DuB 541). Manches hatte er mit ihr gemein wie die Neigung zu Isolation und Depression, seine Abneigung, sich den Anforderungen des Alltags zu stellen, aber auch den Sinn für das ästhetisch Schöne. Im Werk ist sie immer mit Kälte verbunden. Aus psychoanalytischer Sicht war die gefühlskalte Art der Mutter der Hauptgrund dafür, dass Georg die »Ausbildung von Ich-Stärke und psychischer Stabilität« versagt geblieben ist (Stark 1989, 144). Wenn er in seiner Empfindlichkeit schutzbedürftig war, so suchte er solchen Schutz bei der Mutter vergeblich. Umso mehr war er bestrebt, seiner jüngsten Schwester Grete, die ihm in ihren Interessen sehr ähnlich war, Schutz zu bieten (Abb. 1.2).

Abb. 1.2
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Georg Trakl (dritter von rechts) und seine fünf Geschwister (ohne den Halbbruder Wilhelm); Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg.

Die Stelle der Mutter nahm in vielerlei Hinsicht die zweisprachige Gouvernante Marie Boring ein. Sie stammte aus dem Elsass, lebte 14 Jahre lang ab 1890, mit einer kurzen Unterbrechung 1891/92, in der Trakl-Familie und kehrte dann wieder in ihre Heimat zurück. Sie war für die Erziehung der Kinder zuständig, die sie offenbar gern hatten. Auch wenn die religiöse Praxis ihrer Dienstgeber eher liberal war, scheint für die streng katholische Frau die Tätigkeit in einem protestantischen Haus nicht ohne Probleme gewesen zu sein; sie ließ sich angeblich von einem Franziskanerpater deswegen beraten (vgl. Basil 1965, 38). Ihr katholisches Weltbild schlug sich sicher auch in der Erziehung der Kinder nieder. Die katholische Szenerie in der unmittelbaren Umgebung der Trakl-Wohnung mag auch dazu beigetragen haben. Religiöse Fragestellungen, beispielsweise Überlegungen hinsichtlich der Existenz und Beschaffenheit einer Seele, haben Georg schon früh beschäftigt.

Der Lebensform eines gehobenen Bürgertums gemäß sollten die Kinder bei der Gouvernante Französisch lernen. Marie Boring war sicher darum bemüht und war Georg behilflich, wenn er an die Schwestern Maria und Hermine, die sich in einem Internat im schweizerischen Neuveville aufhielten, Karten auf Französisch schickte. Er unterschrieb mit »Georges«. Wie weit er die französische Sprache beherrschte, ist aber unklar. Französische Dichter wie Rimbaud hat er später in einer deutschen Übersetzung gelesen; in einem Brief verwendete er die Formel »mauvaise music« orthographisch unkorrekt. Doch ist das kein zuverlässiger Gradmesser für seine tatsächlichen Kenntnisse. Frau Boring hat sicher die Grundlage für sein Interesse an der französischen Literatur gelegt. Als diese Sprache in der gymnasialen Oberstufe als Freifach angeboten wurde, hat er sie allerdings nicht gewählt. Bei der militärischen Musterung (Assentierung) 1908 wurde festgehalten, dass er Deutsch und Französisch mündlich und schriftlich beherrsche.

Eine musikalische Ausbildung gehörte ebenfalls zum bürgerlichen Lebensstil. Sein Bruder Fritz erinnerte sich: »Übrigens spielte er ganz gut Klavier; mit Mozart konnte Georg allerdings nie viel anfangen, aber er liebte die russische Musik« (Bondy 1952, 9). Wie gut er das Klavierspiel beherrschte, ist nicht recht klar. Auf der Hohenburg bei Innsbruck soll er später die »Mondscheinsonate« gespielt haben. Den Klavierunterricht erteilte August Brunetti-Pisano, ein begabter Musiker, Komponist und angesehener Lehrer. Die jüngste Schwester Grete besaß eine besondere musikalische Begabung, eine Ausbildung zur Pianistin schien durchaus erfolgversprechend. Georg sah in ihr schon die große Künstlerin. Mehrere Anläufe dazu verliefen letztlich aber vergeblich.

Einige Vorfälle im Leben des jungen Georg zeugen von einem eigenwilligen Verhältnis zur Realität. So ging er einmal wie geistesabwesend in einen Teich und wurde nur mit Mühe gerettet. Er selbst hatte diesen Vorfall als frühen Versuch der Selbsttötung in Erinnerung (HKA II, 729) – für einen Fünfjährigen ein höchst außergewöhnliches Verhalten. Ein andres Mal warf er sich einem herangaloppierenden Pferd in den Weg, um es zum Stehen zu bringen; Ähnliches soll er bei der Straßenbahn versucht haben. Seine Abneigung gegen heftige Bewegungen erwähnte später auch sein Freund Buschbeck: »Er will halten, was nie bleibt, aufhalten, was ewig sich wandelt. […] Als Feind erkennt er am Grunde überall die Bewegung. […] Indem sie vorwärts kommt, nimmt sie ihm immer wieder etwas weg« (Buschbeck 1917, 9). Er setzte dem die Sehnsucht nach Stille, Ruhe und Bilder von Kindheit, Traum und Tod entgegen. Dem entspricht auch seine Erinnerung, dass er sich von Wasser magisch angezogen fühlte und bis zu seinem 20. Lebensjahr »überhaupt nichts von seiner Umgebung bemerkt« habe »außer dem Wasser« (Erinnerung 1966, 122). Als Kind konnte er auf die manchmal bedrohlich hohe Salzach schauen, später machte er gerne lange Spaziergänge den Fluss entlang.

Ab Herbst 1892 besuchte Georg die fünfjährige Übungsschule der k.k. Lehrerbildungsanstalt am Universitätsplatz. Es war eine in katholischem Geist geführte staatliche Eliteschule, ein Lehrer unterrichtete jeweils etwa 30 männliche Schüler. Protestantische Schüler hatten ihren Religionsunterricht im Pfarrhaus bei der evangelischen Christuskirche am Salzachkai bei Pfarrer Aumüller, »einem wunderbar gütigen Menschen, dem Trakl sehr anhänglich war«, wie sich Trakls Freund Buschbeck, der ebenfalls protestantisch war, erinnerte (Erinnerung 1966, 140). Bibelkenntnisse, die für Trakl eine wichtige Bildquelle waren, hat er sich wohl hauptsächlich in diesem Unterricht angeeignet. Die Gouvernante begleitete ihn dorthin, was in den Augen der Mitschüler seinen Ruf förderte, »etwas besonders ›Feines‹« (Erinnerung 1966, 140) zu sein und verstärkte bei ihm ein scheues Absonderungsbedürfnis. Das könnte allerdings auch mit seiner etwas fülligen Figur zu tun gehabt haben, deretwegen er Hänseleien ausgesetzt war. Die Noten im Fach »Turnen« waren aber durchaus positiv; später ließ er sich davon allerdings befreien. Die Leistungen in der Volksschule konnten sich sehen lassen: Im letzten Zeugnis vom 10.7.1897 sind nur die Noten 1 und 2 zu finden, wobei die 1 überwiegt. Damit konnte er an einer weiterführenden Mittelschule angemeldet werden.

Es war naheliegend, das im selben Gebäude untergebrachte k.k. Staatsgymnasium zu wählen. Nach der Aufnahmsprüfung fand er sich in der ersten Klasse mit 65 Anfängern wieder. Seine Mitschüler kamen meist aus dem Bürgertum von Stadt und Land Salzburg, einzelne auch aus anderen Kronländern. Das Ziel, die Matura, war begehrt, denn sie berechtigte zum Studium an der Universität und zur Absolvierung des Einjährig-Freiwilligen-Jahres in der k.u.k. Armee anstatt des sonst üblichen dreijährigen Militärdienstes.

Der Schulweg änderte sich für Trakl nicht, nur fünf Minuten von zu Hause im Zentrum der Altstadt vom Residenzlatz zum Universitätsplatz, vorbei an mehreren Buchhandlungen, Cafés und Konditoreien. Schwerpunkt im Unterricht waren die klassischen Sprachen. Es ging in der ersten Klasse gleich los mit acht Stunden Latein in der Woche, ein Fach, in dem am Jahresende nur 37 Schüler bestanden. Trakl schloss mit einem »genügend« ab. Er hatte als einziger Protestant in der Klasse eine gewisse Sonderstellung, fiel aber sonst weiter nicht auf. Heinrich Benedikt, später ein bekannter Wiener Historiker, hatte ihn als »blassen, stillen Knaben, der bescheiden und verschlossen im Hintergrund blieb«, in Erinnerung (Hanisch/Fleischer 1986, 94).

Die Situation an der Schule war unruhig. Es gab mehrfachen Direktorenwechsel, auch die Ordinarien und Lehrer in den gefürchteten klassischen Sprachen wechselten. In der dritten Klasse kam das Fach Griechisch hinzu, Trakl schaffte gerade wieder ein »genügend«. Die Mythologie, der er in diesem Fach begegnete, ist nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Am Ende dieses Schuljahres musste er bei Pfarrer Aumüller eine Prüfung absolvieren und wurde konfirmiert.

Krisenhafte Jugend

Den Anforderungen der Schule war er bald nicht mehr gewachsen. Mit drei negativen Noten im Abschlusszeugnis – in Griechisch sogar »ganz ungenügend« – musste er die vierte Klasse wiederholen. Die Erfahrung, ›sitzenbleiben‹ zu müssen, war für den 14-Jährigen nicht leicht zu verkraften. Er reagierte »auf alles, was die Schule betraf, mit völliger Gleichgültigkeit und zynischer Reserve« (Basil 1965, 42). In der neuen Klasse mit 47 Schülern wurde er zu einem »Wurschtikus«, wie sein Mitschüler Franz Grimm berichtete, »sein Blick war nachdenklich und grüblerisch, manchmal auch forschend und verloren. […] immer lag ein stiller, obstinater Spott in seinen Mienen« (Basil 1965, 43 f.). Den Mitschülern erschien er überlegen, was die Lehrer wenig beeindruckte. In den Problemfächern musste er weiterhin um einen positiven Abschluss kämpfen.

Die Lehrer hatten es nicht leicht mit dem »schwierigen, verschlagen wirkenden Jungen, von dem es hieß, er dichte« (Basil 1965, 45). Das Vokabellernen in Latein und Griechisch kostete ihn große Überwindung. Er folgte lieber seinen bereits geweckten literarischen Interessen. »Sein Vater wunderte sich immer wieder über die hohen Rechnungen aus den Buchläden, die ihm ins Haus geschickt wurden« (Bondy 1952, 9), erinnerte sich sein Bruder Fritz. Trakl las schon früh Nietzsche und Ibsen, dann vor allem Dostojewskij, den er »sehr früh und mit vollem Einsatz zu lesen begann und bald ganz kannte« (Erinnerung 1966, 140). Der russische Autor spielte eine zentrale Rolle in den Literaturdiskussionen, von denen Erhard Buschbeck berichtete. An Dostojewskij mag Trakl das Antibürgerliche in Verbindung mit einer radikalen christlichen Religiosität und das Gefühl des Mitleids mit den Erniedrigten beeindruckt haben. In der 7. Klasse gab ein dem Naturalismus gegenüber aufgeschlossener Deutschlehrer manche Lektüre-Anregung; er scheint aber die Ausnahme im sonst konservativen Lehrerkollegium gewesen zu sein. Trakl erhielt immerhin die Note »lobenswert« (HKA II, 656).

Im Schuljahr 1904/05 war seine Klasse mit 38 Schülern ungewöhnlich groß. Die schulischen Misserfolge machten ihm immer wieder zu schaffen, sodass er sich sogar mit dem Gedanken trug, sich das Leben zu nehmen. Sein Freund Buschbeck fehlte ihm, er hatte bereits 1904 nach der 5. Klasse die Schule verlassen.

Am Ende des Schuljahres standen wieder, wie in der 4. Klasse, in den drei Problemfächern negative Noten im Zeugnis. Ein Aufstieg in die letzte Klasse war damit nicht möglich, er hätte die 7. Klasse wiederholen müssen. Nach einem kurzen Versuch dazu meldete er sich am 26.9.1905 von der Schule ab. Er hatte sich bereits entschieden, Apotheker zu werden, was damals auch ohne Matura möglich war. Voraussetzungen waren 6 Jahre Gymnasium und ein dreijähriges Praktikum in einer Apotheke. Der Vater hatte mit dieser Wahl keine Freude, er hätte ihn lieber als Beamten gesehen.

Was bewog Trakl dazu, diesen Weg zu wählen? Die Experimente mit Drogen werden dabei eine wichtige Rolle gespielt haben. Schon am Ende der Unterstufe soll ein Mitschüler, Sohn eines Apothekers aus Oberndorf, ihn mit Rauschmitteln vertraut gemacht und versorgt haben. (Trakl hat später dort kurz gearbeitet.) Im Sommer 1905 berichtete er einem Freund in Wien davon, dass er »sehr viel gearbeitet« (DuB 510) habe; damit meinte er literarische Arbeiten. Aber er habe »leider wieder zum Chloroform« seine Zuflucht genommen und die Wirkung sei »furchtbar« gewesen. Er ermahnte sich selbst, sich mit solchen Mitteln nicht wieder zu beruhigen, denn er »sehe die Katastrophe zu nahe« (ebd.). Zu diesem Zeitpunkt kämpfte Trakl noch gegen die Gefahr, süchtig zu werden, unterlag aber letztlich. Anregungen aus dem literarischen Bereich mögen ihn auch für den Apothekerberuf motiviert haben: Henrik Ibsen war Apotheker. Mit Nietzsche und Baudelaire begegnete er literarischen Vorbildern, die das Rauscherleben in ihren Texten feierten oder auch selbst von Drogen Gebrauch machten.

Trakls Neigung zur Selbstinszenierung kam in dieser Zeit der Konsum von Rauschdrogen ebenfalls entgegen. An die frühesten Versuche erinnerte sich sein Bruder Fritz: Georg habe seine Zigaretten mit Opiumlösung bestrichen, er war früh ein starker Raucher. Später hat er vor allem Veronal genommen, das sich weniger für eindrucksvolle Rauscherlebnisse eignet, sondern in höheren Dosen zu lang andauerndem Schlaf führt; gefährlich ist bei missbräuchlicher Verwendung die Langzeitwirkung. Ferner kam der Gebrauch von Kokain dazu, möglicherweise auch noch Curare, vor dem seine Schwester Grete nach Georgs Tod die Verwandtschaft warnte (Ficker 1986–1996, II, 71). Die Rauschdroge Alkohol wurde ihm schließlich zur Gewohnheit. Er trank mit Freunden hauptsächlich Wein, später auch Schnaps in größeren Mengen, ohne dass es nach außen erkennbare Folgen gehabt hätte.

Mit der Entscheidung für den Apothekerberuf sicherte sich Trakl die Aussicht auf ein Studium und das Einjährig-Freiwilligen-Jahr in der k.u.k. Armee, was die statusbewussten Eltern beruhigt haben dürfte. Am 18.9.1905, also noch vor der offiziellen Abmeldung von der Schule, begann er mit dem Praktikum, einer Art Lehre, in der Apotheke »Zum weißen Engel« in der Linzergasse. Der Besitzer, Magister Carl Hinterhuber, war ein deutschnational orientierter Vereinsmeier, der auch dem Alkohol nicht abgeneigt war. Trakl bezeichnete er als einen »Traumulus«, einen versonnenen, dem Leben abgekehrten Menschen.

Trakls Weg zur Arbeit war kurz, etwa zehn Minuten; er führte über die Judengasse und die Staatsbrücke zur Apotheke in die dunkle Linzergasse, wo er seinen Dienst von 7.30 bis 19 Uhr versah. Die Arbeitszeit war also lang, die Arbeit selbst aber nicht allzu anstrengend. »Es gab nur etwa zwei Dutzend Spezialarzneimittel, die der Apotheker kennen musste«, wird berichtet (Fischer 1959, 150). Er hatte also genügend Zeit, sich mit seinen literarischen Plänen zu beschäftigen. In dienstfreien Minuten hielt er sich am liebsten im »Stübl« auf, einem fensterlosen Nebenraum. Von ehemaligen Mitschülern fühlte er sich herablassend behandelt, was ihn kränkte. Erhard Buschbeck stand jedoch weiter freundschaftlich zu ihm.

Vermutlich schon seit dem letzten Schuljahr kannte Trakl den um 14 Jahre älteren Dramatiker Gustav Streicher. Dieser stammte aus einer Lehrerfamilie im nahen Innviertel, hatte eine Abneigung gegen den Schulbetrieb, absolvierte aber doch eine Handelsakademie in Linz. Nach journalistischen Versuchen begann er Dramen im Stil der Heimatkunst zu schreiben und hatte zunächst in Linz einigen Erfolg. Als er auch in Salzburg gespielt wurde, übersiedelte er dorthin. Er verstand sich bald gut mit Trakl und wollte die literarischen Ambitionen des jungen Freundes fördern. Dafür benützte er seine Beziehungen zum Salzburger Stadttheater, dessen neuen Intendanten er kannte. Durch ein gemeinsames journalistisches Auftreten sollte dieser auf Trakl aufmerksam gemacht werden. Sie schrieben zur Vorbereitung einer Aufführung von Karl Schönherrs Drama Familie jeweils eine Rezension, Streicher im einflussreicheren Salzburger Volksblatt, Trakl in der Salzburger Zeitung. Das wiederholten sie zwei Monate später Anfang März 1906 bei der Erstaufführung von Oscar Wildes Salome. Die Taktik hatte Erfolg: Im selben Jahr nahm der Theaterdirektor Trakls dramatisches Stimmungsbild Totentag ins Programm auf; am 31.3.1906 war die erste (und einzige) Aufführung. Von den vier Besprechungen in Salzburger Zeitungen waren zwei kritisch-neutral, eine abwertend-bösartig (Salzburger Chronik), eine positiv. Letztere stand im Salzburger Volksblatt, war auch nicht unkritisch, lobte aber die Sprache, in der sich »ein schönes und vielversprechendes Talent« äußere (HKA II, 514 f.). Nur aus diesen Besprechungen wissen wir etwas über den Inhalt, denn Trakl hat nach dem Misserfolg des zweiten Stückes alle Textbücher, auch die Zensurexemplare, vernichtet.

Der zweite Einakter Fata Morgana wurde am 15.9.1906 gezeigt. Dieses Stück wurde durchwegs ablehnend besprochen. Der mit dem Verfasser bekannte Lehrer und Dramatiker Hans Seebach schrieb in einer Linzer Zeitung: »Georg Trakl besitzt auch nicht die leiseste Ahnung, was zu einer Bühnenszene nötig ist. […] diese Idee reicht für ein lyrisches Gedicht, aber nicht für eine dramatische Szene« (Sauermann 1991, 108). Möglicherweise hat sich Trakl diese Kritik zu Herzen genommen, denn er hat keine weiteren dramatischen Texte mehr veröffentlicht, auch wenn er sich noch an solchen versucht hat. Von den drei bekannten wurde durch mehrere Aufführungen nach 1970 am wichtigsten das 1909/10 entstandene, Fragment gebliebene Puppenspiel »Blaubart«, in dem aggressive, erotische und religiöse Elemente miteinander verknüpft sind. Buschbeck berichtet von einem nicht erhaltenen Puppenpiel »Kaspar Hauser«, dessen »verzückte, frühlingswarme Primitivität« von eigentümlichem Reiz gewesen sein soll (Buschbeck 1910b, 821). Diese historisch-legendenhafte Gestalt aus dem 19. Jahrhundert war für Trakl eine wichtige Identifikationsfigur.

In den beiden aufgeführten Einaktern beschäftigte sich Trakl mit dem Thema der Geschlechterbeziehung. In Totentag erfährt ein blinder Sohn namens Peter, dass Grete, die ihn gepflegt hat, nun wegen ihrer bevorstehenden Heirat das Haus verlassen soll; ihm droht deswegen geistige Umnachtung. Warum in der Kritik der Salzburger Chronik Grete als Schwester Peters bezeichnet wird, ist unklar, aus dem Theaterzettel geht das jedenfalls nicht hervor. Möglicherweise wusste der Rezensent von Trakls Schwärmerei für seine jüngste Schwester, die jedenfalls unter Freunden kein Geheimnis war. Ein Mitschüler berichtete, dass sie für Georg in der Gymnasialzeit das »schönste Mädchen, die größte Künstlerin, das seltsamste Weib gewesen« sein soll (Spoerri 1954, 39). In der Erinnerung des Bruders Fritz war Grete »ein vergnügtes junges Mädchen, bis sie später ganz unter seinen [d. h. Georgs] Einfluß geriet. Sie las alle seine Bücher mit, und sie steckten viel zusammen« (Bondy 1952, 9). Zwischen ihnen herrschte früh ein grundlegendes Einverständnis und Vertrauen, begleitet von einer »Tendenz zur Überhöhung des anderen« (Stark 1989, 199). Sie waren sich nicht nur äußerlich ähnlich, sie entwickelten Wunschbilder voneinander: Georg der Dichter, Grete die Pianistin.

Einen Erfolg brachte die Aufführung der beiden Einakter immerhin: Das Salzburger Volksblatt druckte mehrere Prosatexte Trakls. Der erste, »Traumland. Eine Episode«, erschien am 12.5.1906. In neuromantischer Manier schrieb Trakl darin über die unausgesprochene Liebe eines Jungen zu einem todkranken Mädchen. Um die Themen Askese und Sinnlichkeit kreisen der dramatische Dialog »Maria Magdalena« und der Prosatext »Barrabas. Eine Phantasie«, beide im Sommer 1906 im Salzburger Volksblatt erschienen. Der Einfluss von Otto Weiningers 1903 erschienenem Buch Geschlecht und Charakter ist sehr wahrscheinlich (vgl. Doppler 2001, 148 ff.).

Trakls Versuch, sich in der Salzburger Öffentlichkeit als Dramatiker zu zeigen und damit auch sein schulisches Versagen wettzumachen, war also gescheitert. 1906 erschien noch ein Prosatext in neuromantischem Stil mit dem Titel »Verlassenheit«, 1907 eine Rezension zu Wilhelm Meyer-Försters Alt-Heidelberg und – als erste lyrische Publikation – das Gedicht »Aufforderung« in einer Kremser Maturazeitung. Ein ehemaliger Mitschüler dürfte der Vermittler dieses »Original-Beitrages« gewesen sein (ITA I, 104 und DuB 177). Sonst war aber diese Zeit eher eine Phase der Selbstkritik, in der er »Bescheidenheit mit sich« gelernt habe (Buschbeck 1917, 11). In der Beschäftigung mit weiteren Autoren erweiterte er seine Kenntnisse in der Lyrik und sein dichterisches Instrumentarium. Dazu zählte auch eine Leitfigur des Wiener Fin de siècle-Literatur, der poète maudit Paul Verlaine, zu dem er in Dichtung und Leben Anknüpfungspunkte finden konnte: Gefühl der Zerrissenheit, Mythos der ›reinen Kindheit‹, Alkoholrausch, Hassliebe zur Mutter, Madonnenkult, Musik als poetisches Gestaltungsprinzip.

Nach und neben Verlaine beschäftigte sich Trakl auch schon mit Arthur Rimbaud. Er lernte dessen Dichtungen in den Übertragungen von K. L. Ammer kennen, der sie 1907 mit einem Vorwort von Stefan Zweig herausgebracht hatte. Sein Einfluss wurde jedoch erst später, etwa ab 1912, stärker wirksam. Deutliche »Einklänge« kamen in den frühen Gedichten auch von Hugo von Hofmannsthal, von dem er mehrere Bücher besaß (HKA II, 727). Als Trakl 1908 im Salzburger Volksblatt das Gedicht »Das Morgenlied« veröffentlichte, wurde deutlich, dass er auch Hölderlin gelesen hatte. Auch wenn er dessen pathetischen Ton nicht weitergeführt hat, blieb dieser Dichter in seinem Werk präsent. Das erst vor kurzem aufgefundene Gedicht »Hölderlin« ist ein augenfälliger Beweis dafür.

Das Ende der Praktikantenzeit war um die Jahreswende 1907/08 in Sicht. Schon im Februar 1908 legte er die Tirocinalprüfung, eine Art Vorexamen, frühzeitig ab und erhielt dafür ein vorläufiges Zeugnis, das ihm wegen der bevorstehenden Musterung wichtig war. Er beantragte damit die Absolvierung des Einjährig-Freiwilligen-Jahres nach dem Pharmazie-Studium. Bei der Musterung am 27.4. wurden auch einige äußere Merkmale Trakls im Protokoll festgehalten (Abb. 1.3): Demnach waren seine Augen und Haare braun, das Gesicht oval, das Kinn spitz und seine Körpergröße ist mit 1,71 m angegeben (Haupt-Grundbuchblatt).

Im Sommer 1908 beschäftigte Trakl die bevorstehende Übersiedlung nach Wien . Einerseits dürfte er sich darauf gefreut haben, andererseits hatte er gegenüber den Großstadtverhältnissen ein Gefühl der Unsicherheit. Vorläufig war er aber noch als einziger der Söhne zu Hause in Salzburg. Die Brüder waren auf Reisen. Die älteste Schwester Maria war nach ihrer gescheiterten Ehe wieder zurück aus Graz; Georg hatte sie mit einem Lenau-Zitat trösten wollen (DuB 510). Hermine bereitete sich auf die bevorstehende Hochzeit vor und Grete wird die Sommerferien daheim verbracht haben. Mit dem Schuljahr 1908/09 sollte sie in die Akademie für Musik und darstellenden Kunst eintreten. Auch ihr standen also – wie Georg – größere Veränderungen bevor. Sie erhielt von ihm Gustave Flauberts Roman Madame Bovary mit einer Widmung, die über sein Verhältnis zu ihr einiges aussagt: »Meinem geliebten kleinen Dämon, der entstiegen ist dem süßesten und tiefsten Märchen aus 1001 Nacht. in memoriam! Georg. Salzburg, im Sommer d. J. 1908« (DuB 504).

Abb. 1.3
figure 3

Georg Trakl 1908; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Wiener Jahre

Ende September 1908 zog Trakl nach Wien. Innerhalb von drei Jahren absolvierte er dort das zweijährige Studium der Pharmazie und brachte den Militärdienst hinter sich. In der Begegnung mit Strömungen und Repräsentanten der Wiener Moderne konnte er seine literarische Entwicklung voranbringen.

Im ersten Studienjahr wohnte er zunächst im 9. Bezirk, später wechselte er wie viele der Studierenden die Unterkunft. Er inskribierte am 5. Oktober 1908 an der philosophischen Fakultät die Fächer Experimentalphysik, Chemie und Botanik, im zweiten Jahr dann an der medizinischen die pharmazeutische Chemie, Pharmakognosie und die dazu gehörigen Übungen. Über seine Erfahrungen mit dem Studium hat Trakl sich nicht geäußert. Es scheint für ihn eine unvermeidliche Notwendigkeit gewesen zu sein, die er zu den »kommunen Sorgen« (DuB 518) zählte. Bestandene Prüfungen erwähnte er nur nebenbei.

Aus zwei Briefen an seine Schwestern Minna und Maria vom Herbst 1908 erfährt man etwas über seine innere Befindlichkeit; sie klingen wie Hilferufe eines Bedrängten (DuB 513 f. und 514 f.). Trakl musste sein Leben erstmals ohne den Rückhalt des Elternhauses organisieren. Grete kommt in den Briefen nicht vor. Sie wohnte wahrscheinlich weiter im Internat Notre Dame de Sion und hatte wegen der strengen Regeln dort kaum Gelegenheit, Georg zu treffen (vgl. Bax 2014, 101). Anfang September belegte sie an der k.k. Akademie für Musik und darstellende Kunst das Hauptfach »Klavier, II. Jg.« bei dem angesehenen Lehrer Paul de Conne; sie muss also schon zu den Fortgeschrittenen gehört haben. Bald besuchte sie jedoch den Unterricht unregelmäßig, ab März 1909 gar nicht mehr und dürfte dann nach Hause gefahren sein. Die »Übertritts- oder Reifeprüfung« konnte sie jedenfalls nicht machen.

Trakl freute sich, wenn er Freunde oder Bekannte aus Salzburg treffen konnte. Einige ehemalige Mitschüler studierten ebenfalls in Wien: Karl Minnich (Jus) und Franz Schwab (Medizin). Vor allem Minnich scheint ein großes Verständnis für Trakl gehabt zu haben; er versuchte immer beruhigend auf ihn einzuwirken und sollte für Streicher und auch für die Mutter Trakls Vermittlerdienste leisten (HKA II, 778 f.).

Bei Treffen mit Salzburger Bekannten spielte Literatur, im Unterschied zum Weingenuss, kaum eine Rolle. Man suchte Lokale in der näheren Umgebung auf; beliebt war der Urbani-Keller am Hof, auch der Rathauskeller und der Zetkeller werden erwähnt. In das Café Central ging er später nur, wenn ihn Buschbeck dorthin mitnahm, denn »mit Literaten oder irgendwelchen Gesellschaftsmenschen verkehrte er niemals« (Erinnerung 1966, 141). Trakl mied den Umgang mit fremden Menschen aus Scheu oder auch aus Angst vor Missverständnissen. Von klaustrophobem Verhalten, beispielsweise bei Zugfahrten, berichtete Franz Zeis (HKA II, 714), was später auch Ludwig von Ficker miterlebte, als er Trakl nicht dazu bewegen konnte, in die Innsbrucker Hungerburgbahn zu steigen. Bahnfahrten müssen für ihn anstrengend gewesen sein und er war oft unterwegs: zwischen Salzburg und Wien 6–12 Stunden und später zwischen Innsbruck und Salzburg 6–8 Stunden.

Das offizielle Wiener Kulturangebot hat Trakl kaum wahrgenommen. Einmal erwähnt er einen Opernbesuch (DuB 515); zusammen mit dem ehemaligen Mitschüler Anton Moritz sah er von einem Stehplatz aus Wagners Tristan und Isolde unter dem Dirigenten Gustav Mahler (vgl. Moritz 1962). Wegen der Verklärung des Todes soll er diese Oper besonders geliebt haben.

Neben den Anforderungen des Studiums war Trakl literarisch sehr aktiv. Zu Ostern 1909 zeigte er Buschbeck in Salzburg seine neuesten literarischen Arbeiten und dieser meinte dazu in einem Brief: »Trakl hat jetzt wundervolle Gedichte« (HKA II, 659). Zwei davon wurden auch im Salzburger Volksblatt publiziert (»An einem Fenster« und »Die drei Teiche in Hellbrunn«). Buschbeck war schon früh von der Qualität der Gedichte des Freundes überzeugt. Er schickte das Gedicht »Melusine«, zwar mit Trakls Namen, aber zu dessen Beruhigung unter seiner eigenen Adresse an die Wiener Zeitung Die Zeit und an Westermanns Monatshefte. Beide haben das Gedicht nicht genommen. Er empfahl ihm auch, sich in den Kürschner’schen Literaturkalender aufnehmen zu lassen – vergeblich, denn Reklame in eigener Sache war Trakl kein Anliegen.

Von Salzburg aus empfahl Buschbeck seinen Freunden in Wien den Besuch der »Internationalen Kunstschau 1909«. Sie folgten seinem Hinweis und begegneten dort Werken des Malers und Dramatikers Oskar Kokoschka. Ausgestellt waren dessen Blätter zum »Weißen Tiertöter« (von Buschbeck als »Indianerbücherillustrationen« bezeichnet); im Gartentheater der Kunstschau sahen sie am 4.7.1909 die Uraufführung von Kokoschkas sadomasochistischem Drama Mörder, Hoffnung der Frauen. Trakls Reaktion war, wie man einem Beitrag auf einer gemeinsam mit den Freunden verfassten Karte entnehmen kann, ablehnend, was an der wortspielerischen Gleichsetzung von Kokoschka mit französisch »cochon! cochon!« deutlich wird (HKA I, 475). Durch die »fürchterlichsten Möglichkeiten« (DuB 513) der nackten Triebhaftigkeit und der angesprochenen Inzest-Thematik sah er sich selbst bedroht.

Der Frühling 1909 war für Trakl eine literarisch sehr produktive Zeit. Im Juni schrieb er geradezu euphorisch an Buschbeck von »gesegnete[n] Tagen« (DuB 516 f.). Das Ergebnis war eine Zusammenstellung von Gedichten, der Sammlung 1909. Buschbeck versuchte, auf diese Gedichte aufmerksam zu machen und wandte sich an den mit ihm befreundeten Hermann Bahr, den auch Trakl für einen bedeutsamen Kritiker hielt (DuB 517). Zusammen besuchten sie Bahr in Ober-St.-Veit; er nahm drei Gedichte für das Neue Wiener Journal (»Einer Vorübergehenden«, »Vollendung« und »Andacht«). Dies war die erste Publikation Trakls außerhalb seiner Geburtsstadt (DuB 518). Das Salzburger Volksblatt war stolz auf diesen Erfolg eines »Talent[s] von eminenter Bedeutung« und druckte die Gedichte nach. Bahr setzte sich nicht weiter für Trakl ein, er erinnerte sich aber später noch an seine »Todesahnung« (ITA V.1, 101). Es gelang Buschbeck nicht, für die Gedichte einen Verleger zu finden. Trakl selbst legte später keinen Wert mehr darauf und meinte in einem Brief an Buschbeck, es wäre ihm am liebsten, wenn er ihm diese »verfluchten Manuskripte« zurückgeben würde (DuB 524). Buschbeck behielt sie jedoch bei sich und veröffentlichte sie 1939 in dem Band Aus goldenem Kelch. Die Jugenddichtungen. Die Manuskripte verbrannten bei einem Bombenangriff im Burgtheater, wo Buschbeck in leitender Stellung tätig war.

Das erste Studienjahr schloss Trakl erfolgreich ab, im Fach Chemie sogar mit ausgezeichnetem Erfolg (vgl. HKA II, 660). Nach den Sommerferien in Salzburg fuhr er Anfang Oktober 1909 wieder nach Wien. Minnich hatte ihm ein neues Quartier im 8. Bezirk besorgt (Langegasse 60/III/18). Er inskribierte am pharmakognostischen Institut eine Vorlesung über Pharmakognosie (fünfstündig) und chemische Übungen (15-stündig), die ihn im Wintersemester 1909/10 am stärksten beanspruchten.

Buschbeck hatte mittlerweile in Gmunden maturiert und kam jetzt auch nach Wien, um Jus zu studieren; seine kulturellen Interessen ließen ihn dieses Ziel aber bald aus den Augen verlieren. Er wohnte ebenfalls im 8. Bezirk. Auch Grete war wieder in Wien. Sie wohnte aber nicht mehr im Internat, sondern hatte ein Privatquartier im 4. Bezirk und wollte ihre Musikstudien im Privatunterricht fortsetzen; an der Musikakademie war sie nicht mehr eingeschrieben. Grete kannte Buschbeck zumindest flüchtig aus Salzburg und wollte während des nun folgenden siebenmonatigen Aufenthaltes in Wien das Verhältnis enger gestalten. Sie drückte diese Absicht spontan in Briefen an ihn aus: »Sagen Sie mir das Losungswort mit dem man in Ihre Festung eindringen kann. Sie wagen gar nichts« (Langen 2005, 213). Buschbeck reagierte reserviert auf diese Avancen, geriet deswegen aber doch in starke innere Spannungen, von denen er seinem Freund Moritz berichtete (vgl. Buschbeck 1910a). Sie klagte selbst über ihre Launenhaftigkeit und charakterisierte sich mit folgendem Bild: »Zu meinem Karakter würde eine knochige Hand mit langen, spitzen Nägeln passen. Ich zerstöre mir selbst alles« (Langen 2005, 214). Grete ist in dieser Zeit mit Drogen bekannt gemacht geworden. Als Lieferant kommt in erster Linie Georg in Frage, aber auch Buschbeck scheint als solcher tätig gewesen zu sein. Dass Buschbeck sie nicht mehr besuchen durfte, wird auf ihre Quartiergeberin zurückzuführen sein. Also trafen sie sich bei Georg, der ihre Gefühle dem Freund gegenüber offenbar respektierte. Die Annäherungsversuche Gretes an Buschbeck hielten später auch in Salzburg an und sie hatte im Sommer 1913 in einer »Affäre« auch Erfolg. Buschbeck wusste sicherlich am besten über Gretes Verhältnis zu Georg Bescheid. Er umschrieb es mit der Wendung von der »zärtlichen und zornigen Sorge« (Buschbeck 1917, 17), mit der Georg seine Schwester umgeben haben soll. Dass es eine inzestuöse Beziehung war, hat er aus langjähriger und guter (im Fall Gretes auch intimer) Kenntnis beider stets zurückgewiesen.

Als 1938 der Innsbrucker Karl Röck, ein Freund Trakls und Herausgeber der ersten Gesamtausgabe 1918, für eine im Otto Müller Verlag in Salzburg geplante Gesamtausgabe der Werke Trakls in einem Entwurf für ein Vorwort von einer »erbarmungswürdig schuldvollen, in den Folgejahren schwer gebüßten Annäherung/Gemeinschaft beider« (er schwankte in der Formulierung) schrieb, protestierte Buschbeck nach Rücksprache mit Minnich »nicht etwa aus irgendeiner Prüderie, die der Wahrheit nicht ins Gesicht zu sehen vermag, sondern im Namen eben der Wahrheit, von der wir eindeutige Zeugen waren. Durch die Sätze, wie sie bei Ihnen stehen, würde das Bild Trakls für immer entstellt werden und sein Wesen wie das Wesen seines Gedichtes dem Missverständnis ausgesetzt sein. Zwischen Trakl und seiner Schwester Grete hat es niemals so etwas wie eine Blutschuld gegeben, was diesbezüglich in Gedichten steht ist lediglich ein Aufrücken von Gedankensünde, die niemals in die Realität herübergegriffen hat. […] seine Schwester Grete, mit der wir wirklich befreundet waren, war in erotischen Dingen von solcher Offenheit, daß sie eine solche Sache keineswegs verschwiegen hätte« (Weichselbaum 2005, 49). Diesen Brief zeigte Röck Ludwig von Ficker, der an der Herausgabe mitbeteiligt war. Ficker reagierte mit einem Brief an Buschbeck, in dem er den Entwurf als ein »peinliche[s] Elaborat von Hirngespinsten« (Ficker 1938, 1) bezeichnete. Damit widersprach Ficker deutlich seiner Auskunft in einem Brief vom 28.1.1934 an den Dissertanten Werner Meyknecht, der häufig als einziger außerliterarischer Beweis für einen vollzogenen Inzest zwischen Georg und Grete angeführt wird (vgl. Ficker 1967, 116 ff.). Auch Trakls und Buschbecks Freund Anton Moritz bezeichnete 1964 die Inzestbehauptung als »verleumderisch« (Weichselbaum 2014, 194).

1909 werden in den vier Mitteilungen Trakls an Buschbeck die gemeinsamen Unternehmungen in Wien und Salzburg erwähnt, für die Buschbeck manchmal das Wort »wüst« verwendete, also meist alkoholische Symposien. Sie machten auch einen Ausflug in den Prater, wo sich Georg und Grete von einem Silhouettenschneider porträtieren ließen, oder fuhren auf einem Schiff donauabwärts nach Preßburg – ohne Grete, die schon Ende April 1910 nach Hause gefahren war. Buschbeck folgte ihr Anfang Mai und beschäftigte sich mit der von der Zeitschrift Der Merker geplanten Doppelnummer zum Thema »Salzburg«, die Ende Juli zu den Mozartspielen erscheinen sollte. Er vermittelte Trakls erste Fassung von »Die drei Teiche von Hellbrunn« und schrieb einen Aufsatz über »Salzburgs Kultur aus Vergangenheit und Gegenwart«, in dem er Trakl zu den Schöpfern einer »nachdenklich-verträumten Lyrik« zählte (Buschbeck 1910b, 821). Grete bemühte sich weiter um ihn, lud ihn zu einer Radpartie nach Hellbrunn ein oder führte den schwerkranken Vater als Grund an, bei einem Spaziergang mit ihm »ein wenig Erleichterung« zu finden (Langen 2005, 216). Im Juli dürfte dann die Entscheidung gefallen sein, dass sie ihre Ausbildung zur Pianistin in Berlin fortsetzen werde. Möglicherweise hat sie davon Georg in einem »kleinen Brief« geschrieben, was diesen zu einer depressiven Mitteilung an Buschbeck veranlasste: »Ich möchte mich gerne ganz einhüllen und anderswohin unsichtbar werden« (DuB 518).

Heftig reagierte Trakl, als er sich von dem mit Buschbeck befreundeten Ludwig Ullmann recht plump nachgeahmt fühlte. Dieser hat ihm einen Text vorgelesen, den er als Plagiat des eigenen Gedichts »Der Gewitterabend« empfinden musste, weswegen er »mehr als peinlich berührt« war (DuB 519). Er empörte sich darüber in einem Brief an Buschbeck und beschrieb darin sein poetisches Verfahren als seine »bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet«, die »heiß errungene Manier« seiner Arbeiten (DuB 519). Diese ›Plagiatsaffäre‹ zeigt, wie sehr sich Trakl seiner literarischen Mittel bewusst war. Mit Ullmann söhnte er sich bald aus (Ullmann 1948) und im Briefverkehr mit dessen Braut Irene Amtmann sind sympathische Schwingungen zu spüren (DuB 526 und HKA II, 747).

Kurz zuvor war am 18.6.1910 der Vater im 74. Lebensjahr an »Herz-Degeneration« gestorben. Von einer schweren Erkrankung des Vaters ist den Briefen Trakls nichts zu entnehmen. In der Bildwelt von »Traum und Umnachtung« hat diese Erfahrung jedoch deutliche Spuren hinterlassen (DuB 150). Der Leichnam wurde vom evangelischen Pfarrer am 20.6. eingesegnet und dann nach Ulm zur Kremation übergeführt. (In Salzburg wurde erst 1931 ein Krematorium errichtet.) Trakl war bei der Einsegnung anwesend, fuhr aber kurz darauf wieder nach Wien, da die Abschlussprüfungen bevorstanden.

Tobias Trakl hatte kein Testament hinterlassen, die Erbschaft musste von der Mutter geregelt werden. Sie wollte den Stiefsohn Wilhelm mit der Geschäftsführung beauftragen, ließ deswegen die noch minderjährigen Söhne Georg und Fritz für großjährig erklären und übernahm zusammen mit Wilhelm die Vormundschaft für Grete. Wilhelm erhielt Ende Juli die Vollmacht zur Vertretung der Erben. Für Georg bedeutete das, materiell von seinem Halbbruder abhängig zu sein. Das war ihm so unangenehm, dass er lieber Buschbeck bat, ihm mit 30 Kronen aus einer »unsäglich peinlichen Verlegenheit [zu] helfen« (DuB 519), wozu der Freund nicht in der Lage war.

Im Juli 1910 machte Trakl in Wien die praktischen und theoretischen Abschlussprüfungen. Das Fach Chemie absolvierte er mit »ausgezeichnetem Erfolg«, die Gesamtbeurteilung war ein »Genügend«. Mit einem Diplom in lateinischer Sprache (Datum: 21.7.) wurde er am 25. Juli zum Magister der Pharmazie spondiert. Noch am selben Tag reiste er wegen einer Unterschriftsleistung bei Gericht am folgenden Tag nach Salzburg.

Erstaunlich ist, dass der Frühsommer 1910 trotz der starken Belastungen durch den Tod des Vaters und die Prüfungen eine literarisch produktive Zeit war. Es entstanden 13 Gedichte, darunter neben »Der Gewitterabend« sehr bekannte wie »Die Raben« und »Die schöne Stadt«. Auch am balladenartigen Text »Die junge Magd« arbeitete er in dieser Zeit; in »De profundis« (I) sind Bilder zu finden, die mit dem Tod des Vaters zusammenhängen. An Karl Kraus schrieb er einen Brief, ohne sich von ihm viel zu erwarten (DuB 521). Er war auf der Suche nach Orientierung. Kontakte zu Hermann Bahr und Stefan Zweig (über Ludwig Ullmann) endeten enttäuschend.

Die Sommermonate 1910 in Salzburg verliefen ohne größere Ereignisse. Ernst von Dohnányi, der spätere Klavierlehrer Gretes in Berlin, dirigierte im Rahmen der Mozartfeier am 31. Juli ein Festkonzert. Bei der Verlassenschaftsverhandlung hatte sich herausgestellt, dass die Firma Trakl überschuldet war, die Erben also nichts zu erwarten hatten. Die Mutter wurde Besitzerin der Firma und des Hauses, Wilhelm der Geschäftsführer.

Am 1.10.1910 war Trakl wieder in Wien, um seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger zu leisten (Abb. 1.4). Nach der Grundausbildung von sechs Wochen außerhalb Wiens wurde er der k.u.k Sanitätsabteilung Nr. 2 in der Rennwegkaserne zugewiesen. Da er den Militärdienst »auf eigene Kosten« bewilligt erhalten hatte (HKA II, 665), musste er sich selbst um ein Quartier kümmern. Er bezog eine auf ihn deprimierend wirkende Unterkunft in der Josefstädterstraße (vgl. DuB 522). Von dort schrieb er seinem Bruder Fritz, der in Südtirol ebenfalls beim Militär war, und bedauerte, dass er »von daheim selbst, wie je, keine Nachrichten« erhalten habe. Die Nachrichten von Grete aus Berlin bezeichnete er als »exzentrische Episteln«. Vom Militärdienst erwartete er sich nichts; er wollte in seiner »beschaulichen Klause dieses Jahr abrollen« lassen (DuB 522). Seine militärische Laufbahn folgte den üblichen Gepflogenheiten: im Dezember wurde er zum Gefreiten und im März 1911 zum Korporal befördert. Erst nach dem Ende des Militärdienstes wurde er am 1. Dezember 1911 zum »Landwehrmedikamentenakzessisten im nichtaktiven Stande« ernannt (HKA II, 668).

Abb. 1.4
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Brustbild 1910; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

In der Freizeit traf er sich mit den alten Freunden. Das Verhältnis zu Schwab wurde (auf alkoholischer Basis) enger, Buschbeck entfernte sich von der Gruppe etwas, weil er sich immer stärker im »Akademischen Verband für Literatur und Musik« engagierte. Dieser war ein Forum des ›anderen Wien‹, gerichtet gegen Jugendstil, Fin de siècle und das ›Juste milieu‹ (vgl. Klettenhammer 1990, 140). Buschbeck trat dem Verband 1910 bei und stand ihm 1912/13 vor. In dieser Zeit hatte das Forum großen Zulauf. Es gab Konzerte zeitgenössischer Komponisten (Webern, Berg, Schreker, Schönberg) und Vorträge beispielsweise von Adolf Loos, Oskar Kokoschka und die ersten Lesungen von Karl Kraus. Dass Trakl an Veranstaltungen des Verbands teilgenommen hat, ist wegen der freundschaftlichen Beziehungen anzunehmen. Seine Reaktion auf einen Zeitungsbericht von einem skandalösen Vorfall bei einem Schönberg-Konzert am 31.3.1913 (›Watschen-Konzert‹) zeigt, wie sehr ihn derartiges beschäftigte (DuB 545).

Die ästhetischen Neuerungen im literarischen Bereich fanden vor allem in den Beiträgen der vom Verband herausgegebenen Zeitschrift Der Ruf ihren Niederschlag. Eine Grundtendenz war die Abwendung vom Ästhetizismus und die stärkere Hinwendung zu konkreten Zuständen und Entwicklungen in der Gesellschaft. Die einzelnen Nummern waren meist thematisch ausgerichtet; für drei davon lieferte Trakl Beiträge: »Heiterer Frühling«, »Trompeten« und »Im Dorf«. Mit dem »Akademischen Verband« hatte Trakl auch nach seinem Weggang aus Wien noch einen lockeren Kontakt, der aber dann von den Beziehungen zum Brenner überlagert wurde. Eine vom Verband geplante Lesung Trakls in Wien kam nicht zustande, weil sich Buschbeck aus dem Vorstand des Vereins zurückgezogen hatte (ITA V.2, 539). Während des Freiwilligenjahres war Trakls literarische Produktion sonst gering.

Wartezeit

Am 30.9.1911 konnte Trakl den Militärdienst beenden; er fuhr sogleich nach Hause. Nun ging es darum, eine berufliche Absicherung zu finden, was der Familie, vor allem Wilhelm, ein besonderes Anliegen war; er wollte weitere finanzielle Belastungen vermeiden. Das Problem der Vereinbarkeit von beruflicher und dichterischer Existenz wurde für Trakl jetzt akut. Auf die Frage, wann Trakls Depressionen begonnen hätten, meinte später sein Bruder Fritz: »Das war erst nach seinem Jahr als Einjähriger. Da wurde es schlimm mit ihm« (Bondy 1952, 9).

Trakl war aber nicht untätig: Er bewarb sich innerhalb der nächsten beiden Jahre viermal um eine Stelle bei Ministerien in Wien und bemühte sich zweimal um einen Posten im Ausland. Die erste Bewerbung schickte er am 10.10.1911 an das Ministerium für öffentliche Arbeiten und bat um eine Stelle als Praktikant in der Sanitäts-Fachrechnungsabteilung. Es dauerte dann fast ein Jahr, bis ihm diese Stelle verliehen wurde. Trakl musste warten.

Angesichts seiner schlechten finanziellen Lage arbeitete er für zwei Monate in der Apotheke »Zum weißen Engel«, seinem ehemaligen Praktikumsplatz. Anschließend bewarb er sich – nach seiner Ernennung zum Militärmedikamentenakzessisten der Reserve am 1. Dezember – beim Kriegsministerium um eine Stelle als Militärmedikamentenbeamter. Dieses Ansuchen wurde mit einem positiven Bescheid beantwortet und führte Trakl schließlich zum 1.4.1912 nach Innsbruck (Abb. 1.5). Bis dahin blieb er in Salzburg.

Abb. 1.5
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Trakl in Uniform 1912; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Er traf sich in dieser Zeit mit Mitgliedern der »Salzburger Literatur- und Kunstgesellschaft Pan«, die im »revolutionierenden Sinn künstlerisch tätig sein« wollte (Hanisch/Fleischer 1986, 137), unter anderem mit Karl Hauer, einem Mitarbeiter der Fackel, der in seinen 1910 erschienenen Essays Ideen einer dionysischen Sinnlichkeit vertrat. Hauers Lebensstil eines bürgerlichen Außenseiters hat Trakl angezogen. Das Interesse an Karl Kraus verband beide. Trakl widmete Hauer das Gedicht »Allerseelen«, dieser war ihm später beim Verkauf seiner Bücher behilflich, als er in München eine Buchhandlung betrieb (HKA II, 767).

Um in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen zu werden, gaben die jüngeren Mitglieder der »Pan«-Gesellschaft ein literarisches Sammelwerk unter dem Titel Salzburg heraus (Salzburg 1913). Textbeispiele von 25 Autoren (vier davon weiblich) waren darin zu lesen. Trakl war von den Lyrikern mit vier Gedichten am stärksten vertreten.

Neben der Ungewissheit über seine berufliche Zukunft belasteten ihn die aufreibenden Familienstreitigkeiten wegen der Schwester Grete. Sie verleideten ihm den Aufenthalt in Salzburg, »dieser verfluchten Stadt« (DuB 527). Grete hatte sich zu Ostern 1911 in Berlin mit dem um 34 Jahre älteren Arthur Langen, einem Neffen ihrer Quartiergeberin, verlobt, benötigte aber für die Eheschließung das Einverständnis ihrer Vormünder, da sie noch nicht 24 Jahre alt und damit minderjährig war. Vormünder waren die Mutter und Wilhelm, der aber wegen des Altersunterschiedes und enttäuschender Erfahrungen bei einem Berlin-Besuch diese Aufgabe nicht mehr wahrnehmen wollte. An seine Stelle trat Georg, der nicht ablehnend eingestellt war, da Grete »schon seit ihrem 12. Lebensjahr immer selbständig« gewesen sei (Weichselbaum 2014, 103). Nach einer Bedenkzeit von zwei Monaten hatte auch die Mutter keine Einwände mehr. Ein Druckmittel Arthur Langens war sein Hinweis auf die Finanzierung der weiteren musikalischen Ausbildung Gretes, die er nur als Ehemann garantieren wollte. Angesichts der finanziellen Lage der Firma war das ein gewichtiges Argument. Trakls Vorstellung von seiner Schwester als großer Künstlerin hat ihm die Zustimmung nahegelegt. Das Gericht erklärte sie daraufhin trotz einiger Bedenken der Beamten für volljährig. Grete Trakl und Arthur Langen heirateten am 17. Juli 1912 in Berlin.

Die Wartezeit benützte Trakl zu ersten Entwürfen oder zur Fertigstellung von Gedichten, die davon zeugen, dass er auf der Suche nach neuen poetischen Ausdrucksmöglichkeiten war, die von den Kunsttendenzen, wie er sie im »Akademischen Verband« kennen gelernt hatte, beeinflusst waren. Im Jänner 1912 schrieb er an Buschbeck von der ihm jetzt gemäßen Gedichtform: »unpersönlich […] und zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten«, in einer »universellen Form« gestaltet, im Unterschied zur »begrenzt persönlichen« (DuB 526). Im Gedicht »Vorstadt im Föhn« meinte er das verwirklicht zu haben.

Ende März erhielt er die Verständigung, dass er dem k.u.k. Garnisonsspital Nr. 10 in Innsbruck für einen sechsmonatigen Probedienst zugeteilt sei (HKA II, 676 f.). Dienstantritt: 1.4.1912.

Innsbruck – Erfolge als Dichter

Es fiel Trakl nicht leicht, sich mit den Innsbrucker Verhältnissen abzufinden. Er klagte darüber in Briefen an Minnich und Buschbeck, sah sich »in der brutalsten und gemeinsten Stadt, […] die auf dieser beladenen u. verfluchten Welt existiert« (DuB 528), angekommen und setzte sich mit der Fremdlingsgestalt des Kaspar Hauser gleich. Er wohnte in einem Arbeiterviertel im Osten der Stadt, nicht weit weg vom Garnisonsspital. Den Dienst empfand er als anstrengend. Fluchtgedanken sollten ihn entlasten. Buschbeck beließ es nicht bei tröstenden Worten, sondern versuchte, ihn aus dieser trostlosen Situation herauszuholen. Er vermittelte »Vorstadt im Föhn« über Robert Müller, der sowohl Mitarbeiter des Ruf als seit kurzem auch der Halbmonatsschrift Der Brenner war, an deren Herausgeber Ludwig von Ficker, der es sogleich in die Nummer von 1.5. aufnahm. Damit begann eine Reihe von Veröffentlichungen, die zu Trakls Lebzeiten 65 Gedichte umfassen sollte. Der Brenner wurde damit zu seinem beinahe ausschließlichen Publikationsorgan. Buschbeck gab auch den Anstoß zu einem Treffen Trakls mit dem um sieben Jahre älteren Ficker am 22.5. im Café Max(imilian), wo sich die Mitarbeiter der Zeitschrift am Brenner-Tisch häufig trafen. Ficker trat Trakl mit großer Offenheit entgegen. Mit seiner aus Schweden stammenden Frau und den Kindern wohnte er in einer Villa in Mühlau, einem Vorort von Innsbruck. 1910 hatte er die Halbmonatsschrift für Kunst und Kultur Der Brenner für den Dichter-Philosophen Carl Dallago gegründet, jetzt war er auf der Suche nach weiteren Mitarbeitern; in Trakl konnte er einen solchen zumindest vermuten. Die Wertschätzung nahm in der Folge rasch zu, aber das Verhältnis blieb trotz freundschaftlicher Nähe – vor allem in den letzten Lebensmonaten – respektvoll distanziert. In der Anrede ist es beim ›Sie‹ geblieben.

Der Zufall wollte es, dass in der Brenner-Nummer mit Trakls »Vorstadt im Föhn« auf der gegenüberliegenden Seite das Gedicht »Traurigkeit am Abend« von Guido Höld abgedruckt war. Der Name war, in Anlehnung an Friedrich Hölderlin, ein Pseudonym für Karl Röck, der dann mit Trakl in Innsbruck oft zusammen war. Er führte ein Tagebuch, das, wenn auch ein verzerrter Spiegel, so doch eine wichtige Quelle für Trakls Innsbrucker Zeit ist. Der Brenner-Tisch im Café Max war für ihn eine »mündliche Zeitung. Literaturzeitung« (Röck o. J., I, Bl. 13). Zu Trakl geriet Röck bald in eine bewundernde Abhängigkeit. Er traf sich mit ihm entweder allein oder mit anderen Mitgliedern des Brenner-Kreises im Café Max oder in anderen Lokalen der Altstadt. Auf Spaziergängen und Ausflügen wurde über Themen gesprochen, die in der Brenner-Runde gerade aktuell waren. Manche davon waren für Trakl nicht neu wie die Problematik der Geschlechterbeziehung oder Gegenbilder zur bürgerlichen Erwerbswelt. Namen wie Nietzsche oder Weininger waren ihm vertraut; auf Dostojewskij hat vermutlich er hingewiesen.

Verstärkt begegnete er nun dem Thema Christentum, das im Brenner-Kreis eine große Rolle gespielt hat. Eine Folge davon war, dass er dem dichterischen Schaffen zunehmend skeptisch gegenüberstand: »Alle Dichter sind eitel und Eitelkeit sei widerlich«, äußerte er sich bei einem Gespräch in der Stehbierhalle. »Ein paar Worte des Evangeliums haben mehr Leben und Welt und Menschenkenntnis als all diese Gedichte. […] Man kann sich überhaupt nicht mitteilen. Das alles sei Ausspruch« (Szklenar 1966, 227). Die Überzeugung vom absoluten Wert der schöpferischen Arbeit, wie er sie bei Nietzsche kennen gelernt hatte, wurde zwar fragwürdig, aber trotzdem verschaffte ihm das Schreiben noch am ehesten Befriedigung. Die meisten Gedichte, in denen christliche Motive anzutreffen sind, stammen aus der Innsbrucker Zeit.

Das Interesse für Karl Kraus verband Trakl und Ficker, der ein Kraus-Verehrer war. Im Sommer 1912 hielt sich Kraus in der zweiten Augusthälfte länger in Innsbruck auf; dabei ist Trakl persönlich mit ihm bekannt geworden. Er widmete ihm in der Folge drei Gedichte. Kraus reagierte in der Fackel mit dem Aphorismus über die »Siebenmonatskinder« (Erinnerung 1966, 7). Wie beide miteinander umgegangen sind, wissen wir nicht. Ficker meinte, dass Kraus zwar das Ungewöhnliche an Trakl gespürt habe, aber im Grunde genommen nichts Rechtes damit anzufangen wusste (vgl. Ficker 1967, 119 f.). Nach Trakls Tod meinte Kraus: »Es war mir immer unbegreiflich, daß er leben konnte. Sein Irrsinn rang mit göttlichen Dingen […]« (Stieg 1976, 270).

Das Gutachten am Ende des Probedienstes fiel durchwegs positiv aus, wenn auch festgestellt wurde, dass »sein Auftreten noch wenig militärisch« sei (HKA II, 679). Er wurde zur Aktivierung empfohlen. Sein Antrag auf Übernahme als Heeresapotheker zum 1.10.1912 wurde genehmigt. Sein Leben wäre damit materiell abgesichert gewesen, aber eine solche Sicherheit erschien ihm eher als trostlos (vgl. DuB 531). Die verstärkte Flucht in den Alkohol, in die »abendliche Weinheizung« (ebd.) war eine Folge dieser Gemütslage.

Literarisch war der Herbst eine produktive Zeit, der Brenner brachte regelmäßig Gedichte. Der mit Ficker befreundete Maler Max von Esterle zeichnete für das zweite Oktober-Heft eine Karikatur Trakls, die dieser ablehnte (vgl. DuB 532). Trotzdem widmete er einige Monate später dem Karikaturisten das Gedicht »Winterdämmerung«. Im Juli 1913 veröffentlichte Esterle dann eine »Widmung für Georg Trakl«, das sog. »Exlibris«, das Trakls Zustimmung fand (DuB 552).

Eine Möglichkeit, der wenig befriedigenden Tätigkeit in der Heeresapotheke zu entkommen, tat sich Ende Oktober 1912 auf: Er erhielt vom Ministerium für öffentliche Arbeiten einen positiven Bescheid zu seinem Ansuchen um eine Stelle, um die er sich länger als ein Jahr zuvor beworben hatte. Den Dienst dort hätte er am 1.11. antreten sollen. Er musste jedoch vorher sein Dienstverhältnis als Militärapotheker auflösen, weswegen er zweimal um einen vierwöchigen Aufschub bat, der jeweils bewilligt wurde. Ende November wurde er in die Reserve versetzt. Nach acht Monaten war damit die Phase seiner längsten beruflichen Tätigkeit vorbei.

Buschbeck unternahm nach dem versandeten Anlauf von 1909 einen weiteren Versuch, die Gedichte des Freundes in Buchform herauszubringen. Um die finanziellen Voraussetzungen zu schaffen, startete er im Herbst 1912 eine Subskriptionsaktion, deren Erfolg zunächst wenig ermunternd war. Er bat daher Kraus und Ficker, in ihren Zeitschriften dafür zu werben. Zuletzt fanden sich 100 Subskribenten und Buschbeck meinte, dass damit das Erscheinen gesichert sei (vgl. HKA II, 684). Der Verlag war noch unklar. Trakl stellte nach dem Ende seiner Tätigkeit in der Heeresapotheke ein Manuskript ohne besonderen Gesichtspunkt in der Anordnung zusammen, sprach sich aber gegen eine chronologische Reihung aus (DuB 536). Im Dezember lernte Trakl den Schriftsteller Karl Borromäus Heinrich kennen, der bei Ludwig von Ficker zu Gast war. Heinrich arbeitete zu dieser Zeit noch als Lektor beim Verlag Albert Langen in München; bald wurde er ein Freund und Verehrer Trakls. Er schlug vor, Trakls Gedichte dem Langen-Verlag anzubieten. Buschbeck schickte die Gedichte mit dem Titel »Dämmerung und Verfall« an den Verlag, Heinrich gab dazu eine positive Stellungnahme ab, aber die Prüfung durch weitere Instanzen des Verlages führte im März 1913 zu einer Ablehnung.

Ficker hatte mittlerweile schon überlegt, den Gedichtband im »Brenner«-Verlag herauszubringen. Karl Kraus stellte dann aber eine Verbindung zu seinem neuen Verleger Kurt Wolff in Leipzig her. Trakl erhielt daraufhin von dort ein Angebot zu einer Buchpublikation (vgl. HKA II, 789). Er überarbeitete die Zusammenstellung und schickte die Gedichte Mitte April ab. Der Lektor, Franz Werfel, las sie »mit großer Bewunderung« (HKA II, 790). Zunächst wollte der Verlag nur eine Auswahl in der neuen Reihe »Der jüngste Tag« herausbringen, Trakl lehnte diesen Plan jedoch – von Ficker unterstützt – entschieden ab. Kurt Wolff lenkte ein, Trakl nahm noch geringfügige Änderungen vor und Buschbeck schickte die Subskriptionslisten. Anfang Juli 1913 war das Buch mit 49 Gedichten als Doppelband 7/8 in der Reihe »Der jüngste Tag« mit schwarzem Umschlag und grünem Titelschild fertig. Es blieb beim ursprünglichen schlichten Titel Gedichte. Der Preis betrug zwei Kronen (geheftet) bzw. 3 Kronen (gebunden); Auflage: 1000 Stück zu Lebzeiten Trakls. Die Werbung setzte erst im Herbst ein. Es blieb der einzige Gedichtband, den Trakl zu sehen bekam.

Von diesem für ihn erfreulichen Ausgang der Bemühungen Buschbecks konnte Trakl zur Jahreswende 1912/13 noch nichts wissen. Die Aussicht auf die Stelle in Wien verunsicherte ihn. Im Dezember verbrachte er noch etwa zwei Wochen in Innsbruck, zu Weihnachten war er in Salzburg. Ende des Monats fuhr er nach Wien und meldete sich am 31.12. im Arbeitsministerium zum Dienstantritt. Nach Ablegung eines Dienstgelöbnisses verschwand er aber bald aus dem Büro und schrieb am nächsten Tag ein Entlassungsgesuch, dem am 9.1. stattgegeben wurde (HKA II, 697 f.). Schon am 2.1. war er fluchtartig nach Salzburg abgereist und traf sich dort mit Buschbeck, der Trakls Verzicht auf die Stelle mit der Familie, vor allem mit Wilhelm, besprach; dieser soll die Nachricht sehr gefasst aufgenommen haben. Minnich, bei dem Trakl in Salzburg Quartier beziehen wollte, befand sich zu diesem Zeitpunkt in München, also fuhr er zu Ficker nach Innsbruck, der ihn vorübergehend bei sich einquartierte. Als Grund für seine Flucht aus Wien führte er Röck gegenüber seine intensive Arbeit am »Helian« an; es war ihm das »teuerste und schmerzlichste, was ich je geschrieben« (DuB 539), wie er Buschbeck mitteilte. Ficker äußerte sich dazu mit Worten der Bewunderung, ähnlich auch Buschbeck.

Im Jänner blieb Trakl in Innsbruck bei Ludwig von Ficker bzw. dessen jüngerem Bruder Rudolf, dem Besitzer der Hohenburg bei Igls auf dem Mittelgebirge südlich von Innsbruck, wo er noch öfter Unterkunft fand. Mit Röck traf er sich dort bei einem Spaziergang zum Isserwirt in Lans, der später mehrmals ein Ziel gemeinsamer Unternehmungen wurde.

Anfang Februar kehrte Trakl nach Salzburg zurück. Seine Mutter war gerade dabei, das Geschäft aufzulösen. Zwar musste die Firma, wahrscheinlich wegen Fälligkeit größerer Kredite, liquidiert werden, der Haushalt war aber noch nicht betroffen. Das Haus wurde vorerst für eine Vermietung umgebaut, 1917 musste es dann doch verkauft werden. Die Situation empfand Trakl jedenfalls als bedrückend, worüber er sich seinem Verehrer K.B. Heinrich mitteilte (DuB 542). Dieser verfasste für den Brenner eine ins Mystische überhöhte Würdigung des »Bruders« Trakl unter dem Titel »Briefe aus der Abgeschiedenheit II. Die Erscheinung Georg Trakls« (auch in Erinnerung 1966, 99–110), mit der er das Bild des Dichters nicht unwesentlich prägte. Trakl hatte schon vorher eine große Zuneigung zu ihm empfunden, er widmete dem »Freund und gute[n] Bruder« (DuB 503) das Gedicht »Untergang«. Ficker nahm es zusammen mit der Würdigung in dasselbe Brenner-Heft auf. Im Mai trafen sich beide in München und im Jänner 1914 schrieb Heinrich aus Paris einen letzten Brief an Trakl, in dem er ihm seine religiös stilisierte Verehrung bestätigte (HKA II, 772).

Die finanzielle Lage zwang Trakl im Februar 1913, sich doch wieder um eine Stelle zu bemühen. Er arbeitete kurzzeitig in der Apotheke seines ehemaligen Mitschülers Gustav Müller in Oberndorf bei Salzburg, bewarb sich aber dann im März beim Kriegsministerium um eine Stelle als Rechnungskontrollbeamter. Der Berufsoffizier und Schriftsteller Robert Michel kümmerte sich auf Bitten Fickers erfolgreich darum (HKA II, 708).

Ficker ermöglichte Trakl ab April wieder einen – mit Unterbrechungen – längeren Aufenthalt auf der Hohenburg. Dort stellte er die Gedichte für den Kurt Wolff Verlag zusammen und korrigierte Druckfahnen. Geldnot peinigte ihn ständig. Buschbeck schickte ihm 50 Kronen, die er sich selbst ausborgen musste. Durch den Verkauf seiner Bücher an den Münchner Buchhändler Karl Hauer versuchte er zu Geld zu kommen. Er stellte eine Liste der Bücher zusammen, die er abgeben wollte oder noch abzugeben hatte (HKA II, 727).

Der Aufenthalt auf der Hohenburg war für Trakl vergleichsweise erholsam. Er wohnte in einem Zimmer zum Berg hin, hatte ein Klavier zur Verfügung und konnte das schöne Wetter dazu nützen, im nahen Lanser See zu baden. Röck traf ihn manchmal gebräunt an, wenn er mit ihm bei einem Spaziergang zwischen Igls, Lans und Sistrans über Themen sprach, die in der Brenner-Runde gerade aktuell waren. Dazu gehörte auch die Rundfrage zu Karl Kraus, die dem deutschnational orientierten Röck als ›Kraus-Kult‹ mitten in Tirol missfiel. Trakl hatte dazu einen Beitrag geliefert (DuB 123).

Um den 10.6. fuhr Trakl nach Salzburg. Aus der kalten und verregneten Stadt erschienen ihm die Innsbrucker Tage umso heller. Buschbeck war aus Überdruss an den Wiener Verhältnissen zurückgekehrt und froh über einen Gesprächspartner. Die positive Erledigung des Ansuchens beim Kriegsministerium vom März verstärkte Trakls depressive Stimmung. Für ihn war das Bevorstehende ein »Gang ins Dunkel« (HKA I, 520), er litt an Schwindelanfällen. Freunde versuchten ihm zu helfen: Buschbeck war um ein Zimmer in Wien bemüht, Franz Zeis, ein Bekannter aus dem »Akademischen Verband«, organisierte eines. Adolf Loos schickte ihm Geld.

Am 15.7. trat Trakl den Probedienst als Rechnungskontrollbeamter im Kriegsministerium an, aber bald stellte sich heraus, dass diese Beschäftigung nichts für ihn war. Schon etwa am vierten Tag meldete er sich krank und am 12.8. verzichtete er auf dieses »unbesoldete Amt, das reichlich ekelhaft ist« (DuB 553). In Gesellschaft von Karl Kraus traf er in dieser Zeit mit dem um 17 Jahre älteren Adolf Loos zusammen, der sich um eine Stelle für ihn bemühte. In sein Gästebuch schrieb Trakl ein Gelegenheitsgedicht zum heftig diskutierten Haus am Michaelerplatz (DuB 503). Er interessierte sich für den »Geist der Gotik«, bat Buschbeck um Lesenswertes zu diesem Thema und erhielt von ihm Empfehlungen, darunter auch das Buch Die drei Stufen der Erotik von Emil Lucka, das er sich von Ludwig Ullmann ausborgen konnte. Dieser war mit Robert Müller befreundet, der wiederum gemeinsam mit Buschbeck für den Saturn-Verlag in Heidelberg eine Anthologie Jung-Wien plante, zu der auch Trakl nach einigem Zögern sechs Gedichte beitragen sollte; zwei davon waren Erstveröffentlichungen (»Sonja«, »Entlang«). Robert Müllers ablehnende Haltung Karl Kraus gegenüber führte aber dazu, dass Trakl die Beziehungen zum Wiener Literaturbetrieb abbrach, nur in der Zeit und in der Reichspost erschienen noch vier Gedichte. Auch das positive Verhältnis zwischen Müller und Ficker endete damit.

Die für Trakl so wichtige Freundschaft mit Erhard Buschbeck zerbrach in diesem Sommer an dessen Affäre mit Trakls Schwester Grete, verheiratete Langen. Buschbeck hielt sich in Salzburg auf und Grete war manchmal zu Besuch. Vertrauliche Mitteilungen aus dieser Zeit sind ein Hinweis darauf, dass ihre Beziehungen enger geworden sind, wie sich Grete das schon lange gewünscht hatte. Trakl wird davon erfahren haben, reagierte ablehnend, redete den Freund erstmals mit »Lieber Fallot« an (DuB 552) und teilte ihm aus Wien noch mit, dass er nach Venedig »hinunter fallen« werde (DuB 554). Es gibt keinen Hinweis auf einen weiteren Kontakt.

Adolf Loos hatte Trakl nach Venedig eingeladen; es war die erste größere Reise seines Lebens, sie machte ihm Angst. Am 16.8. fuhr er mit Kraus, Loos und dessen Freundin Bessie für etwa zehn Tage in die Lagunenstadt. Ficker kam mit seiner Frau von Innsbruck aus dazu. Die Urlaubsgesellschaft wohnte am Lido, Trakl in der Stadt. Eindrücke davon hat er später im Gedicht »In Venedig« festgehalten. Er ließ sich, wie viele der Badegäste, auch in entsprechender Kleidung am Strand fotografieren.

Da Trakl den Probedienst im Kriegsministerium abgebrochen hatte, war seine weitere berufliche Zukunft wieder ungewiss. Eine Ausschreibung des Arbeitsministeriums für eine Rechnungsassistentenstelle im Sanitäts-Fachrechnungsdepartement stellte eine Möglichkeit dar, es erneut im Staatsdienst zu versuchen. Er schrieb die Bewerbung noch vor der Venedig-Reise, seine Mutter sorgte für die nötigen Unterlagen und die Unterstützung durch den einflussreichen Salzburger Politiker Dr. Sylvester – er war Präsident des Reichsrates – sollte die Bewerbung erfolgreich machen. Die Familie machte sich große Hoffnungen.

Nach der Venedig-Reise fuhr er nach einem kurzen Aufenthalt in Salzburg gleich nach Innsbruck weiter und blieb dort für etwa zwei Monate im Haus Fickers. Er arbeitete intensiv an weiteren Gedichten und war damit, wie er an Franz Zeis in Wien schrieb, sogar »ein wenig zufrieden« (DuB 555). Das Gedicht »Sebastian im Traum« widmete er Adolf Loos, wohl als Dank für seine Venedig-Einladung. Ein Besuch bei dem Bildhauer Othmar Zeller in Solbad Hall war geplant, Trakl musste ihn aber postalisch aus Salzburg absagen, weil er »telegraphisch abberufen« worden sei (ebd.). Es ging der Familie um die Bewerbung vom August, in der sie vermutlich eine letzte Chance für Georg sah. Auch ihm selbst war bewusst, dass er in seinen »Angelegenheiten endlich eine Entscheidung herbeiführen« müsse (ebd.). Er fuhr also von Innsbruck nach Hause und gleich am nächsten Tag weiter nach Wien. Von einem Treffen mit Grete an diesem Tag ist nichts bekannt.

In Wien hatte er starke Depressionen, litt an den Folgen einer Veronalvergiftung und flüchtete in den Alkohol. Das Geld ging ihm aus und als eine Schauspielerin in einem Hörsaal der Universität Gedichte von ihm vortrug, ging er selbst nicht dorthin, sondern in eine Kraus-Vorlesung. Er besuchte Oskar Kokoschka in dessen Atelier, beide verstanden sich als »Abtrünnige des bürgerlichen Lebens« (Schneditz 1951, 107). Mit der Bewerbung im Arbeitsministerium sah es indessen schlecht aus (der ablehnende Bescheid wurde am 9.12. nach Salzburg zugestellt). Nachdem Ficker ihn zu einer Lesung nach Innsbruck eingeladen hatte, um seine Depressionen zu mildern, war ihm der Aufenthalt in Wien, »dieser Dreckstadt« (DuB 557), noch mehr verleidet. Am 30.11. fuhr Trakl nach Innsbruck zurück.

Im Atelier von Max Esterle malte er ein Selbstporträt, das in Stil und Maltechnik an Kokoschka erinnert (Abb. 1.6). Dieser hat seinerseits eine Zeichnung von Trakl »nach dem Gedächtnis« vermutlich nach dessen Tod angefertigt. Für die Lesung am 10.12. hatte Ficker auch Robert Michel eingeladen, der zu Beginn und am Schluss eigene Prosa lesen sollte. Trakl ergänzte noch den Programmvorschlag Fickers. Die Lesung im Musikvereinssaal war ein Erfolg, wenn auch in einer Besprechung Trakls Vortragsweise als »leider zu schwach, wie aus Vergangenheiten heraus« (HKA II, 720) kritisiert wurde. Die folgenden Tage waren für ihn solche »rasender Betrunkenheit und verbrecherischer Melancholie« (DuB 559), aus der heraus er das von einer religiösen Bildhaftigkeit getragene Gedicht »Ein Winterabend« schrieb, dessen erste Fassung er an Karl Kraus schickte (DuB 422).

Abb. 1.6
figure 6

Selbstporträt 1913; Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg.

Die Weihnachtstage hat Trakl zu literarischen Arbeiten genützt. In der ersten Brenner-Nummer 1914 erschienen sechs Gedichte von ihm, dazu der Prosatext »Winternacht«. Eine Kraus-Lesung am 14.1. war der Anlass zu einem Treffen am Vorabend in der Wohnung Fickers, an dem neben dem Gastgeber der Philosoph Carl Dallago, der in Russland lebende Schriftsteller Hans Limbach und Trakl teilgenommen haben. Über das Gespräch hat sich Limbach Notizen gemacht, die er später schriftlich ausformuliert hat (Erinnerung 1966, 117 ff.). Demnach sind dabei weltanschauliche Fragen diskutiert worden, bei denen sich Dallago und Trakl gegenüberstanden. Trakls Bekenntnis zum protestantischen Christentum und seine Ablehnung Nietzsches und Weiningers führten zu einem unüberwindlichen Gegensatz.

Im Gasthof Dollinger in Mühlau kam es am 13.2. zwischen Trakl, Röck und dem aus Paris zurückgekehrten K.B. Heinrich zu einem Gespräch bis in die frühen Morgenstunden, in dessen Zentrum die Themen Erotik, Sex und Sexualmystik standen. Trakl wurde dabei mit Röck und wahrscheinlich auch mit K.B. Heinrich per Du (Röck 1976, I, 180). Seinen bereits Ende November des Vorjahres geäußerten Plan, sich wieder beim Militär aktivieren zu lassen (DuB 558), realisierte Trakl jetzt. Auf Bitten Fickers sollte sich wieder Robert Michel in Wien darum kümmern. Dieser schätzte jedoch die Aussichten als äußerst ungünstig ein, da Trakl bei der Behörde mittlerweile als »sehr unbeständig« galt (HKA II, 725).

Trakl arbeitete in diesen Tagen an der Vorbereitung eines weiteren Gedichtbandes. Er hielt sich zunächst an einen Gliederungsvorschlag von K.B. Heinrich, der drei Teile, gegliedert durch Prosatexte, vorsah (vgl. Zwerschina 1990). Als auch Röck mit ihm über Gliederungsfragen sprechen wollte, erfuhr er zu seiner Überraschung, dass sich Trakl in Berlin aufhielt. Von seiner Schwester hatte dieser Mitte März eine Mitteilung über ihren kritischen Gesundheitszustand erhalten. Er reiste sofort ab. Am 17.3. schrieb er aus Berlin an K.B. Heinrich, dass Grete »vor wenigen Tagen eine Fehlgeburt gehabt [habe], die mit außerordentlich vehementen Blutungen verbunden war« (DuB 561). Vier Tage später schrieb er an Ficker von der »herzzerreißenden Traurigkeit und zugleich braven Tapferkeit« (DuB 562) seiner Schwester und dass er noch einige Tage bleiben werde, da sie »den ganzen Tag allein« sei (ebd.). Ficker schickte Geld. K.B. Heinrich fuhr Trakl nach Berlin nach. Gemeinsam teilten sie Karl Kraus mit, dass sie zu seiner Lesung in Berlin am 1. April kommen werden.

Im Kreis von Herwarth Walden lernte Trakl dessen frühere Ehefrau Else Lasker-Schüler, die ihm aus dem Brenner bekannt gewesen sein dürfte, auch persönlich kennen. Sie sprachen über Fragen der Religion aus christlicher bzw. jüdischer Sicht, aber auch über das Problem Alkohol. Er widmete ihr das Gedicht »Abendland« (II), sie verfasste nach Trakls Tod drei Gedichte auf ihn.

In Berlin schrieb Trakl noch einen Brief an Ficker, wahrscheinlich am 1. oder 2. 4., der wegen der extremen Verzweiflung, die daraus spricht, häufig angeführt wird (DuB 563). Trakl schrieb darin von »so furchtbare[n] Dingen […], daß ich deren Schatten mein Lebtag nicht mehr loswerden kann. Ja, verehrter Freund, mein Leben ist in wenigen Tagen unsäglich zerbrochen worden […]. Es [ist] ein so namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht […]«. Welch »furchtbare Dinge« es gewesen sein könnten, geht aus dem Brief nicht hervor; die Fehlgeburt kann es nicht gewesen sein, denn in den Briefen vorher ist von einer solchen Verzweiflung nichts zu merken. Eine mögliche Erklärung mit hoher Wahrscheinlichkeit ist, dass Trakl das Scheitern der Ehe Gretes in diesen Tagen klar geworden ist. Die intimen Beziehungen zu ihrem Klavierlehrer Richard Buhlig, den ihr Mann vermittelt hatte, waren einer der Gründe für die Scheidung 1916. Grete hatte Buhlig schon wenige Wochen nach der Verehelichung einen Brief mit Gedichten ihres Bruders geschickt. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass das verlorene Kind von ihm gewesen ist. Im einzigen bekannten Brief Gretes an Georg kommt er als ihr »Freund« vor (HKA II, 774). Trakl hatte als Teilvormund dieser Ehe zugestimmt in der Hoffnung, dass damit die finanzielle Voraussetzung für die weitere musikalische Ausbildung Gretes gesichert sei. Die Vision einer gemeinsamen künstlerischen Zukunft als Pianistin bzw. Dichter war damit jetzt zerfallen. Das Bewusstsein der in seinen Augen dabei schuldhaften Rolle könnte ihn in ein tiefes Loch der Verzweiflung gestürzt haben. Andere Erklärungen sind denkbar, aber nicht wahrscheinlich. Trakl hat jedenfalls seine Schwester Grete nach dem Berliner Aufenthalt nicht mehr gesehen, auch wenn er den Kontakt nicht abbrechen lassen wollte. Die vorher intensive Beziehung zu K.B. Heinrich fand keine Fortsetzung.

Die Rückkehr Trakls aus Berlin muss nach Röcks Darstellung dramatisch verlaufen sein (vgl. Szklenar, 232). Er wohnte zunächst wieder bei Ficker in Mühlau und beschäftigte sich vor allem mit dem nächsten Gedichtband Sebastian im Traum, den der Verleger am 6.4. angenommen hatte. Das Honorar von 400 Kronen milderte seine materielle Notlage zumindest etwas, denn er brauchte nach Angaben von Röck 200 Kronen monatlich allein für »Weintrinken und Rauchen«. Röck warf ihm deswegen »Menschenverachtung« vor, denn »wie viele Menschen leben mit diesem Geld ganz« (Röck o. J., II, 32). Trakl änderte noch die Gliederung, aus drei Zyklen wurden fünf, und fügte noch weitere Gedichte hinzu. Daneben arbeitete er an einem Fragment gebliebenen dramatischen Text und verschiedenen Fassungen von »Herbstliche Heimkehr«. Der Münchner Zeitschrift Phoebus stellte er das Gedicht »Nachtseele« zur Verfügung (Abb. 1.7).

Abb. 1.7
figure 7

Brustbild aus dem Mai 1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Im Juni und Juli korrigierte er die Bürstenabzüge des neuen Gedichtbandes, nahm noch Umstellungen vor und klärte Missverständnisse beim Setzen der Gedichte. Die Herstellung des Buches brauchte Zeit, im August war es noch nicht fertig.

In den Osterfeiertagen 1914 lud ihn Ficker zu einem Besuch bei Carl Dallago in Nago bei Torbole am Gardasee ein, auch wenn sich Trakl und Dallago wenig zu sagen hatten.

In der zweiten Maihälfte erkrankte Fickers Frau Cissi. Trakl übersiedelte auf die Hohenburg, was für sie sicher eine Erleichterung war, denn sie hatte schon mehrmals über Trakls »vieles Giftnehmen« geklagt (vgl. Szklenar 1966, 233) und auch darüber, dass der Dauergast oft bis abends im Bett blieb. Paula Schmid, die Verlobte Rudolf von Fickers und Hausherrin auf der Hohenburg, war über den Gast auch nicht gerade erfreut. Vermutlich deswegen teilte Trakl seiner Schwester Maria in Salzburg mit, dass er schon demnächst nach Hause kommen werde (DuB 565). Dass er an dieser Situation etwas ändern wollte, darauf deuten auch zwei Versuche hin, beruflich im Ausland unterzukommen: Anfang Juni bewarb er sich vergeblich (Abb. 1.8) beim Niederländischen Kolonialamt um eine Stelle im Sanitätsdienst der Kolonien (HKA II, 725 f.), zwei Wochen später versuchte er, ebenfalls vergeblich, als Militärapotheker in einer österreichischen Miliz für Albanien arbeiten zu können (HKA II, 837).

Abb. 1.8
figure 8

Abschlägiger Bescheid des Niederländischen Kolonialamts vom 18.6.1914; Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Ludwig von Ficker.

Loos erhielt von ihm einen (verloren gegangenen) Bürstenabzug von Sebastian im Traum, wollte ihm eine weitere Fahrt nach Venedig bezahlen und munterte ihn hellsichtig auf: »Bleiben Sie der Welt gesund. Betrachten Sie sich als Gefäß des Heiligen Geistes, das niemand, auch nicht der Georg Trakl zerstören darf« (HKA II, 777).

Mitte Juli erreichte Ficker ein Brief von Ludwig Wittgenstein jun. mit dem überraschenden Angebot, dass er aus seinem Erbe 100 000 Kronen für »unbemittelte österreichische Künstler« zur Verfügung stelle. Ficker möge sie nach seinem Gutdünken verteilen (vgl. Ficker 1986–1996, I, 231 f.). Er bezog sich dabei auf anerkennende Bemerkungen von Karl Kraus über den Brenner. Neben der Zeitschrift Der Brenner sollten Trakl und Dallago je 20 000 Kronen erhalten. Wittgenstein nannte noch Rilke als Bedürftigen. Zu den von Ficker Bedachten gehörten noch Oskar Kokoschka, Else Lasker-Schüler, Adolf Loos und Theodor Däubler. Wittgenstein hat erst nach Trakls Tod Gedichte von ihm gelesen und war beeindruckt: »Ich verstehe sie nicht; aber ihr Ton beglückt mich. Es ist der Ton der wahrhaft genialen Menschen« (Ficker 1986–1996, II, 53). Ficker legte den Anteil Trakls auf das Konto einer Innsbrucker Bank und war ihm beim Verfassen eines Dankesbriefes behilflich (DuB 569). Trakl hatte aber Hemmungen, von dem Geld Gebrauch zu machen.

Die am 25.7. in Innsbruck verlautbarte Teilmobilmachung dürfte für Trakl der Anlass zu einer Fahrt nach Salzburg gewesen sein, denn laut »Widmungskarte zur Dienstleistung im Kriegsfalle« musste er die Einberufung im »Domizile« abwarten (HKA II, 703) und seit dem Ende des Dienstes in der Garnisonsapotheke war er wieder in Salzburg gemeldet. Für die erste Augustwoche hatte er die Rückkehr geplant (DuB 570). Die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28.7. machte solche Pläne hinfällig.

Trakls Ende

Die allgemeine Mobilisierung begann am 31.7. Aus diesem Anlass »präsentierte« sich Trakl bei seiner Innsbrucker Einheit am 5.8. »zur aktiven Dienstleistung« (Sauermann 1988b, 67); dabei erfuhr er seine vorgesehene Einheit (Feldspital Nr. 7/14) und den Einsatzort. Vom Feldausrüstungsbetrag von 300 Kronen konnte er sich zusätzliches Material für den Einsatz anschaffen, darunter vermutlich eine Pistole (Marke Browning) und einen Gummimantel. Die Wertschätzung der asketischen Seite des Soldatischen (im Gegensatz zur Welt der Geschäftemacher) mag ihm diesen Schritt ebenso erleichtert haben wie die Aussicht auf ein Ende seiner beruflichen und persönlichen Misere. Er hat die weit verbreitete Kriegs-Euphorie nicht geteilt, sich aber auch nicht dagegengestellt.

Nach der Meldung ist er in Innsbruck geblieben und wartete auf den Einsatz. Wie sehr ihn die Kriegsereignisse beschäftigt haben, zeigt das im August entstandene Gedicht »Im Osten«. Röck wollte ihm wegen seiner »Russophilie« die Freundschaft kündigen, wurde wieder per »Sie« mit ihm, kam dann aber doch am 24.8. ins Cafe Max, um sich von ihm zu verabschieden, denn er hatte zufällig erfahren, dass Trakls Einsatz in Galizien bevorstand. Dieses Ziel mag für Trakl einen verheißungsvollen Klang gehabt haben, denn es gehörte seit seiner Jugendzeit zu seinen »russischen Phantasien«. Es war eine »zauberhaft erhellte, traumhaft stille Mondmitternacht« (Ficker 1967, 80), als Trakl den Viehwaggon eines Militärtransportes an die österreichisch-russische Front bestieg. Ficker hinterließ er einen Zettel mit den Worten: »Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne« (DuB 501).

In Salzburg wurde kurz Halt gemacht. Ein Bruder teilte ihm irrtümlicherweise mit, dass Sebastian im Traum bereits erschienen sei. Trakl schrieb unterwegs mehrere Feldpostkarten, die meisten an Ficker, den »verehrten Freund«. Das Wissen um die Militärzensur beeinflusste aber manche Formulierungen.

Um den 7.9. hatte Trakls Einheit Galizien erreicht (vgl. Lipinski 1981, 389–397). Lemberg war bereits von der russischen Armee erobert worden, ihr Vormarsch sollte aufgehalten werden. Zwischen dem 8. und 11.9. wurde das III. Corps mit Trakls Einheit bei Grodek in Position gebracht. Die Schlacht mit einem Stoßkeil der Brussilow-Armee begann. Dieser war dem österreichischen Gegner überlegen. Es entstand eine Paniksituation, in der Trakls Sanitätskolonne erstmals eingesetzt wurde. Wie er Ficker später erzählte, musste Trakl in einer Scheune nahe dem Hauptplatz des Ortes neunzig Schwerverwundete ohne ärztliche Assistenz zwei Tage lang betreuen. Noch Wochen später hatte er das »Stöhnen der Gepeinigten im Ohr und ihre Bitten, ihrer Qual eine Ende zu machen« (Erinnerung 1966, 200). Vor der Scheune hingen die leblosen Körper justifizierter Ruthenen: »Tief habe er sich den Anblick eingeprägt: der Menschheit ganzer Jammer, hier habe er einen angefaßt!«, meinte er Ficker gegenüber (Erinnerung 1966, 201).

Der Rückzug Richtung Przemysl und Jaroslau verlief chaotisch. Die Kolonnen kamen auf den morastigen Straßen nur mühsam vorwärts. Zufällig traf Trakl mit dem Vater des Schriftstellers Franz Fühmann zusammen, der später seinem Sohn über seine Eindrücke von Trakl berichtet hat. Demnach habe sich Trakl während eines Abendessens erschießen wollen, Kameraden hätten ihm die Pistole aus der Hand genommen (vgl. Fühmann 1982, 17 f.). In Przemysl traf er einen Freund aus Schul-und Studienjahren, den leicht verletzten Sanitätsarzt Franz Schwab, in angeblich guter Stimmung.

Bei einem mehrere Tage dauernden Aufenthalt in Limanowa schrieb er Postkarten an Ficker, Röck und Loos: »Ich war einige Tage recht krank, ich glaube vor unsäglicher Trauer« (DuB 572). Am 7.10. schickte man ihn zu seiner Überraschung in das Reservespital Nr. 1 nach Wadowice. Er vermutete zur Dienstleistung als Apotheker, aber schon am nächsten Tag wurde er »zur Beobachtung des Geisteszustandes ins Garnisonsspital Nr. 15 in Krakau transferiert« (HKA II, 729). Auf der Fahrt dorthin soll er einen Fluchtversuch unternommen haben. Möglicherweise wollte er sich an der Front als Infanterist einsetzen lassen, wie er es auch schon vorher versucht hatte. Im Krakauer Garnisonsspital wurde er in einem Zweibettzimmer des psychiatrischen Pavillons untergebracht.

Die Behandlung beschränkte sich auf Beobachtung und Diät. Von verschiedenen Ärzten wurden Äußerungen Trakls zur Krankengeschichte festgehalten. Schon dem ersten fiel auf, dass er »in Zivil seinen Beruf nicht ausübt, sondern ›dichtet‹« (HKA II, 729). Da ihm eine solche Tätigkeit absonderlich schien, setzte er sie unter Anführungszeichen. Möglicherweise hatte Trakl Angst, wegen Feigheit vor dem Feind vor ein Kriegsgericht gestellt und hingerichtet zu werden. Einige als verrückt erscheinende Äußerungen hätten ihn vielleicht davor schützen sollen. Um den 12.10. schrieb er Ficker von seiner Lage und bat ihn um eine Nachricht (DuB 572). Auch Grete in Berlin informierte er und bat sie um einen Besuch; sie hatte aber für die Reise nicht genügend Geld, auch wenn ihr ein »gütiger Freund« die Fahrt bezahlt hätte (vgl. Ficker 1986–1996, II, 31 f.). Als er keine Antwort erhielt, schickte er ihr ein Telegramm, dass er sie »nicht mehr braucht« (ebd., 32). Er machte sich Hoffnungen auf eine baldige Entlassung, eine Angina ließ das aber nicht zu.

Ficker hatte sich schon nach der ersten Mitteilung auf den Weg gemacht. In Wien traf er noch Karl Kraus, der ihm eine Postkarte an den von ihm geschätzten K.B. Heinrich mitgab; Trakl sollte sie unterschreiben. Am 24.10. traf er in Krakau ein und blieb bis zum Abend des nächsten Tages. In der Stadt herrschte Angst vor der den heranrückenden russischen Truppen. Über Eindrücke und Gespräche mit Trakl an den beiden Tagen hat Ficker einen Bericht geschrieben, der die wichtigste Quelle für die Ereignisse in den letzten Tagen von Trakl ist (vgl. Erinnerung 1966, 195–218). Er traf den Freund in einem hohen, schmalen Zimmer an, wo er zusammen mit seinem Burschen Mathias Roth aus Hallstatt und einem leicht erregbaren, an Delirium tremens leidenden Dragoner-Leutnant, der keinen Burschen bei sich hatte, untergebracht war. Das Fenster war wie in einer Gefängniszelle vergittert. Trakl saß rauchend auf dem Bett und sprach mit dem Zimmerkollegen. Er teilte Ficker mit, dass er eigentlich nicht recht wisse, warum er noch im Spital sei. Auf einer (nicht abgeschickten) Postkarte hatte er ihm bereits seine Entlassung mitteilen wollen. Ficker vermutete, dass er von den Ärzten wegen des Gedichteschreibens zum Kapitel ›Genie und Wahnsinn‹ gerechnet und eine weitere Beobachtung deswegen für nötig gehalten werde.

Bei einem Spaziergang im Spitalsgelände – Trakl trug einen Patientenkittel – berichtete Trakl von den Ereignissen in Grodek, seinem Selbstmordversuch und seiner Angst, deswegen vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Ficker versuchte ihn zu beruhigen.

Am nächsten Nachmittag meinte Trakl, dass er »im Feld […] blutwenig« geschrieben habe und las dem Besucher die Gedichte »Klage« (II) und »Grodek« vor, letzteres mit einem (nicht erhaltenen) um zwei bis drei Verse breiter angelegten Schluss (HKA II, 311). Beide Gedichte bot er Ficker für den Brenner an. Anschließend trug er aus einem Reclam-Bändchen mit Gedichten des Ficker unbekannten Barocklyrikers Johann Christian Günther die letzte Strophe des Gedichtes »An sein Vaterland« und das in seinen Augen »schönste und bedeutendste« lange Gedicht »Bußgedanken« vor, dessen letzter Vers lautet: »Oft ist ein guter Tod der beste Lebenslauf.« Er wies darauf hin, dass Günther mit 27 Jahren jung gestorben sei (vgl. Sauermann 1988a, 59). Auf die Frage Fickers, ob er noch immer Gifte besitze, erwiderte Trakl »fast aufgeräumt und gutmütig lächelnd«: »No freilich, als Apotheker, ich bitt’ Sie, […] wär’ ich denn sonst noch am Leben?« (Erinnerung 1966, 208). Erfahren durfte im Spital allerdings niemand davon.

Ficker ließ sich vom diensthabenden Arzt die Zusage geben, dass Trakl bald zu einem Erholungsurlaub entlassen werde. Bei der Verabschiedung versicherte er dem Freund noch, dass er sich auf der Rückreise in Wien für seine Entlassung einsetzen werde und stellte ihm ein baldiges Wiedersehen in Innsbruck in Aussicht.

Nach Fickers Abreise schrieb Trakl an den Kurt Wolff Verlag um die Zusendung eines Exemplars von Sebastian im Traum, Else Lasker-Schüler informierte er über seine Lage und Ludwig Wittgenstein, der auf einem Weichsel-Schiff Dienst tat, bat er um einen Besuch. Alle diese Notsignale blieben ohne Echo oder die Empfänger reagierten zu spät. Aus den letzten beiden Briefen an Ludwig von Ficker vom 27.10. spricht tiefste Resignation: »Ich fühle mich fast schon jenseits der Welt« (DuB 574), schrieb er im ersten, in dem er seine Schwester Grete als Erbin angab; er wird daher auch als »Testamentsbrief« bezeichnet. Die Gedichte »Klage« (II) und »Grodek« legte er in der bekannten Fassung bei. Im zweiten schickte er eine letztgültige Fassung der Gedichte »Menschliches Elend« und »Traum des Bösen« aus dem Band Gedichte. In den Änderungen verstärkte er das Todesmotiv.

Als weitere Besuche ausblieben und er die Hoffnung, wieder »ins Feld« und an die Front zu kommen, aufgegeben hatte, dürfte sich Trakl in die gefährliche Zone zwischen Leben und Tod begeben haben (vgl. Spoerri 1954, 35). Buschbeck gab später zu bedenken, »daß dieser Tod nicht geschehen wäre, wenn im richtigen Moment die richtigen Menschen bei ihm gewesen wären« (HKA II, 742). Sein Bursche Mathias Roth hat über den weiteren Ablauf später Ficker berichtet. Demnach hat ihm Trakl am Abend des 2.11. erzählt, dass sie beide am übernächsten Tag nach Innsbruck beurlaubt würden (HKA II, 740). Er erhielt noch den Auftrag, ihm am nächsten Morgen einen »Schwarzen«, also Kaffee, zu bringen. Dann legte sich Roth auf seinen Lagerplatz vor Trakls Bettende schlafen. In den nächsten Stunden hat Trakl wohl zu viel Kokain genommen, das er versteckt bei sich hatte. (Nicht ganz undenkbar ist, dass er sich wegen einer unregelmäßigen Einnahme in der Menge verschätzt hat.) Am nächsten Tag lag er bewusstlos im Bett, Roth durfte nicht mehr ins Zimmer; am Abend stellte er durch das Guckloch fest, dass Trakl noch atmete. Erst am nächsten Morgen sah er ihn, mit einem Leintuch bedeckt, liegen. Trakl war tot. Excitationsmittel hatten nicht geholfen. Als Zeitpunkt wurde der 3.11., 9 Uhr abends, festgehalten (HKA II, 730). Ursache: Herzlähmung durch Kokainvergiftung (Abb. 1.9). Auf Roths Bitte hin wurde der Sarg noch geöffnet, er konnte Obduktionsschnitte an der linken Schläfe und an der Kehle erkennen. Am 5.11. wurde Trakls Leichnam um 10 Uhr vormittags auf dem Rakovitzer Friedhof in Krakau zusammen mit sechs anderen Särgen »ohne jede Zeremonie, ohne geistliche oder militärische Assistenz« beerdigt (Ficker 1986–1996, II, 47).

Abb. 1.9
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Todesanzeige des K.u.K. Garnisonsspitals Nr. 15 in Krakau vom 4.11.1914; Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte Salzburg.

Als erster erhielt Ficker am 8.11. die Todesnachricht von Wittgenstein, der Trakl besuchen wollte, aber zu spät kam (Ficker 1986–1996, II, 35). Ficker verständigte davon zunächst einige Freunde und Bekannte (u. a. Karl Kraus, Else Lasker-Schüler, Carl Dallago, Oskar Kokoschka); der Mutter Maria berichtete er ausführlich bei einem Besuch in Salzburg. Die Schwester Grete erfuhr davon durch Georg H. Meyer vom Kurt Wolff Verlag. Sie war bestürzt und wollte unbedingt, dass der Leichnam ihres Bruders nach Salzburg überführt wird; dafür war sie bereit, das restliche Honorar für Sebastian im Traum zur Verfügung zu stellen. Auch Else Lasker-Schüler wollte sich finanziell beteiligen. Wilhelm Trakl war der Meinung, dass wegen des Krieges eine rasche Überführung nicht möglich sein werde. Ficker schloss sich dem an und plante bereits eine zweite Bestattung auf dem Friedhof von Mühlau. Er konnte sich auf seinen Einsatz für Trakl und eine Widmung des Freundes auf einem Sonderdruck der Drei Gedichte berufen: »Dem Lande Tirol / das mir mehr als Heimat war« (DuB 502; zum Verlassenschaftverfahren vgl. Stockhammer 2014). 1922 rief er dann zu Spenden für Trakls Grab auf und brachte über das ›Schwarze Kreuz‹ eine Rückführungsaktion in Gang. Die zweite Beisetzung Trakls fand am 7.10.1925 in Mühlau bei Innsbruck statt. Die Brüder und Schwestern waren aus Salzburg gekommen, die Mutter war bereits schwer erkrankt und starb noch im selben Monat. Ein evangelischer Pastor nahm die Einsegnung vor und Ficker sprach einen »Abschiedsgruß«. 1926 wurde das Grab mit einem Sternenkreuz und einer Bronzetafel neugestaltet.

Grete Langen-Trakl erlebte dies nicht mehr. Nach dem Tod des Bruders hatte sie jeglichen Halt verloren. Ficker sah es als seine Pflicht an, sich um sie zu kümmern. Medizinische Behandlungen und ein Kuraufenthalt waren jedoch umsonst. Die Ehe wurde im März 1916 geschieden. Ficker und Buschbeck konnten im Jahr darauf die von ihr erbetene finanzielle Hilfe nicht leisten. Im Haus der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm, wo sie in Untermiete wohnte, beendete sie mit einer Pistole am 21.9.1917 ihr Leben. Auf einem heute nicht mehr existierenden Friedhof in Berlin-Schöneberg wurde sie in Anwesenheit ihres Bruders Wilhelm beigesetzt. Der Nachlass ist verschollen.

Die anderen Geschwister Georgs starben alle eines natürlichen Todes, zuletzt Maria 1973. Das Familiengrab befindet sich auf dem Kommunalfriedhof in Salzburg. Alle Geschwister blieben kinderlos.

Anmerkung: Diese Darstellung geht zurück auf Hans Weichselbaum: Georg Trakl. Eine Biographie. Salzburg 2014. (Noch detailliertere Nachweise dort.)