1 Literatur als Untersuchungsgegenstand der Psychologie

Was bedeutet es, wenn Friedrich Nietzsche über Fjodor Dostojewski schreibt, dieser biete „das wertvollste psychologische Material“ (Nietzsche 1954, S. 1334–1335), das er kenne? Auch Kurt Lewin sagt von Dostojewski, von ihm stammten die vollständigsten und konkretesten aller Situationsbeschreibungen (Lewin, 1936, S. 13). Zu erwähnen ist auch Frederik Buytendijk, der von dem großen Schriftsteller schreibt: „Von allen Romanen der Weltliteratur sind die Schöpfungen Dostojewskijs die beste Übungsschule für psychologische Formung und die reichste Quelle psychologischer Erkenntnisse“ (Buytendijk 1966, S. 33). Diese drei Verweise können die These begründen, dass der Romanschriftsteller Dostojewskij im Speziellen und damit der Roman schlechthin eine psychologische Bedeutung hat.

Der psychologischen Bedeutung des Romans soll an dieser Stelle nachgeforscht werden. Es ist indessen mehrdeutig, was mit dem Ausdruck ‚psychologische Bedeutung‘ gemeint ist. Von der Eigenheit des Romans absehend, kann zunächst ein allgemeines Verhältnis zwischen Psychologie und Literatur festgestellt werden. Eine mögliche Auffassung ist es dann, dass die Literatur und die Psychologie denselben Gegenstand haben, nämlich den Menschen samt seinem Erleben und Verhalten:

„It is one of the unaccountable curios [sic] that although psychology and literature deal with the same subject-matter, viz., imagery, ideas, emotions, feelings, and so on, the psychology of literature has received but scant treatment until very recently.“ (Roback 1955, S. 869)

Auch sind Autorenschaft, literarische Figuren sowie die Entstehungsprozesse literarischer Werke im Verlaufe der gesamten Geistesgeschichte vielfach psychologisch untersuchte Themen (vgl. Groeben 1972). Vor diesem Hintergrund bietet sich der Schluss an, dass die Psychologie eine offenkundige Bedeutung für die Literatur oder besser gesagt für die Literaturwissenschaft hat. Die Beziehung zwischen psychologischem und literarischem Schaffen ist in dieser Hinsicht wechselseitig, was sich an einer lebendigen Verschränkung beider Gebiete abzeichnet, die bereits vor der Etablierung der Psychologie als eigenständiger Einzelwissenschaft gegeben war. Schon in der vorexperimentellen Psychologie, die in der Regel philosophische Psychologie gewesen ist, waren Dichtung und Schriftstellerei denkwürdige Problemfelder (vgl. Groeben 1972, S. 14). Mit dem Selbstverständnis der Psychologie hat sich allerdings auch dieses Verhältnis verändert. Dazu Groeben:

„Die Einstellung, daß aus Literatur psychologische Erkenntnis zu gewinnen ist, stellt eine Version des Verhältnisses von Literatur und Psychologie dar, die auch noch in die Zeit der Psychologie als Einzelwissenschaft hineinreicht. Auf Seiten der Psychologen setzt sie eine bestimmte wissenschaftstheoretische Position voraus, die auf der Grundlage anthropologischer Voraussetzungen eine geisteswissenschaftliche Psychologie verfolgt, welche aber heute als überholt gilt.“ (Groeben 1972, S. 14)

Groeben verdeutlicht, dass alltägliche Auffassung oder traditionelle Gewohnheit nicht dem Verhältnis von Psychologie und Literatur im Aufbau der Wissenschaft entsprechen. Die ‚psychologische Bedeutung‘ des Romans zu bestimmen, erfordert demnach die Berücksichtigung der entsprechenden Diskurse. Eine systematische Antwort darauf, ob der Roman für die Psychologie Bedeutung hat, gibt die Literaturpsychologie mit empirischen Mitteln. Literarische Werke heranzuziehen, um psychologische Theorien zu überprüfen, was in einer geisteswissenschaftlichen Verstehenspsychologie gerechtfertigt zu sein scheint, widerspricht laut Groeben jedoch der wissenschaftstheoretischen Struktur von empirischer Psychologie. Folglich sei die Literaturpsychologie immer nur eine (empirische) Psychologie über Literatur (Groeben 1972, S. 19).

Im Folgenden soll dieser Gedankengang erweitert werden. Die Leitfrage ist, welches Verhältnis zwischen dem Roman und der Psychologie besteht. Während auf den ersten, äußerlichen Blick der Roman schlichtweg eine unter verschiedenen Textgattungen der Literatur zu sein scheint, gestattet der phänomenologische Blick jedoch, den existenziellen und anthropologischen Bedeutungskern des Romans zu identifizieren. So ergibt sich die Perspektive auf eine durch phänomenologische Reflexion ausgerichtete Literaturpsychologie, die den Roman in Hinblick auf die Selbstoffenbarung der Einbildungskraft erforscht.

2 Die literaturpsychologische Verhaltens- und Inhaltsanalyse

Verhaltenswissenschaftlich wird etwas zur Methode, wenn messbare Unterschiede durch es hervorgerufen werden. Ausschlaggebend ist folglich Messbarkeit als eine materiale Eigenschaft der Veränderungen, die auf die Beziehung einer Versuchsperson zur Manipulation zurückzuführen sind. Als die beiden Forschungsgebiete der Literaturpsychologie ergeben sich so nach Groeben und Vorderer (1986) die Autorpsychologie einerseits und die Leserpsychologie andererseits. Messbar ist in der Autorpsychologie der Text als Produkt, aber auch Zustände oder Eigenschaften von Autorinnen und Autoren, insbesondere Kreativität. Die Leserpsychologie misst demgegenüber Leseverhalten und Lesewirkung. Unter diesen Bedingungen lässt sich auf die spezifische Bedeutung des Romans blicken: Experimentalmethodologisch gesprochen wären Romane in der Leserpsychologie die Manipulation, in der Autorpsychologie jedoch die Messdaten. In dieser werden die Unterschiede zwischen Romanen als Produkte kreativen Verhaltens festgestellt, in jener rufen diese Unterschiede Verhaltensvarianz bei lesenden Versuchspersonen hervor.

Es handelt sich in dieser methodologischen Betrachtung um eine formale Bestimmung der Rolle, die Romanen in der empirischen Forschung zukommt. Unterschiede in Leseverhalten und -wirkung können in der Leserpsychologie ebenfalls durch Kurzgeschichten, Gedichte oder Betriebsanleitungen bedingt sein. Logischerweise ist es für die Autorpsychologie analog nicht notwendig, dass Romane produziert werden. Kreativität zeigt sich auch an Dramen oder Aphorismen. Anders gesagt, der Roman wird in methodologischer Hinsicht nicht als Roman relevant, sondern als Text, als schriftsprachliche Manipulation oder als schriftsprachliches Maß für Verhaltensunterschiede.

Groeben und Landwehr argumentieren, dass literarische Texte entweder als Verhaltensdaten oder als bedeutungsvoller Gegenstand von Beobachtungen aufgefasst werden können. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Literaturpsychologie einen sozialwissenschaftlichen Empirie-Begriff verlangt. Dementsprechend sagen sie: „‚Beobachtbar sind … nicht nur … sprachliche Verhaltensweisen, sondern auch sprachliche Äußerungen einschließlich ihrer Bedeutung“ (Groeben und Landwehr 1991, S. 145).

Zunächst lassen sich Romane als Verhaltensdaten betrachten. Eine Untersuchung zur Kreativität könnte schöpferisches Verhalten als Prosa operationalisieren, etwa als Textqualität, die durch unabhängige Gutachter auf einer numerischen Skala beurteilt wird. Eine entsprechende Instruktion wäre es, einen möglichst kreativen Text zu schreiben. Dieses Vorgehen findet sich zum Beispiel bei Uwe Wolfradt und Jean Pretz (2001), die mit dieser Methode die Beziehung zwischen Persönlichkeitseigenschaften und Kreativität untersucht haben. Eine andere Operationalisierung findet sich bei Robert Eisenberger und Kollegen (1998), die die Qualitätsunterschiede zwischen spontanen Prosatexten durch die Übereinstimmung der produzierten Texte mit zuvor festgelegten Wortlisten gemessen haben.

Charakteristisch ist für beide Beispiele, dass eine Inhaltsanalyse nicht erforderlich ist. Inhaltsanalytische Beschreibungen bilden, so Groeben und Landwehr, den „entgegengesetzten Extrempol zu reinen Verhaltensdaten“ (Groeben und Landwehr 1991, S. 146). Das Prinzip der systematischen Inhaltsanalyse bestehe ihnen zufolge darin, den Gegenstand

„in einzelne Analyseeinheiten zu zerlegen und diese Analyseeinheiten bestimmten, von der theoretischen Hypothese aus abgeleiteten (Bedeutungs‑)Kategorien zuzuordnen, um auf diese Art und Weise zu prüfen, ob der Inhalt der Texte in der Tat (überzufällig) häufig die von der Hypothese postulierten Merkmale aufweist.“ (Groeben und Landwehr 1991, S. 147)

Der Unterschied zu literarischen Texten als Verhaltensdaten besteht also darin, in der Inhaltsanalyse die Bedeutung des Textes als Bedeutung zu thematisieren, während sich die verhaltenswissenschaftliche Perspektive auf dessen Form beschränken.

Um die psychologische Bedeutung des Romans zu erfassen, weist seine Inhaltsanalyse den Weg, insofern sie seine Bedeutung schlechthin zu bestimmen anstrebt. Implizit ist diese Bedeutung jedoch auch bei der Interpretation von Texten als Verhaltensdaten vorausgesetzt. Die Beurteilung ihrer Qualität steht im Verhältnis zur Textgattung. Auch die Wortlisten, die von Eisenberger und Kollegen Verwendung gefunden haben, dürfen, um valide zu sein, nicht zufällig entstehen. Jeder Text steht in einer semantischen Ordnung und die Ordnung des Romans ist eigentümlich. Sie kann nicht aus der Grammatik oder dem Wortschatz einer Sprache abgeleitet werden – was in Werken, die mit etablierter Syntax brechen, man denke an James Joyce, seinen Kulminationspunkt findet. Um zu begreifen, welche Bedeutung der Roman für die Psychologie hat, müssen also die wesentlichen Eigenheiten des Romans bestimmt werden. Genauer gesagt gilt es zu fragen, was Romane auszeichnet, sodass sich an ihnen psychologische Unterschiede zeigen. Darin liegt ihre psychologische Bedeutung.

3 Zu einer innerlichen Bestimmung des Romans

Gesucht ist eine Klassifikation des Romans, die es gestattet, seine Eigenheit als Textgattung zu identifizieren und seine Bedeutung zu erhellen. Es drängen sich äußerliche Merkmale auf. Die Romantheorie unterscheidet beispielsweise Erzählstile. Schon in der Rhetorik des Quintilian findet sich für die Bestimmung der Narratio die Unterscheidung einer zusammenfassenden und einer Einzelheiten schildernden Erzählweise (vgl. Beganović et al. 2007). Bei Ludwig (1891) wird daraus die szenische im Gegensatz zur sog. eigentlichen Erzählung, zu denen eine Mischform als dritte Alternative tritt. Stanzel greift die Unterscheidung auf, schlägt aber die Benennung als panoramisch und mimetisch vor. Eine erweiterte Typologie findet sich bei Petsch (1934), der Bericht, Beschreibung, Bild, Szene und Gespräch voneinander abgrenzt.

Einen zusätzlichen äußerlichen Unterschied gestattet das Begriffspaar episch und dramatisch. Für seine Identifizierungen bieten sich grammatische Eigenschaften wie das epische Präteritum an, das die Mittelbarkeit des Geschehens anzeigt. Stanzel (1993, 1995) argumentiert allerdings, dass erst die Bestimmung der Erzählsituation eine romantheoretische Typologie gestattet. Hier hat die klassische Unterscheidung zwischen auktorialer, personaler und Ich-Erzählsituation ihren Platz. Stanzel entwirft seine Theorie der Erzählsituation anhand eines Typenkreises, der durch drei binäre Kategorien aufgespannt wird, nämlich die Formenkontinua Modus, Person und Perspektive.

Eine Romantypologie anhand äußerer Merkmale ermöglicht die Klassifizierung des Textmaterials, das in der Empirie der Autorpsychologie Beobachtungsgegenstand ist oder in der Leserpsychologie der Manipulation dient. Diese Klassifizierung würde es gestatten, am Beispiel gesprochen, den Text, den eine Versuchsperson im Labor schreibt, als mehr panoramischen denn mimetischen Text im epischen Präteritum und auktorialer Erzählsituation einzuordnen. Nüchtern gesehen könnte man so allerdings auch eine Betriebsanleitung, realistisch vielleicht im Falle eines Brettspiels, verfassen. Demgegenüber wird hier behauptet, dass eine äußerliche Bestimmung des Romans, eine formale Romantypologie, nicht ausreicht, um dem Roman als Roman epistemisch gerecht zu werden. Es erfordert eine innerliche Bestimmung des Romans, oder, im Sinne Herbert Cysarz (1929), einer Phänomenologie des Romans.

Cysarz hat Georg Lukács im Sinn, wenn er von der Phänomenologie des Romans spricht. In Lukács’ Theorie des Romans (1920) finden wie eine antiformalistische Grundhaltung, die folglich Stanzels Romantypologie widerspricht. Er spricht vom Roman als „Halbkunst“, die „eine noch strengere und unfehlbarere künstlerische Gesetzlichkeit vor[schreibt], als die ‚geschlossenen Formen‘, und diese Gesetze sind desto bindender, je mehr sie ihrem Wesen nach undefinierbar und unformulierbar sind: es sind Gesetze des Taktes“ (Lukács 1920, S. 66). Der Begriff des Taktes spielt dabei auf ein Gleichgewicht zwischen der Objektivität der Handlung und der subjektiven Innerlichkeit an, eine dialektische Rhythmik. Die Unformulierbarkeit seiner Gesetze entsteht aus der kulturhistorischen Situation, in der der Roman in die Geistesgeschichte tritt. Lukács identifiziert historisch den Anbruch der Moderne und literarisch Dantes göttliche Komödie als den Übergang von der Epopöe zum Roman. Beide können den Erzählungen zugerechnet werden, die man mit Stanzels Schema klassifizieren könnte, doch der Roman ist inhaltlich transformiert. Diese Transformation bestimmt Lukács als „Die Selbsterkenntnis und damit die Selbstaufhebung der Subjektivität“ (Lukács 1920, S. 67). Ihr hat die romantische Philosophie Schlegels den Begriff Ironie gegeben. Es ist kein Zufall, dass sie von einer postkantischen Philosophie identifiziert wurde, denn sie trägt die Spuren der kopernikanischen Wende in Kants Kritiken. So sagt Lukács:

„Der Roman ist die Epopöe der gottverlassenen Welt; die Psychologie des Romanhelden ist das Dämonische; die Objektivität des Romans die … reife Einsicht, daß der Sinn die Wirklichkeit niemals ganz zu durchdringen vermag, daß aber diese ohne ihn ins Nichts der Wesenlosigkeit zerfallen würde: alles dies besagt eins und dasselbe. Es bezeichnet die produktiven, von innen gezogenen Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten des Romans und weist zugleich eindeutig auf den geschichtsphilosophischen Augenblick hin, in dem große Romane möglich sind, in dem sie zum Sinnbild des Wesentlichen, was zu sagen ist, erwachsen.“ (Lukács 1920, S. 84)

Als Kunstwerk charakterisiert den Roman ein existenzielles Verhältnis zur Welt oder Selbstverhältnis der Welt. Für dieses Verhältnis findet Lukács den Ausdruck Abenteuer. Er schreibt:

„Der Roman ist die Form des Abenteuers, des Eigenwertes der Innerlichkeit; sein Inhalt ist die Geschichte der Seele, die da auszieht, um sich kennenzulernen, die die Abenteuer aufsucht, um an ihnen geprüft zu werden, um an ihnen sich bewährend ihre eigene Wesenheit zu finden.“ (Lukács 1920, S. 86)

Abenteuer heißt allerdings nicht die augustinische oder cartesianische Meditation, die in sich verharrt. Das Abenteuer des Romans ist der Auszug in die Welt, den Lukács – wie Goethe vor ihm – mit dem Dämonischen identifiziert. Es tritt in Erscheinung, so sagt Lukács,

„wenn die Menschen … manchmal von der Macht des Dämons ergriffen in grundloser und nicht begründbarer Weise über sich [hinausgehen] und alle psychologischen oder soziologischen Grundlagen ihres Daseins [kündigen].“ (Lukács 1920, S. 87)

Der Roman bietet dem lesenden Geist eine fiktionale Welt, die dem auktorialen Geist entspringt und im Sinne Bergsons (vgl. Deleuze 2020) als virtuelle von der Wirklichkeit abhebt, da jeweils nur eine endliche Anzahl an Bezügen erschaffen, erdichtet, erdacht werden können, wohingegen die Wirklichkeit unerschöpflicher Fülle ist. Selbst Historienromane und Biografien können daher nie vollständig originalgetreue Darstellungen sein. Die literarische Schöpfung geht immer einher mit der Einbildungskraft des Schreibenden. Die erschaffene fiktionale Welt eines Romans ist in einer eigenen Struktur konstituiert, sie bleibt ein Simulacrum der Wirklichkeit. Folglich widersetzt sich der Roman seiner methodologischen Verwendung. Er ist weder (Mess‑)Instrument noch ein durch Messdaten zu erfassender Gegenstand. Der Roman ist ein Kunstwerk. Der Versuch, ihm durch eine äußerliche Typologie habhaft zu werden, misslingt, weil er das Wesentliche außer Acht lässt. Der Inhalt des Romans hat einen eigenen existenziellen und epistemischen Anspruch, der sich nicht beliebig in Labor-Konstellationen einfügen lässt. Das heißt jedoch nicht, dass er für die Psychologie opak bleiben muss. Es bedarf eines Anspruchs konzeptueller Offenheit der Literaturpsychologie, um die Distanz zwischen der Methodologie der Experimentalpsychologie und der Eigenheit des Romans zu überbrücken. Erst auf diese Weise wird ersichtlich, inwiefern das Kunstwerk eine existenzielle Situation schafft, die den Roman wesentlich von anderen Verbaldaten, wie zum Beispiel erstpersonalen Selbstberichten, unterscheidet.

4 Die Ansprüche an den Roman

Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, ist es ausreichend, sich auf die Perspektive der Autorpsychologie zu beschränken, insofern sie der Leserpsychologie strukturlogisch vorgeordnet ist (nicht nur im Sinne der Produktion, sondern die Spontaneität ist im Kreativen der Rezeptivität vorgeordnet). Die Phänomenologie des Romans leitet die Frage nach seiner psychologischen Bedeutung zum Abenteuer. Wer einen Roman schreibt, sei es im Studierzimmer, im Café oder im Versuchslabor, erlebt, wie Lukács sagt, das „Auseinanderklaffen von Innerlichkeit und Abenteuer“ (Lukács 1920, S. 85), deren Dialektik sich im Takt artikuliert. Den oberflächlichen Einwand, dass wohl kaum ein Roman in der Erhebungszeit eines Experiments entstehen würde, lässt sich mit dem Hinweis zurückweisen, dass die Dauer erneut ein bloß äußerliches Kriterium ist. Die existenzielle Situation des Abenteuers transzendiert esFootnote 1. Zum Abenteuer gehört nun, dass eine Instruktion wie „Schreiben Sie einen Roman!“ nicht ausreichen kann, um es hervorzurufen.

Es ist das Zusammenwirken des erlebten Abenteuers und der schriftstellerischen Fähigkeiten, die Buytendijk als „,magische‘ Macht“ – oder in Anlehnung an Goethe auch als „dämonisch“ (Buytendijk 1966) bezeichnet –, insofern sie große Werke entstehen lassen kann. Laut Buytendijk verfügt diese Macht über das Verborgene, über andere Welten und Möglichkeiten. Hier lässt das große schriftstellerische Werk die zuvor erwähnten fiktionalen Welten entstehen. Das Verborgene wird in ihm entborgen, und in den Möglichkeiten, die im Roman sichtbar werden, kann der Mensch – und somit auch die Psychologie – zu neuen Erkenntnissen fortschreiten. Doch nicht jedes große schriftstellerische Erzeugnis ist zugleich auch große Literatur und, dass von der unermesslichen Anzahl an Romanen nur ein Bruchteil davon als große Literatur bezeichnet wird, ist begrifflich analytisch in der Besonderheit des Außergewöhnlichen enthalten. Die Frage danach, was gute – oder auch ‚große‘ – Literatur von schlechter Literatur oder Trivialliteratur unterscheidet, ist vielfach und weitreichend diskutiert worden. Ein allgemeingültiger Maßstab zur Trennung von großer und trivialer Literatur existiert bis heute nicht.

Ungeachtet der Kriterien für literarische Größe ist es ein existenzielles Faktum, dass Romane an ihrem künstlerischen Anspruch scheitern können. Um dieses Scheitern zum Gegenstand der Psychologie zu machen, lässt sich ihm mit Buytendijk ein Name geben, der terminologisch zu denken ist, auch wenn er den Anschein der Polemik haben mag: Die Form der Erzählung, die am Anspruch des Romans scheitert, ist Belletristik. So sagt Buytendijk:

„Die Romane Dostojewskijs sind keine Erzählungen, die mit einem ‚und dann‘ – ‚und dann‘ dahinplätschern, und genau so wenig sind sie eine Aneinanderreihung von dramatischen oder sensationellen Spannungen und romantischen Erlebnissen.“ (Buytendijk 1966, S. 37)

Als Merkmal der Belletristik soll das ‚und dann‘, also eine bloße Serialität von Ereignissen, bestimmt werden. Es findet keine epistemische Transformation durch (Ver‑)Dichtung statt, sodass die epistemische Reichweite dieses romanhaften Erzählungstypus auf den Alltagsverstand beschränkt bleibt. Was seiner Serialität fehlt, findet sich in der nächsten Klasse von Romanen (vgl. Tab. 1), die neben die Belletristik als gescheiterten Roman tritt. Diese Klasse lässt sich mit dem Ausdruck des „psychologischen Realismus“ im Sinne Milan Kunderas identifizieren. Er sagt:

„Tatsächlich hat die lange Tradition des psychologischen Realismus einige fast unverletzliche Normen geschaffen: Erstens muß man über eine Romanfigur möglichst viele Informationen liefern: über ihr Aussehen, über ihre Art zu sprechen und sich zu verhalten; Zweitens muß man die Vergangenheit einer Figur bekannt machen, denn darin finden sich alle Motivationen ihres gegenwärtigen Verhaltens, und drittens muß die Figur vollkommen unabhängig sein, das heißt, der Autor und seine eigenen Betrachtungen müssen verschwinden.“ (Kundera 2010, S. 48)

Tab. 1 Drei Romantypen

Was Kundera auflistet, sind Informationsarten, die Literaturschaffende in ihre Geschichten integrieren müssen, damit der Roman eine realistische Wirkung entfaltet. Dadurch rückt der Roman nicht selbst näher an die Wirklichkeit heran, sondern vermittelt nur den Eindruck der Plausibilität. Im philosophischen Vokabular fällt also der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität ins Gewicht. Für Buytendijk ist ein Roman umso wertvoller für die psychologische Erkenntnis, je realistischer und deskriptiv-psychologischer er ist. Der Inhalt des Romans dient hier eher als fiktives Surrogat für mögliche reale Ereignisse: „So, wie der Arzt durch das Lesen vieler Krankengeschichten die Grenzen seiner eingeschränkten praktischen Erfahrung überschreiten kann, so kann auch der Psychologe vielerlei aus guten erzählenden Beschreibungen lernen“ (Buytendijk 1966, S. 30). Wozu der Leser hier eigentlich kommt, ist Narration im Sinne des Informationsberichts, aber keine das Wissen selbst transformierende Erfahrung als literarische Erkenntnis.

Der Anspruch dieser Romanform ist Akkuratesse und Authentizität, doch es gibt eine weitere Form, die Kundera für sich selbst in Anspruch nimmt, wenn er sagt, dass seine eigenen Romane nicht psychologisch seien – wobei er mit Psychologie die bloß abbildende Geisteshaltung meint. Die dritte Romanform ist nun das „existenzielle Abenteuer“, von dem Lukács spricht. Ihr Anspruch ist nicht Akkuratesse, sondern die Begegnung mit dem, was Kundera lebendig nennt, wenn er sagt:

„Eine Figur ‚lebendig‘ werden zu lassen, bedeutet: ihrer existenziellen Problematik bis auf den Grund zu gehen“ (Kundera 2010, S. 51). Weiter sagt er: „Der Roman erforscht nicht die Realität, sondern die Existenz. Und die Existenz ist nicht das, was sich abgespielt hat, die Existenz ist das Feld der menschlichen Möglichkeiten, ist all das, was der Mensch werden kann, wessen er fähig ist.“ (Kundera 2010, S. 60)

Das existenzielle Abenteuer des Romans transzendiert die deskriptive Psychologie zugunsten der Anthropologie. Die dämonische Selbstaufhebung der Subjektivität stellt die Frage nach dem Menschen als Menschen. Das ist gemeint, wenn Kundera schreibt: „Der Mensch will sein eigenes Bild enthüllen, indem er handelt, aber dieses Bild ist ihm nicht ähnlich“ (Kundera 2010, S. 36). Im gleichen Geiste schreibt Buytendijk: „Die Menschen demaskieren sich selbst in der Demonstration ihres Lebens“ (Buytendijk 1966, S. 53). Als Mittel dieser Demaskierung identifiziert Buytendijk, und das lässt sich als Kriterium dieser dritten Romanform postulieren, die Einbildungskraft. Er sagt:

„Der Roman, der den Menschen persönlich enthüllt, ist das unerklärliche Wunder des Geschenkes [der] communio, der absichtsfreien Liebe und des Glaubens des Schriftstellers an den Menschen. Die schöpferische Gestaltung darf nicht als ein Spiel der Phantasie verstanden werden, sondern als imaginatio, als das Eins-Werden mit dem Bild des Daseins, was so treffend mit dem Wort ‚Einbildung‘ ausgedrückt wird.“ (Buytendijk 1966, S. 23)

Dass die Einbildungskraft einen besonderen Platz in der Philosophiegeschichte hat, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. Es handelt sich um einen streitbaren Schlüsselbegriff des kantischen Transzendentalismus, den Heidegger in seiner Kant-Schrift für den Garanten für die „innere Möglichkeit der Wesenseinheit der reinen Erkenntnis“ (Heidegger 1991, S. 69) erwogen hat. Eine der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft entsprechende Bestimmung des Begriffes findet sich bei Anneliese Maier. Sie schreibt:

„Die Einbildungskraft selbst, definiert als das Vermögen ‚einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen‘, stellt sich dar als die Fähigkeit, die Sinnlichkeit (ihrer Form nach) a priori gemäss der transzendentalen Einheit der Apperzeption zu bestimmen. Sie gehört zur Spontaneität, nicht zur Rezeptivität, und bedeutet die erste Anwendung des Verstandes auf die Sinnlichkeit.“ (Maier 1968, S. 122)

So zeigt sich der Sinn des Abenteuers, da es die Bildung des Menschen bedeutet. Diesem Zusammenhang der philosophischen Einbildungskraft mit unserer Bildung hat sich Florian Arnold gewidmet. Er fasst die Einbildungskraft als bilderschaffend auf. So sagt er:

„Nicht bloß ein Vermögen der empirischen Reproduktion und mehr noch als der Agent des Schematismus ist die Einbildungskraft ein ‚produktives Erkenntnisvermögen‘, wo sie ‚eine andere Natur‘ im Symbol erschafft.“ (Arnold 2016, S. 155)

Im Roman emanzipieren sich Literaturschaffende, indem sie in der symbolischen Virtualität frei bilden: „Die Kunst ist im Verhältnis zum Leben immer ein Trotzdem“, sagt Lukács, „das Formschaffen ist die tiefste Bestätigung des Daseins der Dissonanz, die zu denken ist“ (Lukács 1920, S. 64).

5 Atmosphäre und fiktionale Welt des Romans

Wer einen Roman zu schreiben versucht, kann ein Kunstwerk schaffen. Als Kunstschöpfungen sind Romane jedoch kein Ruhepol für den Geist, sie sind „geistige Bewegungen, die also verlangen, daß immer wieder das Geformte im Ungeformten entdeckt werden muß“ (Buytendijk 1966, S. 18). Buytendijk definiert als das wesentliche Kennzeichen des (großen) Romans die „Atmosphäre“, die alles, was im Roman geschaffen wird, beinhaltet und in welcher sowohl der lesende als auch der literaturschaffende Geist gemeinsam „atmen“ (Buytendijk 1966, S. 19). In dem durch die Worte entworfenen Raum ist eine Stille und ein Schweigen anwesend, das Buytendijk mit dem Schweigen im Blick und Lächeln von Liebenden vergleicht, ein „sprechendes Schweigen und schweigendes Sprechen“ das erst verständlich wird, „wenn wir bedenken, daß alle Worte … Bilder erwecken, die schweigend in unsere Gegenwart treten“ (Buytendijk 1966, S. 19). Erst in dieser Atmosphäre kann die eigentliche Begegnung stattfinden und das Unsagbare deutlich werden.

Buytendijk hebt die Welt des Romans vom menschlichen Dasein ab, indem er letzteres in seinen zwei Grundformen als Sorgend-in-der-Welt-Sein zu bestimmen versucht. Das tatsächliche Dasein des Menschen wird von ihm (wie bei Ludwig Binswanger und Paul Häberlin) in die technische und spielerische Existenz geteilt. Die technische Existenz ist von Notwendigkeiten, Widerständen, Zielen und somit einem Fortschreiten bestimmt, was sie, so Buytendijk, zu einem vom Geist verfremdeten Sein macht. Die spielerische Form, die sich am deutlichsten im Leben eines Kindes finden lässt, „ist eine Welt von Bildern und nicht von Dingen“ (Buytendijk 1966, S. 21). Gemeint ist allerdings kein Zustand des Unernstes, sondern der Freiheit. Das spielerische Dasein ist atmosphärisch dadurch bestimmt, dass die spielerische Existenz eine Nichtzielgerichtetheit und Unbestimmtheit aufweist. In der technischen Existenz hingegen existiert der Mensch im Fortschritt (vgl. Buytendijk 1966, S. 23). Zuletzt ist es jedoch das Verhältnis beider, ihre dialektische Interpenetration, die der spielerischen Befreiung im Sinne von Schillers Spieltrieb, der analog zur Einbildungskraft in der kantischen Trichotomie steht (vgl. Sdun 1966), Notwendigkeit verschafft, während ein belangloses Spielen ideenflüchtig zu werden droht (vgl. Wendt 2019).

Neben der Atmosphäre des Romans muss die Struktur der fiktionalen Welt, die der literaturschaffende Geist erbaut und den lesenden Geist betritt, betrachtet werden (s. Sichler 2023, in diesem Heft). Dabei ist zu beachten, dass der Gehalt dieser Welt einen unerschöpflichen Quell für literaturwissenschaftliche Einsichten bietet, die Psychologie jedoch in erster Linie an ihrer Struktur orientiert ist. Damit die Lesenden die fiktionale Welt des Romans betreten können, bedarf es bei diesen selbst der Einbildungskraft. Ohne die Einbildungskraft würden die Worte letztlich bedeutungslos und unverständlich bleiben, erst durch die Einbildungskraft gelangt die Erzählung zur Lebendigkeit. Die Immersion des Lesenden in die Welt des Romans findet auf dem Fundament der Perspektivübernahme statt, das Sich-Hineinversetzten in die erlebende Figur. Thomas Fuchs bezeichnet diese Form der Perspektivübernahme als „erweiterte Empathie“ (Fuchs 2020). Eine direkte Fremdwahrnehmung im Sinne primordialer Empathie mit einer fiktiven Figur kann nicht stattfinden (auch wenn es bei starker Identifikation mit der Leseerfahrung so schienen mag), da empathische Akte sich auf die Erfahrung anderer beziehen, fiktive Figuren jedoch keine real erfahrende Subjekte sind (vgl. Wendler 2023, in diesem Heft). Mit Max Scheler gesprochen:

„Darum können wir wohl die Freuden und Leiden von Romanpersonen, von fiktiven gestalten des Dramas … nachfühlen – nicht aber … in Wirklichkeit echtes Mitgefühl mit ihnen haben. Denn Mitgefühl ist wesensgesetzlich verbunden mit der Realhaltung des Subjekts, mit dem man mitfühlt.“ (Scheler 1973, S. 107)

Eine primordiale Empathie mit einer fiktiven literarischen Figur ist also nicht möglich, eine Form des Sich-Hineinversetzens, die sich soweit steigern kann, dass sie in einem Verlorengehen mündet, hingegen schon. Der Lesende wird vom Literaturschaffenden in die Perspektive der Figuren versetzt. Die Fähigkeit großer Schriftstellerinnen und Schriftsteller ist es, die Lesenden durch die Perspektive der Figuren schauen zu lassen, sie aktiv in die Figuren hineinzuversetzen, ohne dass es den Lesenden selbst bewusst wird. Leseerfahrungen, die von einem Verlorengehen gekennzeichnet sind, können die Illusion erwecken, man habe es mit tatsächlicher Empathie zutun, es ist aber lediglich „die Qualität des fremden Zustandes – nicht seine Realität“ (Scheler 1973, S. 107) gegeben. Wer liest, erfährt so mittelbar die Sach- und Wertverhältnisse, mit denen die Figur im Roman konfrontiert wird. Auf diesem Wege kann man zu Erfahrungen gelangen, die sonst verborgen bleiben würden, aber durch die Kompetenz des Literaturschaffenden eröffnet werden. Die Beobachtungsgabe der Literaturschaffenden zeigt sich so als die besondere Fähigkeit, Wertverhältnisse zu erkennen und im schriftstellerischen Schaffen anschließend kompetent darzustellen.

Dies ist ein existenzielles Abenteuer der Einbildungskraft, die für die dritte Romangattung notwendige Voraussetzung ist. Daher führt die Suche nach einer Typologie des Romans über eventuelle Klassifikationsschemata für Texte hinaus. Die literaturpsychologische Untersuchung des Romanschreibens und -lesens ist mit einer anthropologischen Sondersituation konfrontiert.

6 Wertentdeckung durch den Roman

Die Literaturpsychologie wird durch den Roman methodologisch herausgefordert, weil seine offene Form nicht durch formale Kriterien identifiziert werden kann. Keine Metrik kann identifizieren, ob das Schriftwerk einer Versuchsperson Belletristik, psychologischer Realismus oder ein Zeugnis der Einbildungskraft ist. Hier ließe sich argumentieren, dass Romane schlichtweg kein Gegenstand der Psychologie sein können. Dieser Schlussfolgerung lässt sich jedoch mit Buytendijk widersprechen. Seine Psychologie des Romans skizziert eine Lösungsalternative. Im Sinne der hier entwickelten Argumentation spricht er von einer „dreifache[n] Erfahrung“, die

„in der Begegnung des Menschen erworben wird. An erster Stelle die diskursive Erkenntnis, die bisher den hauptsächlichen Inhalt der Psychologie dargestellt hat, dann die Erkenntnis der Existenz, wie diese in der Welt verläuft. Drittens aber begegnen wir im anderen dem ‚Dasein‘ von uns allen, allen menschlichen Möglichkeiten und zugleich der menschlichen Freiheit.“ (Buytendijk 1966, S. 12)

Sodann schlägt Buytendijk vor, diese drei Erkenntnisformen in einer Einheit zu verbinden, um den Gegenstandsbereich der Psychologie zu erweitern. Das bedeutet, dass sich der Roman nicht nur in die Psychologie eingliedert, sondern durch sein epistemisches Potenzial die Disziplin mitzugestalten imstande ist. Eine Psychologie, die Freiheit und Einbildungskraft untersucht, gestattet andere Antworten auf die Gegenstandsfrage als sie es als mechanistische, assoziationistische oder kognitivistische vermag.

Romane bieten eine methodologische Gelegenheit für die Psychologie. Es handelt sich bei ihnen weder um nüchterne textuelle Verhaltensdaten noch um bloße Spuren idiosynkratischer Erlebnisfragmente. Die Einbildungskraft manifestiert sich im symbolischen Medium der Schrift und Romane sind wesentlich durch (durchaus im Sinne Wilhelm Diltheys) strukturpsychologische Merkmale wie Narrativität ausgezeichnet. Was erforderlich ist, um die psychologische Methodologie für die Interpretation von Romanen weiterzuentwickeln, ist der Versuch, die drei Erfahrungsformen, von denen Buytendijk spricht, für den empirischen Diskurs zugänglich zu machen. Es bedarf also neuer Interpretationsmuster, die sich aus der Phänomenologie des Romans, die einer Phänomenologie der narrativen Einbildungskraft entspricht, ergeben.

Die Phänomenologie des Romans zielt auf Strukturmomente im Aufbau des Romans als bedeutungshaften ab, nämlich Ausdruck, Erlebnis und Wert. Die Einbildungskraft bekundet sich im Roman, sie kommt in ihm zum Ausdruck. Als Facette des menschlichen Daseins wird die Einbildungskraft so verständlich. Dieser Sachverhalt ist ein Auftrag an die Psychologie. Die Inhaltsanalyse des Romans als literarischem Text muss seiner sprachlichen Struktur gerecht werden, sodass die Einbildungskraft als Wurzel der Kreativität begreiflich wird. In diesem Sinne bestimmt Maurice Merleau-Ponty den Ausdrucksgehalt von Romanen als Konstitution einer bedeutungsvollen Totalität:

„Die Rolle des Romanschreibers ist es nicht, Ideen zu entwickeln oder auch nur Charaktere zu analysieren, sondern ohne jeden weltanschaulichen Kommentar ein zwischenmenschliches Geschehen darzustellen, es reifen und zum Ereignis werden zu lassen, und dies dergestalt, daß eine jede Veränderung in der Erzählungsfolge oder der Wahl der Perspektiven den romanhaften Sinn des ganzen Geschehens verwandelte. Ein Roman, ein Gedicht, ein Bild, ein Musikstück sind Individuen, d. h. Wesen, in denen Ausdruck und Ausgedrücktes nicht zu unterscheiden sind, deren Sinn nur in unmittelbarem Kontakt zugänglich ist und die ihre Bedeutung ausstrahlen, ohne ihren zeitlich-räumlichen Ort zu verlassen. In diesem Sinne ist unser Leib dem Kunstwerk vergleichbar. Er ist ein Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen, nicht das Gesetz einer bestimmten Anzahl miteinander variabler Koeffizienten.“ (Merleau-Ponty 1966, S. 181–182)

Das Erlebnis, das sich im Roman bekundet, steht immer im Verhältnis zu dem bereits benannten möglichen Abenteuer, doch diese Auseinandersetzung mit dem „Rätsel des Ich“ (Kundera 2010, S. 35) ist psychologisch nicht fassbarer als (wie Immanuel Kant argumentieren würde) das transzendentale Ego in der Introspektion. Mit dem Begriff Wert wird eine phänomenologische Einsicht zugänglich, der Buytendijk Ausdruck verleiht, wenn er sagt:

„Die Situation und die Personen, an deren Dasein wir durch den Roman teilnehmen, gehen uns gewiß ans Herz, und was wir ergriffen kennenlernen, ist also sicher kein reflexiver Verstandesinhalt. Es ist eine Kenntnis, die vollkommen von dem Maße abhängt, in dem der Autor unser Herz als Erkenntnisquelle erreicht, und dies wird bestimmt durch eine Evidenz, die nicht verstandesmäßig zu vertreten ist, die sich aber unmittelbar anmeldet.“ (Buytendijk 1966, S. 28)

Das Abenteuer des Romans findet nicht in arbiträrer Richtung statt. Was uns dazu bringt, „das Unentdeckte [zu] entdecken“ (Kundera 2010, S. 32), ist sein Wert oder Unwert. Die Leiden des jungen Werthers sind eine Exploration der Werthöhen und -tiefen des Liebeskummers. Die Unschuld, die Dostojewskijs Fürst Myschkin auszeichnet, hebt sich in einem Wertverhältnis zu seiner Umwelt ab. Und Becketts Molloy öffnet den Abgrund des geistigen Verfalls unter uns. Analog sagt Kundera mit Blick auf Kierkegaards Angst als Höhenschwindel der Freiheit: „Ich mußte Teresa erfinden, ein ‚experimentelles Ego‘, um diese Möglichkeit zu verstehen, um den Schwindel zu verstehen“ (Kundera 2010, S. 46). Das dämonische Genie der Literaturschaffenden folgt der Logik der Werte, oder, wie der Wertphänomenologe Scheler sagt, der logique du cœur. Im Geiste des bisher gesagten finden sich bei Scheler die folgenden Worte:

„Das ist ja die Mission aller echten Kunst: Weder Gegebenes zu reproduzieren (was überflüssig wäre), noch in subjektivem Fantasiespiel etwas zu erschaffen (was ephemer, und notwendig für alle andern ganz gleichgültig sein müßte) – sondern vorzustoßen in das All der Außenwelt und der Seele, um hier Objektives und Seiendes sehen und erleben zu machen, was Konvention und Regel bisher verbarg. Die Geschichte der Kunst ist in diesem Betracht ein sukzessiver Eroberungszug der anschaulichen Welt – der Innen- und Außenwelt – für die mögliche Erfassung; und zwar für eine Art von Erfassung, die keine Wissenschaft je zu geben vermöchte. Ein Gefühl, das z. B. heute jeder in sich wahrnimmt, mußte für die distinkte Wahrnehmung einst durch eine Art von ‚Dichter‘ erst der fürchterlichen Stummheit unseres inneren Lebens abgezwungen werden.“ (Scheler 1973, S. 247)

Die Fähigkeit der Literaturschaffenden liegt zu einem großen Teil darin, Wertkonstellationen und Verhältnisse aufzufassen und anschließend als literarisches Erzeugnis so darzustellen, dass der lesende Geist sie selbst erfährt. Gewiss bietet der Verweis auf die Wertphilosophie allein noch keine methodologische Lösung für die Experimentalpsychologie. Doch es ist ein Desiderat angezeigt. Die psychologische Bedeutung des Romans wird verständlich werden, wenn Theorien der Werterfahrung, der Narrativität und der Einbildungskraft die Inhaltsanalyse leiten. Weniger wird nicht genügen. Ohne diese methodologische Öffnung ist der Roman bloß ein Text und psychologische Kreativitätstheorien bleiben gegenüber dem Prozess der künstlerischen Schöpfung akzidentell. Künftige Untersuchungen werden eine entsprechende Methodologie konkretisieren müssen. Auch der phänomenologische Vergleich mit anderen Verbaldatenquellen wie dem Selbstbericht wird hierbei zu entwickeln sein.

Die phänomenologische Argumentationsweise, die den Sinn einer existenziellen Situation für die Psychologie erschließt, lässt sich generalisieren, sodass die hier vorgetragenen entsprechenden methodologischen Reflexionen nicht nur für den Roman gelten. Von der äußerlichen Identifikation der lebensweltlichen Strukturen, die instrumentell in Experimenten verwendet werden, zu ihrer innerlichen Bestimmung überzugehen, sodass ihre phänomenale Reichweite sichtbar wird, unterstreicht Sinn und Nützlichkeit der phänomenologischen Psychologie (siehe Wendt 2022). Sie erschließt den Gegenstandsbereich der Psychologie. Eine phänomenologische Analyse der menschlichen Lebenswelt dient jedoch nicht nur der Erweiterung psychologischer Methodik, sie validiert, wie gezeigt wurde, auch bestehende Methoden.

Des Weiteren ist der Roman, wie der Begriff des psychologischen Realismus anzeigt, selbst ein Quell psychologischer Erkenntnisse, nicht nur ihr Inhalt. Davon ist die Rede, wenn, wie eingangs angeführt, von Dostojewskijs psychologischem Genie gesprochen wird. So sagt Buytendijk: „Niemand kann nur durch das Lesen von Romanen Psychologe werden, aber jeder Psychologe kann durch das Lesen der großen Romane seine Einsicht erhellen“ (Buytendijk 1966, S. 30). Entscheidend ist auch hier eine Vermittlungsleistung und diese verlangt nach einem methodologischen Fundament. Wird die Frage zum Thema, wie die psychologischen Einsichten der Romanciers für die Psychologie verständlich werden, wie sich ihre Deskriptionen in die Experimentalpsychologie integrieren lassen, gelangt man an denselben Punkt, der in der bisherigen Analyse erreicht wurde. Was die Intuitionen der großen Romane für die Psychologie verständlich macht, muss ein vermittelndes Drittes sein. Es handelt sich um die Entwicklungsperspektive einer phänomenologischen Literaturpsychologie.