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„Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“

Leitender Redakteur Geschichte
Eine Äußerung des SED-Spitzenfunktionärs am 9. November 1989 löst den friedlichen Sturm auf die Berliner Mauer aus. Jetzt ist Günter Schabowski mit 86 Jahren gestorben

Sein Fehler veränderte die deutsche Geschichte. Am frühen Abend des 9. November 1989 kam Günter Schabowski kurz vor dem Ende einer Pressekonferenz in Ost-Berlin ins Stammeln. Mehrere Korrespondenten hatten ihn gefragt, ab wann denn die gerade verkündete neue Reglung für die Ausreise aus der DDR gelten solle? Nervös blätterte der sonst immer wortgewandte langjährige Chefredakteur des „Neuen Deutschlands“ und jetzige Berliner SED-Chef in den mitgebrachten Unterlagen. Dann antwortete Schabowski: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“

Ein Journalist rief: „Gilt das auch für Berlin-West?“ Wieder wusste Schabowski nicht, was er antworten sollte, und schaute in seine Papiere: „Also, doch, doch …“ und las dann ab: „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen.“

Verunsichert beendete er nun die Pressekonferenz rasch – er hatte dem US-Sender NBC ein persönliches Interview versprochen. Es war 19.01 Uhr. Die meisten Journalisten im Saal des Pressezentrums in Ost-Berlin waren unschlüssig. Was hatten sie gerade erlebt? Und was bedeutete die neue Reiseregelung tatsächlich? Fiel jetzt die Berliner Mauer? Am schnellsten fing sich der Vertreter der britischen Nachrichtenagentur Reuters. Nur eine Minute nach dem Ende der Pressekonferenz gab der deutsche Dienst seines Unternehmens eine Eilmeldung heraus: „Ausreise über alle DDR-Grenzübergänge ab sofort möglich – Schabowski“ lautete der Text schlicht.

Aber genau das hatte die SED nicht beabsichtigt. Zwar sollte tatsächlich eine neue Reiseregelung den Druck auf andere sozialistische Länder senken, die Ausreise sollte jedoch geregelt und kontrolliert vonstatten gehen. Daher war eigentlich vorgesehen, sie mitten der Nacht zu veröffentlichen, damit kein Run auf die Grenzübergangsstellen einsetzte. Genau dazu kam es jetzt Schabowskis unabgesprochener Äußerung wegen: Zu Zehntausenden drängten Ost-Berliner, aber auch DDR-Bürger aus der Nähe der innerdeutschen Grenze an die nächstgelegenen Kontrollstellen und verlangten, ohne Pass und Visum in den Westen gelassen zu werden. Kurz vor Mitternacht mussten die Grenzer nachgeben und die Schranken öffnen: Die Mauer war gefallen, am späten Abend des 9. November 1989. Das war faktisch das Ende der DDR. Günter Schabowski hatte die Grenzöffnung ermöglicht, aber nicht verursacht.

Als einziger führender SED-Funktionär überhaupt bekannte er sich nach dem Mauerfall zur Verantwortung für das Mauer- und Stasi-Regime. Von ehemaligen Freunden und Verbündeten wie Egon Krenz oder Hans Modrow wurde er deshalb geschnitten und verachtet, mitunter auch als „Verräter“ geschmäht.

Seine Frau Irina behauptete zuletzt 2014, Schabowski habe sehr wohl bewusst das Signal der Grenzöffnung geben wollen. Dem widersprechen zwar seine eigenen späteren Äußerungen wie auch der Ablauf der Ereignisse. Gleichwohl bleibt eine Unsicherheit.

Denn unmittelbar nach der Pressekonferenz hatte der SED-Sprecher vor der Kamera von NBC über ausreisewillige DDR-Bürger wörtlich gesagt: „They are not further forced to leave GDR by transit through another country.“ Auf die Nachfrage des NBC-Reporters: „It is possible for them to go through the wall …?“ antwortete er: „It is possible for them to go through the border.“

Das war deutlich klarer als seine Äußerung vor den versammelten Journalisten. Jedoch entfaltete diese Äußerung nahezu keine Wirkung, denn sie wurde erst 2009 bei den Recherchen zu einem Doku-Drama über den Mauerfall wiederentdeckt. Den offensichtlichen Widerspruch selbst aufklären konnte Günter Schabowski nicht.

Der 9. November 1989 gab seinem ganzen Leben eine deutliche Wendung. Geboren Anfang Januar 1929 in einfachen Verhältnissen in Pommern, absolvierte Schabowski fast seine gesamte Karriere in Berlin. Nach dem Abitur 1946 – um einem Kriegseinsatz war er, obwohl „Jungschaftsführer“ in der Hitler-Jugend, herumgekommen – wählte er den Journalismus als Beruf. Allerdings im sowjetisch besetzten Teil Berlins.

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Bei der Zeitung der SED-Einheitsgewerkschaft „Tribüne“ stieg Schabowski schnell zum stellvertretenden Chefredakteur auf. Er erlebte den Volksaufstand am 17. Juni 1953 mit – und verstand ihn, ganz im Sinne der SED-Propaganda, als „westliche feindliche Verschwörung“. Rückblickend bewertete er das selbst sehr kritisch: „Es würde nicht reichen, wenn man nur erklärt, ich bin bescheuert gewesen, verführt oder sonst was.“ Der NS-Staat habe massenhaft totalitäre Charaktere geprägt, die „bestens in diese stalinistische Partei hineinpassten“, sagte er – und meinte auch sich selbst.

In Leipzig und der Parteihochschule der KPdSU in Moskau qualifizierte sich Schabowski als Funktionärsnachwuchs und wurde 1968 stellvertretender Chefredakteur des „Neuen Deutschlands“. Fast acht Jahre lang, von Anfang 1978 bis Ende 1985, leitete er später das SED-Zentralorgan.

Damit gehörte Schabowski zum engsten Zirkel der Macht um Erich Honecker. Schon 1981 wurde er Kandidat, drei Jahre später Vollmitglied des SED-Politbüros, 1985 auch Chef der wichtigen Ost-Berliner Parteiorganisation und wachte unnachgiebig über die Parteilehre. Als sich im Herbst 1988 Schüler der Erweiterten Oberschule „Carl von Ossietzky“ in Berlin-Pankow offen für Meinungsfreiheit und Veränderungen in der DDR einsetzten, drang Schabowski darauf, sie vom Schulbetrieb auszuschließen.

2008 distanzierte er sich auf einer Veranstaltung der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus klar von der Partei, der er seit 1950 angehört hatte: „Im Grunde genommen haben die Sowjets ein rotes Ei in Berlin-Pankow abgelegt, aus dem eine stalinistische Raupe, aber nie ein demokratischer Schmetterling geworden ist.“

Obwohl Schabowski wesentlich dem Generalsekretär Erich Honecker seinen Aufstieg verdankte, sah er die fatale Schwäche der DDR. Daher bemühte er sich, den Kurs zu ändern, was jedoch mit den vom Stalinismus geprägten Funktionären wie Honecker und Erich Mielke faktisch unmöglich war. Daher tat sich Schabowski mit dem etwas jüngeren SED-Kronprinz Egon Krenz zusammen, um Honecker abzulösen.

Nach dessen Sturz Mitte Oktober 1989 war Schabowski faktisch der zweite Mann der SED und der offizielle Sprecher des Politbüros – ein ganz neue Einrichtung. In dieser Funktion hielt er die Pressekonferenz ab, auf der ihm das so folgenreiche Missverständnis unterlief.

Am 21. Januar 1990 verstieß die inzwischen zu SED/PDS umbenannte Staatspartei Schabowski. Ihren führenden Kräften um Modrow und Gregor Gysi ging es nur mehr darum, so viel DDR wie möglich zu retten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Schabowski geistig längst von Kadavergehorsam und Parteidisziplin gelöst. Ohne Privilegien und nennenswerte Unterstützer aus dem Kreis alter Staats-, Armee- und Stasi-Funktionäre musste der ehemalige SED-Spitzenmann seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Er tat das wieder als Journalist – bei einer Wochenzeitung im Nordosten Hessens.

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Seit 1995 hatte sich Günter Schabowski wegen der Morde an der Berliner Mauer zu verantworten. Im Gegensatz zu den Mitangeklagten räumte er seine Mitverantwortung ein. In seinem Schlusswort vor der Urteilsverkündung sagte er: „Als einstiger Anhänger und Protagonist dieser Weltanschauung empfinde ich Schuld und Schmach bei dem Gedanken an die an der Mauer Getöteten. Ich bitte die Angehörigen der Opfer um Verzeihung.“ Das Gericht verurteilt ihn wegen Totschlags zu drei Jahren Haft. In das Urteil ging sein Bedauern strafmildernd ein; Egon Krenz, der allerdings auch länger Verantwortung im Politbüro getragen hatte, war zu mehr als sechs Jahren Haft verurteilt worden.

Schabowski brauchte nur gut ein Jahr seiner Strafe abzusitzen – im offenen Vollzug. Angesichts seiner Reue war das wohl angemessen. Er agierte wieder politisch, unterstützte die Berliner CDU und riet dem damaligen Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit 2001 von einer Koalition mit der PDS ab.

Der ehemalige Karrierekommunist sah jetzt die marxistisch-leninistische Ideologie sehr kritisch: „Die Entartung liegt bereits bei Marx. In der absolutistischen Vorstellung einer Organisation, einer sogenannten klassenlosen Gesellschaft. Und das Absurde an der ganzen Geschichte ist, dass diese klassenlose Gesellschaft nur durch einen Machtfaktor existieren kann, der alles andere einebnet.“ Eine demokratische und lebensfähige Variante des Antikapitalismus könne es gar nicht geben.

In den letzten Jahren seines Lebens wohnte Schabowski zunächst in einer Plattenbauwohnung an der Wilhelmstraße in Berlin-Mitte, bevor er nach mehreren Infarkten und Schlaganfällen in ein Pflegeheim umziehen musste. Hier starb er am Sonntag frühmorgens.

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