Nietzsches Krankheit: Genie und Wahnsinn
ArchivDeutsches �rzteblatt11/2000Nietzsches Krankheit: Genie und Wahnsinn

VARIA: Geschichte der Medizin

Nietzsches Krankheit: Genie und Wahnsinn

Wilkes, Johannes

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LNSLNS Der geistige Zusammenbruch vollzog sich in verschiedenen Stufen.

Am Sonntag, dem 6. Januar 1889, erhielt Franz Overbeck, Professor f�r Kirchengeschichte in Basel, unverhofft Besuch. Sein Kollege Jacob Burckhardt, der bekannte Kunstgeschichtler, war zu ihm geeilt. Jacob Burckhardt hielt einen Brief in der Hand, den er am gleichen Tag erhalten hatte. Der Brief kam aus Turin, der Absender war Overbecks Freund Friedrich Nietzsche. Overbeck erschrak, als er den Brief las:
"Meinem verehrungsw�rdigen Jacob Burckhardt. Das war der kleine Scherz, dessentwegen ich mir die Langeweile, eine Welt geschaffen zu haben, nachsehe. Nun sind Sie - bis du - unser grosser gr�sster Lehrer, denn ich, zusammen mit Ariadne, haben nur das goldne Gleichgewicht aller Dinge zu sein, wir haben in jedem St�cke Solche, die �ber uns sind . . . Dionysos." (17)
Overbeck eilte zur psychiatrischen Klinik "Friedmatt" und legte dem ihm bekannten Leiter und Gr�nder der erst vor drei Jahren er�ffneten Anstalt, Professor Dr. med. Ludwig Wille, den Brief vor. Auf Willes dringendes Anraten fuhr Overbeck noch am gleichen Tag mit dem Zug von Basel nach Turin. Mit M�he fand er die kleine Pension, wo Nietzsche bescheiden logierte. Den Freund erblickend, st�rzte Nietzsche auf ihn zu, umarmte ihn heftig und brach, Overbeck erkennend, in einen Tr�nenfluss aus. Dann sank er in Zuckungen aufs Sofa zur�ck.
Verdachtsdiagnose
Overbeck stand nun vor der schwierigen Aufgabe, den erkrankten Freund nach Basel in die Klinik bringen zu m�ssen. Mit Hilfe der Suggestion eines jungen deutschen Zahnarztes gelang die �berf�hrung des erregten Kranken in die Baseler Klinik. (7)
"Pupillen different, rechte gr��er als die linke, sehr tr�ge reagierend. Strabismus convergens. Starke Myopie. Zunge stark belegt; keine Deviation, kein Tremor! Facialisinnervation wenig gest�rt, f�hlt sich ungemein wohl und gehoben. Gibt an, da� er seit acht Tagen krank sei und �fters an heftigen Kopfschmerzen gelitten habe. Er habe auch einige Anf�lle gehabt, w�hrend derselben habe sich Pat. ungemein wohl und gehoben gef�hlt, und h�tte am liebsten alle Leute auf der Stra�e umarmt und gek��t, w�re am liebsten an den Mauern in die H�he geklettert", so lautete der Befund des aufnehmenden Arztes (1). Als Diagnose wurde notiert: progressive Paralyse. Dass schon die Verdachtsdiagnose die neurologische Untersuchung bestimmte, erkennt man an den angegebenen Befunden. Es handelte sich bei den beschriebenen Pupillenst�rungen (Anisokorie und gest�rte Pupillenreaktion) und auch bei den lebhaften Eigenreflexen um typische Symptome der progressiven Paralyse. Noch nicht vorhanden ist das typische Zittern der Zunge mit perioraler Unruhe ("mimisches Beben") und die h�ufig feststellbare dysarthrische Sprachst�rung. Das psychopathologische Erscheinungsbild entsprach am ehesten der expansiv-agierten Verlaufsform: Megalomanie mit wechselnden Gr��enwahnideen bei weitgehend intakter Orientierung bez�glich anderer Personen.
�ber einen m�glichen syphilitischen Prim�raffekt Nietzsches ist viel geschrieben und diskutiert worden. Um das Ergebnis der Diskussion vorwegzunehmen: Trotz zahlreicher Indizien ist der Beweis einer solchen Infektion nicht gelungen. An einen Bordellbesuch in K�ln aus seiner Bonner Studienzeit - den Thomas Mann in einzigartiger Weise in seinen "Dr. Faustus" hineingewoben hat - kn�pfen sich manche Spekulationen. Vielfach wird auch davon ausgegangen, Nietzsche habe sich in seinen Leipziger Jahren infiziert. In der Baseler Krankenakte findet sich der Eintrag, Nietzsche habe angegeben, sich "zweimal spezifisch infiziert" zu haben. (1) Hieraus meinte man, den Beleg einer Syphilisinfektion in der Anamnese gefunden zu haben. Dieser Beleg wird jedoch wieder unsicher, wenn man die Quellen j�ngeren Datums betrachtet. In der 1980 erschienenen RichardWagner-Biographie Gregor-Dellins findet sich die erstmalige Wiedergabe eines Briefes eines Frankfurter Arztes, Dr. Otto Eiser, der Nietzsche im Oktober 1877 zusammen mit einem Augenarzt untersucht hatte. In diesem Brief an Wagner hei�t es: "Bei der Er�rterung seiner geschlechtlichen Zust�nde versicherte N. nicht nur, da� er nie syphilitisch gewesen sei, sondern er hat auch meine Frage nach starker geschlechtlicher Erregung und etwaiger abnormer Befriedigung derselben verneint. Doch wurde der letzte Punkt von mir nur fl�chtig ber�hrt, und ich darf deshalb N.� Worten nach dieser Seite nicht allzuviel Gewicht beilegen. Triftiger scheint mir als Gegengrund, da� der Kranke von Tripper-Ansteckungen w�hrend seiner Studentenzeit berichtet, - dann auch, da� er j�ngst in Italien auf �rztliches Anraten mehrmals den Coitus ausge�bt haben will." (5) Hatte Nietzsche Tripper gemeint, als er die Angabe einer durchgemachten "spezifischen Infektion" gemacht hatte? Hierbei muss jedoch ber�cksichtigt werden, dass man die Syphilis jahrhundertelang nicht von Tripper unterschieden und beide als Lues bezeichnet hatte.
Overbeck, der den Freund in die Klinik begleitete, erstarrte vor Erstaunen, als Nietzsche in der verbindlichsten Manier seiner besten Tage und mit w�rdiger Haltung Wille begr��te: "Ich glaube, da� ich Sie fr�her schon gesehen habe, und bedaure sehr, da� mir nur Ihr Name nicht gegenw�rtig ist, wollen Sie -" Wille: "Ich bin Wille". Nietzsche (ohne eine Miene zu verziehen, in jener Manier und im ruhigsten Tone, ohne jede Besinnung fortfahrend): "Wille? Sie sind Irrenarzt. Ich habe vor einigen Jahren ein Gespr�ch mit Ihnen �ber religi�sen Wahnsinn gehabt. Der Anla� war ein verr�ckter Mensch, Adolf Vischer, der damals hier lebte." (8) Was Overbeck so ersch�tterte, war, dass Nietzsche diese Erinnerungen nicht in die geringste Beziehung zu seiner eigenen augenblicklichen Lage brachte und dass kein Zeichen verriet, dass ihn der Psychiater etwas anging: "Ruhig l��t er sich dem hereintretenden Assistenzarzt mit der Verordnung eines Fr�hst�cks und eines Bades f�rs n�chste �bergeben und verl��t mit ihm, auf erhaltene Aufforderung, ihm zu folgen, ohne weiteres das Zimmer . . ." (8)


In der Baseler Krankenakte finden sich folgende Eintr�ge (11):
"11. Januar: Ganze Nacht nicht geschlafen. Sprach ohne Unterla�. Stand �fters auf. Fr�hst�ckt mit gro�em Appetit. Fortw�hrend motorische Erregung. Legt sich zuweilen auf den Boden. Spricht verworren.
12. Januar: F�hlt sich so unendlich wohl, da� er dies h�chstens in Musik ausdr�cken k�nne.
13. Januar: Zeigt einen ungeheuren Appetit, verlangt immer wieder zu essen. Singt, johlt, schreit.
14. Januar: Fortw�hrend gesprochen und gesungen. Besuch der Mutter. "Mutter macht einen beschr�nkten Eindruck." Ein Bruder der Mutter starb in einer Nervenheilanstalt. Die Schwestern des Vaters waren hysterisch und etwas exzentrisch. (Angaben der Mutter.) Vater durch Fall von der Treppe hirnkrank. Nietzsche unterh�lt sich anfangs harmlos mit der Mutter, dann pl�tzlich: "Sieh in mir den Tyrannen von Turin." Redet dann verworren weiter.
15. Januar: Sehr laut. Laut schreiend und gestikulierend.
17. Januar: Parese des linken Facialis viel deutlicher. Sprache: Keine nachweisbaren St�rungen."

Die angereiste Mutter setzte gegen alle Widerst�nde durch, dass Nietzsche in die n�chstgelegene Klinik seiner Heimatstadt Naumburg nach Jena verlegt wurde. Auch der damalige Klinikleiter von Jena, Professor Otto Binswanger, hatte sich wissenschaftlich intensiv mit der progressiven Paralyse besch�ftigt. Er kam zeitweise zu v�llig anderen Erkenntnissen �ber die �tiologie der Erkrankung und diskutierte noch 1894 in der "Berliner Klinischen Wochenzeitschrift" eine psychogene Genese, derzufolge der paralytische Krankheitsprozess "unbestritten als die Folgeerscheinung einer functionellen �beranstrengung des Centralnervensystems und dabei in erster Linie der Gro�hirnrinde" zu betrachten sei (2). Emil Kraepelin widersprach Binswanger in der f�nften Auflage seines verbreiteten Lehrbuches "Psychiatrie" (1896) entschieden, konnte sich jedoch noch nicht eindeutig f�r die Syphilis als Ursache entscheiden. Dieser Verdienst kommt Nietzsches erstem Pathobiographen P. J. M�bius zu. Kraepelin 1896: "Auch M�bius h�lt Tabes und Paralyse geradezu f�r Nachkrankheiten der Syphilis. Leider gestatten die heute vorliegenden Thatsachen eine so einfache Deutung, wie mir scheint, noch nicht." (14)
Bei der Aufnahme in Jena wird bei der Erhebung der somatischen Befunde zus�tzlich eine leicht unregelm��ig verzogene Pupille diagnostiziert. In den n�chsten Monaten beherrschen Wahnideen mit starken Erregungszust�nden das klinische Bild. Im Oktober 1889 kommt es zu einer gewissen inneren und �u�eren Beruhigung, die als deutliche Remission interpretiert wurde. Die Mutter nimmt ihn wiederum gegen alle Widerst�nde im M�rz 1890 mit nach Hause nach Naumburg, wo sie ihn bis zu ihrem Tode 1897 pflegte.
Der geistige Zusammenbruch Nietzsches vollzog sich in verschiedenen Stufen, die in den ersten Jahren auch mit kurzzeitigen Aufhellungen verbunden waren - ein Verlauf, der bei vielen Paralytikern beobachtet werden konnte. Die leichten Remissionen stellten jedoch nicht den erhofften Beginn einer Genesung dar. Im Herbst 1890 verschlechterte sich sein Geisteszustand rapide. "Es scheint nun, als ob der Wahnsinn zum Bl�dsinn umzuschlagen Miene macht", schrieb ein Jugendfreund im Februar 1891 an Overbeck. (4) Nietzsche sprach nur noch wenig, wirkte zunehmend apathisch, zeigte selten ein L�cheln oder eine andere Reaktion au�er unverh�ltnism��iger Bewunderung. Sein Aussehen in jenen Jahren war hierzu kontrastierend auff�llig gesund und frisch. Willen und Antrieb nahmen jedoch ab.
M�glicherweise entwickelte sich ab 1893 zus�tzlich eine Tabes dorsalis, die ebenfalls eine quart�re Manifestation der Syphilis darstellt: Er erkannte alte Freunde nicht mehr, ab Herbst 1894 nur noch die Mutter, die Schwester und die Hausgehilfin Alwine. Nach dem Tod der Mutter im Jahr 1897, auf den Nietzsche in keiner erkennbaren Weise mehr reagierte, �bernahm die Schwester Elisabeth die Pflege. Sie hatte schon in den R�umlichkeiten in Naumburg ein Nietzsche-Archiv eingerichtet und zog dann mit dem Kranken und Alwine in eine repr�sentative Villa nach Weimar. Ausgesuchte Besucher durften einen Blick auf den Kranken werfen, w�hrend Elisabeth Nietzsche geschickt und raffiniert die Rechte an den Schriften ihres Bruders erwarb und das Nietzsche-Archiv regierte.
Krankheit und Werk
Friedrich Nietzsche, bis zum Beginn seiner Erkrankung kaum bekannt, wurde nun rasch ber�hmt. Seine Leser hat er zumeist in zwei Lager gespalten. Gl�henden Anh�ngern und Verehrern standen sch�rfste Kritiker unvers�hnlich gegen�ber. Die Krankheit Nietzsches hat ihrerseits zu dieser Polarisierung beigetragen. F�r die einen wurde hierdurch ein Mythos begr�ndet, der mit dem Begriffspaar Genie und Wahnsinn umschrieben werden kann, f�r die anderen war die Krankheit Nietzsches ein Beleg f�r das Pathologische in seinen Schriften. M�bius� schon zitierte Pathographie endet mit der Warnung an Nietzsche-Leser: "Seid mi�trauisch, denn dieser Mann ist ein Gehirnkranker!" (15) Solche Schl�sse zu ziehen, aus der Kenntnis der Krankheit retrospektiv das Werk zu kritisieren, ist gef�hrlich und wissenschaftlich nicht korrekt. Das Werk muss als solches auf seinen Wert und seine Aussage hin untersucht werden.
In der Nacht vom 24. auf den 25. August 1900 bekam Nietzsche einen Schlaganfall. Am 25. August 1900 tat er seinen letzten Atemzug. Eine Obduktion zur Sicherung der Diagnose fand nicht statt.


Literatur beim Verfasser


Anschrift des Verfassers
Dr. med. Johannes Wilkes
Psychiatrische Klinik mit
Poliklinik der Universit�t
Erlangen-N�rnberg
Abteilung f�r Kinder- und
Jugendpsychiatrie
Schwabachanlage 6 und 10
91054 Erlangen


Die Krankheit Friedrich Nietzsches hat zur Polarisierung seiner Leser beigetragen.

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