Interpretation H�lfte des Lebens von Friedrich H�lderlin

Unterm Lyrikmond

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H�lderlin: H�lfte des Lebens

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Interpretation: H�lfte des Lebens

Das Sch�ne an diesem Gedicht ist: Man kann es verstehen, ohne es zu verstehen. L�sst man einige etwas seltsame Formulierungen einfach als die �berkandidelte Art des Dichters stehen, ohne sie zu hinterfragen, hat man ein Gedicht zur H�lfte des Lebens: Ein sch�ner ausklingender Sommer und nun droht der Winter.

Steigt man jedoch in die Tiefen der Wortbedeutungen und Symbole hinab, scheint das Graben in immer tieferen Interpretationsschichten kein Ende zu nehmen. Ich konzentriere mich auf die Themen Gedichtaufbau und Wortbedeutungen.

Beim formalen Aufbau scheint nicht viel herauszuholen zu sein f�r eine Interpretation � kein Reim, unregelm��iges Metrum �, und doch erkl�rt das metrische Ger�st, warum das Gedicht so klingt, wie es klingt.

Zun�chst ist zu sagen, dass H�lderlin sich freier Rhythmen bedient, was bedeutet, dass sich der Satzbau nicht mehr den Versen bzw. dem Metrum unterordnet, sondern die Verse nur noch dienende Funktion haben, indem sie Satzteile aufnehmen, wie sie der Dichter anzuordnen w�nscht. Das ist nicht unbedingt bequemer f�r den Dichter, weil seine Verantwortung f�r die Verse mit der Freiheit, die er sich einr�umt, w�chst. Oder anders gesagt: Die Einteilung sollte Sinn und Verstand haben. Gleiches gilt f�r das Metrum: Mehr Freiheit bedeutet auch mehr Sorgfalt. Hebungen m�ssen m�glichst eindeutig sein, man kann nicht wie sonst in regelm��igen Versen auch mal eine schw�chere Hebung mitschleppen, und auch die metrische Struktur sollte einen gestalterischen Willen erkennen lassen, nicht beliebig sein. Wie ist das nun bei H�lderlin und seinem Gedicht H�lfte des Lebens?

Der Titel selbst ist interessant, weil sein Metrum ein adonischer Vers ist: XxxXx. Adonis war der Gott der Sch�nheit bei den alten Griechen und er nahm kein gutes Ende. Die Bezeichnung adonischer Vers r�hrt vom Metrum des Klagerufs �Armer Adonis!� (griechisch O ton Adonin) in den Klageliedern zum Tod von Adonis her [Otto Kn�rrich (2005): Lexikon lyrischer Formen (2. �berarb. Aufl.), Stuttgart: Alfred Kr�ner Verlag, S. 1]. Das k�nnte Zufall sein, doch auch die letzte Zeile des Gedichte ist ein adonischer Vers, und da H�lderlin mit der griechischen Antike auf Du und Du stand, wird Absicht dahinter stecken, um auf das Thema Sch�nheit und Tod hinzuweisen.

Die ersten beiden Verse sind noch v�llig regelm��ig im Metrum: xXxXxXx. Es wechseln sich Senkung und Hebung ab (Jambus), am Ende steht eine unbetonte Silbe (weibliche Kadenz), die beim Zeilensprung einen weichen �bergang zur n�chsten Zeile schafft. Im dritten Vers beginnen die Unregelm��igkeiten. Das Hebungsschema xXxxX f�hrt mit fallender Betonungstendenz und der Hebung am Ende zu einem Schlusspunkt. Die seltsame Formulierung �h�nget ... das Land in den See� ist nach Ulrich Knoop vom Projekt Klassikerwortschatz (Link siehe unten) eine damals noch gebr�uchliche Beschreibung f�r einen Abhang, der hier im See m�ndet.

Hans-Dieter Gelfert hat in Wie interpretiert man ein Gedicht? (Reclam 1994) gezeigt, dass die Vokalanordnung der ersten beiden Verse wichtig ist f�r ihre Lebendigkeit, indem er als Gegenbeispiel �Mit gelben �pfeln h�nget / und voll mit roten Rosen � verwandte. Diese Version klingt wesentlich flacher, weil die i-H�hepunkte fehlen.

Der vierte Vers kn�pft vom Metrum her an die ersten beiden an, hat nur einen Versfu� (=Hebung+Senkung) weniger. Und obwohl nach der dritten Zeile eigentlich ein Punkt zu erwarten gewesen w�re, f�hrt H�lderlin den Satz mit der Anrufung der Schw�ne fort. Gleichzeitig ist diese Anrufung aber auch eng verkn�pft mit den folgenden Versen. Er ist sozusagen die Br�cke zwischen den beiden Strophenteilen.

Inhaltlich wird es ab jetzt stark symbolisch, ohne dass es intuitiv verst�ndlich ist. Wenn die Stimme des Gedichts Schw�ne anspricht, sind eigentlich Dichter gemeint, denn seit der Antike gilt der Schwan als Symbol des Dichters. Damit werden die n�chsten Verse erkl�rlich: Die K�sse als Musenk�sse, die ungew�hnliche Bezeichnung Haupt f�r einen Schwanenkopf und das heilign�chterne Wasser. Thomas Gr�ff (Lyrik von der Romantik bis zur Jahrhundertwende, Oldenbourg Interpretationen Band 96, S. 26) erkl�rt den Begriff heilign�chtern so: �Mit diesem greift H�lderlin einen Topos der klassischen Dichtung auf: Sobria ebrietas nannte man die rhetorische Figur dort und sie bedeutete die Verbindung von Begeisterung und Besonnenheit�. Also k�nnte man den zweiten Teil der ersten Strophe prosaisch so �bersetzen: Ihr geneigten Dichter, wenn ihr von den Musen gek�sst euch ans Werk macht, dann tut ihr es in einer Mischung aus heiligem Rausch und handwerklicher Arbeit.

Bleibt man in der zweiten Strophe innerhalb des Dichter-Bildes, bekommt der Ausruf �Weh mir� eine ganz andere Bedeutung, als wenn man ihn nur als Bangen vor dem kommenden Winter des Lebens versteht. H�lderlin gibt sich alle M�he durch Satzbau und Metrum die vier ersten Verse so stotternd wie m�glich her�berzubringen: Satzeinsch�be, ein Komma, wo keines hingeh�rt, stets betonte Versenden, die Pausen herausfordern, und die vielen W-W�rter tun ein �briges. Angelehnt an die Symbol-Erl�uterungen von Ulrich Knoop vom Projekt Klassikerwortschatz (Link siehe unten) w�rde ich die Verse etwa so �bersetzen: Weh mir, wie soll ich Gedichte schreiben (Symbol: Blumen), wenn Zeit daf�r ist (Winter), mir es aber daf�r an Erleuchtung/Einf�llen (Sonnenschein) und der n�tigen Mu�e/inneren Ruhe (Schatten der Erde = Nacht) fehlt? Hier wird das Prinzip des Begriffes heilign�chtern wieder aufgenommen.

Die letzten drei Verse erkl�ren, warum das lyrische Ich f�rchtet, keine Gedichte mehr zustande zu bekommen. Ulrich Knoop erl�utert die beiden vorletzten Zeilen so: �Die Mauern sind deshalb kalt, weil die Feuer erloschen sind. Und diese Mauern sind sprachlos, weil die H�user nicht von der Sprache der Menschen erklingen.� Auch das Klirren der Fahnen, mit denen metallische Wetterfahnen gemeint sind, soll nach Ulrich Knoop ein Ger�usch sein, dass man nur h�rt, wenn sich Fahnen im Wind bewegen und es gleichzeitig sehr still ist. Das lyrische Ich f�rchtet also sein dichterisches Verstummen aufgrund seiner Isolation. Damit ergibt sich eine ganz andere Schlussfolgerung, als wenn man lediglich das Gegensatzpaar Sommer-Winter zur Hand hat. Allerdings ergibt sich auch die Frage: Ist H�lderlin Schuld, dass moderne Dichter gerne ihre Gedichte in einem verschl�sselten Code schreiben? W�re ein bisschen mehr R�cksicht auf unsere bescheidenen Geisteskr�fte als Leser nicht besser?

Autor: Hans-Peter Kraus (Kontakt)
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