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Gorbatschow. Paradies

Dokumentarfilm | Lettland/Tschechien 2020 | 100 Minuten

Regie: Witali Mansky

Der russische Regisseur Witali Mansky besucht den knapp 90-jährigen früheren Sowjetpräsidenten Michail Gorbatschow in dessen Haus in Moskau. In ihren Gesprächen forscht er nach der Vergangenheit Gorbatschows, dem Zerfall der Sowjetunion und den Erinnerungen an dessen verstorbene Frau, aber auch nach dessen jetziger Sicht der Dinge. Behutsam und respektvoll gefilmter, intimer Dokumentarfilm, der voller Empathie ist, durchaus aber auch nach kritischen Momenten in Gorbatschows Vita und nach philosophischen Grundierungen sucht. So wird der sensible Filmessay zum Requiem eines bedeutenden Staatsmannes. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
GORBACHEV. HEAVEN
Produktionsland
Lettland/Tschechien
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Vertov/Hypermarket Film/Ceska Televize
Regie
Witali Mansky
Buch
Witali Mansky
Kamera
Alexandra Iwanowa
Musik
Karlis Auzans
Schnitt
Jewgeni Rybalko
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Eine Begegnung mit dem alternden Michail Gorbatschow, der sich in seiner Villa an sein Leben, seine Ehefrau Raissa und die politischen Zeitläufte erinnert.

Diskussion

Behutsam und ganz ohne Worte nähert sich die Kamera an. Die ersten Bilder zeigen die Totale einer Villa im Winter, ein Zimmer, durch das ein Kater streift, einen Tisch mit mehreren Telefonen, in gedeckten Farben, so wie der ganze Film. Dann, aus der Rückansicht, einen Mann, der vor einem Fernsehgerät sitzt. Es scheint, als ob er schläft. Erst der Ruf der Kuckucksuhr weckt ihn auf.

Es ist Michail Gorbatschow, vormals einer der Herrscher der Welt, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der UdSSR und Staatspräsident der Sowjetunion. Der Dokumentarist Witali Mansky sucht eine Begegnung mit dem fast Neunzigjährigen, um ihn noch einmal zu seiner Biografie zu befragen. Doch „Gorbatschow. Paradies“, gedreht im Winter 2019/20, ist weniger das komprimierte politische Resümee eines langen Lebens; es ist vor allem ein leises Essay zum Thema des Alterns und des körperlichen Verfalls. Und: Es ist ein Liebesfilm.

„Putin beobachtet mich insgeheim“

Denn auch zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod scheint Raissa Gorbatschow, seine Ehefrau, stets anwesend. Nicht nur auf den Gemälden, die die Villa schmücken, sondern auch in den Gedanken und Gefühlen ihres Mannes. Sie ist gewissermaßen sein guter Geist. Sein Halt, seine Stütze in schweren Stunden. Am Ende des Films besucht Gorbatschow ihr Grab, an einem nebligen Wintertag. „Dieser Ort ist für mich vorgesehen“, sagt er dann, „schon gebucht.“ Im Tod wird das Paar, das nahezu 50 Jahre in Liebe verbunden war, wieder zueinander finden.

Mansky führt die Gespräche voller Empathie, er lässt Gorbatschow Raum, fällt ihm nicht ins Wort. Aber er insistiert auch, wenn Gorbatschow ausweicht; er fragt nach kritischen Momenten in seiner politischen Vita, sucht nach philosophischen Grundierungen. „Fühlen Sie sich als freier Mann?“, will er von Gorbatschow wissen, und erhält zur Antwort: „Gibt es Freiheit überhaupt?“

Die Villa ist ihm 1991 vom Staat zur Verfügung gestellt worden, er darf sie bis zu seinem Lebensende nutzen, doch der hohe Zaun, der um sie errichtet wurde, assoziiert auch eine Art Gefängnis.

Putin hat sich bei ihm noch nie blicken lassen; drei anberaumte Treffen sind unverrichteter Dinge vergangen. Dennoch ist Putin in „Gorbatschow. Paradies“ eine der am meisten präsenten Figuren: Es hat den Anschein, als flimmere er ständig über die Bildschirme, bei Tag und bei Nacht, mit Reden und Auftritten, kühl und streng. Gorbatschow: „Er beobachtet mich insgeheim.“

Putin ist als eine Art Gegenpol zu seinem einst so aufgeschlossenen, geselligen und menschenfreundlichen Vor-Vorgänger ins Bild gesetzt. In einem der Gespräche beharrt der Regisseur darauf, dass ihm Demokratie in Russland heute vorenthalten werde: „Demokratie gab es unter Gorbatschow.“ Der hört sich das an und reagiert verschmitzt, über Putin müssten sie noch reden: „Dann hättet Ihr auch genügend Stoff für Euren Film und könnt Geld damit verdienen.“ Zu mehr lässt er sich nicht hinreißen. Über Boris Jelzin hingegen urteilt er vernichtend; er nennt ihn eine impertinente Natur, einen „Dummkopf, Wirrkopf“.

Erinnerungen eines langen Lebens

Den Zerfall der Sowjetunion hätte er verhindern müssen, urteilt Gorbatschow über sich selbst. Das betrachtet er als seine größte Niederlage. Und er glaubt noch immer an die Strahlkraft des Sozialismus: „Der Bedarf an sozialistischen Ideen wird wachsen...“

Der alte Mann hört nicht mehr gut; es dauert ewig, bis er seinen massigen Körper aus dem Lehnsessel erhebt. Jeder Schritt ist ihm eine Qual; ohne Fahrstuhl könnte er die Treppen der Villa nicht bewältigen. Seine Antworten sind kurz. Je länger die Reminiszenzen zurückliegen, desto intensiver drängen sie nach vorn. Gorbatschows Paradies, von dem der Titel spricht, sind die Erinnerungen: Die Kindheit. Der Großvater, dem in der Haft als vermeintlicher Trotzkist die Hände gebrochen wurden und der dennoch fest an Stalin glaubte. Die erste Begegnung mit Raissa, und dass er nur ein einziges Mal im Leben die Faust hob, um sie zu schlagen; er bedauert es bis heute. Die Treffen mit Ronald Reagan, und wie sie miteinander rangen.

Alte Lieder scheinen aus der Vergangenheit auf, Gorbatschow kennt sie auswendig und singt ein paar Zeilen. Und Gedichte, die er so liebte. Die Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortet er mit langem Schweigen. Den Eindruck, dass er in Russland vergessen wird, will er nicht gelten lassen und verweist auf die Ewigkeit.

Oft bleibt die Kamera auf Distanz, erfasst Gorbatschow aus der Ferne, mitunter mit Weitwinkelobjektiv, das die Innenräume der Villa zur Bühne eines filmischen Abschiedsgesangs macht. Es sind Motive der Einsamkeit, die Enkel weit weg, irgendwo im Ausland; was von ihnen bleibt, ist nur ein Foto. Dann wieder lässt sich die Kamera auf intime Nähe zum Körper, zur Haut des Porträtierten ein. Einmal betrachtet Gorbatschow seine Arme. Er entdeckt seltsame Hautveränderungen, tiefe Furchen in der Armbeuge. Er nimmt es gelassen hin, was soll er auch dagegen machen; ein Spruch muss genügen: „Was man auch sagt und was man auch tut, das Alter fordert seinen Tribut.“

Requiem für einen großen Staatsmann

Fast am Ende des Films begleitet Witali Mansky lettische Theaterleute, die zu Besuch bei Gorbatschow sind. Sie bereiten ein Zwei-Personen-Stück über ihn und Raissa vor, über „Liebe und Freiheit“. Noch zu Lebzeiten wird Gorbatschow zur Kunstfigur, in diesem Stück – und auch in Manskys Film. Vielleicht war es die letzte Gelegenheit, einen jener Männer, der entscheidend zur Veränderung der Welt beitrug, in einem dokumentarischen Essay zu würdigen. Witali Mansky hat sie klug und sensibel genutzt: ein Requiem.

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