Jede Geschichte ist ein Stück Heimat - In Kathrin Aehnlichs Roman „Der König von Lindewitz“ wird ein kleiner ostdeutscher Stadtteil zum Nabel der Welt : literaturkritik.de

Jede Geschichte ist ein Stück Heimat

In Kathrin Aehnlichs Roman „Der König von Lindewitz“ wird ein kleiner ostdeutscher Stadtteil zum Nabel der Welt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bruno Henker ist der „König von Lindewitz“. Vom Fenster seiner Wohnung hoch über dem Marktplatz sieht er „seinen Untertanen bei ihrer Arbeit“ zu. Verfolgt ihre Wege und nimmt als unsichtbarer Zuhörer an ihren Gesprächen teil. Atmet an Frühsommerabenden den zu ihm heraufsteigenden Duft der Linden und weiß genau, dass in dieser Welt nichts von Bestand ist. Wo gestern noch ein Uhrengeschäft war, bietet heute ein Hörgeräteladen seine Dienste an. Entkernte Telefonzellen erinnern an Zeiten, in denen die wenigsten Menschen einen Festnetzanschluss besaßen und Handys noch Zukunftsmusik waren. Und mit Bruno vertrauten Namen wie „Erica“ oder „Belcanto“ können die jungen Menschen der Gegenwart nichts mehr anfangen.

Aber nicht nur die Dinge, auch die Menschen verschwinden. Als Totengräber seines Viertels weiß Bruno genau, dass sie am Ende alle – „die Unachtsamen, die Kranken, die Alten, die Selbstmörder, alle, denen im Leben nicht mehr zu helfen gewesen war“ – auf seinem Friedhof landen. Und hier kümmert er sich um die ihm „Anvertrauten“, wie er diejenigen nennt, die zu ihm in Urnen oder Särgen kommen, Schweigende wie er selbst, den man in Lindewitz, wo jeder einen Spitznamen hat, den „Stummen“ nennt.

Kathrin Aehnlichs Roman Der König von Lindewitz erzählt die Geschichte und die Geschichten eines kleinen, überschaubaren Stadtteils einer ostdeutschen Metropole. Damit bleibt die 1957 in Leipzig geborene Schriftstellerin, die viele Jahre als Redakteurin, Regisseurin und Autorin für den Hörfunk des MDR tätig war, einem zentralen Thema ihres bisherigen Schaffens treu. In Romanen wie Alle sterben, auch die Löffelstöre (2007), Wenn die Wale an Land gehen (2013) und Wie Frau Krause die DDR erfand (2019) sowie zahlreichen Erzählungen, Hörspielen, Hörfeatures und Dokumentarfilmen spielte immer wieder das Schicksal ihrer eigenen, in der DDR sozialisierten Generation eine wichtige Rolle.

Deren Lebensambivalenz zwischen Widerstand, Anpassung und Opposition, Mitmachen und Verrat in einem Staat, der in existentiellen Fragen nicht mit sich diskutieren ließ, erzählt sie ironisch, pointiert und ohne die in vielen Biographien aus jenen Tagen steckende Tragik auszublenden. Aber auch ihr Blick auf die nach dem Verschwinden der DDR entstandene neue Wirklichkeit – einem Vorgang, der in den Köpfen der in diesem Land Großgewordenen lange nicht so schnell vor sich ging, wie vielleicht von manchen gewünscht – entbehrt nicht der Kritik.

Lindewitz ist so ein Ort, wo Altes und Neues sich mischen. Wo sich Tag für Tag an der „Bude“ auf dem Marktplatz, einem seit Urzeiten dort stehendem flachen „Bau mit einem Vordach“ bei Kaffee, Bier, Schnaps und Zigaretten die Alteingesessenen treffen und die Dinge des Lebens diskutieren. Hier beginnt man seine Reden häufig mit Sätzen wie „Als ich noch Student war.“ Oder „Als ich noch im Handel tätig war.“, was dem Wort „früher“ eine geradezu magische Aura verleiht. Und auch wenn in diesem Früher beileibe nicht für jeden alles besser war, so bilden die vielen, von Generation zu Generation weitergereichten Geschichten aus jenen Zeiten doch den Boden, auf dem das Zugehörigkeits- und das Heimatgefühl der in dieser kleinen Welt Lebenden gedeihen.

In 23 Kapiteln und einem Epilog, in dem die Autorin sich selbst mit in die Welt der von ihr erfundenen Figuren einschreibt, erzählt Kathrin Aehnlich von den großen und kleinen Ereignissen, die Lindewitz und die Lindewitzer bewegen. Da sind die Zwillingsschwestern Anne und Marie Klopf, der Einfachheit wegen von den Eltern einst Anne-Marie gerufen. Ihr hundertster Geburtstag steht bevor, alles ist vorbereitet für eine opulente Geburtstagsfeier. Doch aus den Geburtstagsgästen werden über Nacht Trauergäste, denn die beiden, die am selben Tag geboren wurden, stellen auch zeitgleich im Lindewitzer Krankenhaus ihre Lebensfunktionen ein.

Da ist die jüngere, in einem Pflegeheim lebende Schwester der Zwillinge, Agnes, „Tante Mausi“ genannt, und ihre Affäre mit einem stadtbekannten Fußballspieler, den alle wegen seiner genialen Flankentechnik nur als „Butterweich“ kannten. Da sind die Kinder der beiden greisen Oberhäupter der Familie, Claudia, die Tochter Annes, und Claudius, der Sohn von Marie, zwischen denen einst mehr gewesen sein könnte als lediglich ein verwandtschaftliches Verhältnis. Und da ist die Enkelgeneration, vertreten durch Benedikt, Claudias Sohn, der nach seinem Jurastudium nicht etwa als Anwalt zu arbeiten begann, sondern den Tante-Emma-Laden seiner Tante Hulda wieder flottmachte und nun „Überlebensmittel“ an die Lindewitzer verkauft.

Sie alle sind im Roman präsent mit ihren Geschichten. Geschichten, die die Gegend, in der sie spielen, zur vertrauten Heimat werden lassen, je öfter man sie sich wiedererzählt. Geschichten, die zum Teil weit in die Zeit zurückreichen, zum Teil aber auch von beklemmender Aktualität sind. Zu Letzteren zählen die von den Personen des Romans als „die Vorkommnisse“ bezeichneten Auftritte von rechten Schlägerbanden, die kurz vor der Zeit, zu der Aehnlichs Roman spielt, randalierend und rassistische Parolen skandierend durch Lindewitz marschierten.

Was diese düstere Episode betrifft, so  bezieht sich die Autorin hier offensichtlich auf die Ereignisse in Leipzig-Connewitz vom Januar 2016, wo nach einer Veranstaltung der ausländerfeindlichen Legida, dem Leipziger Pendant zur Dresdener Pegida, mehr als 200 gewaltbereite Hooligans den als links geltenden Stadtteil schwer verwüsteten und erst durch einen massiven Polizeieinsatz gestoppt werden konnten. Fast alle zentralen Personen ihres Romans sind von der Randale betroffen gewesen. Und auch auf den Prozess gegen eine linksextremistische Gruppierung, die unter der Führung einer Leipziger Studentin an verschiedenen Orten im Osten Deutschlands Überfälle auf Rechtsextreme unternommen hatte, wird im Roman angespielt. Denn die Urteilsverkündung bringt sowohl Linke wie Rechte auf die Straße und auf dem Lindewitzer Marktplatz wird über Sinn und Unsinn von Selbstjustiz diskutiert.

Für Bruno Henker stellen all diese Entwicklungen eine Bedrohung seines Königreichs dar: „Es schmerzte ihn, dass der Marktplatz, der eigentlich die Bühne für das Lindewitzer Alltagsleben sein sollte, zunehmend Schauplatz für Demonstrationen und Gewalt geworden war.“ Doch er muss sich auch eingestehen, dass das, was hier in seinem Stadtteil geschieht, vielleicht nur sinnbildlich für die Stimmung im ganzen Land ist. Doch was kann man dafür tun, damit sich diese Stimmung ändert, damit die Menschen sich nicht mehr anschreien, nicht mehr ihre Fäuste als Argumente einsetzen, sondern von dem, was einst war, lernen für das Heute.

Zum Höhepunkt des Romans macht Kathrin Aehnlich deshalb eine Versammlung, wie sie der Marktplatz von Lindewitz in den Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung nicht mehr gesehen hat. Und damit das Ganze einen harmlosen, nichtideologisierten Anstrich bekommt und von den zuständigen Behörden auch genehmigt wird, soll Benedikts Großtante Mausi – jemand, „der alt ist und sich jetzt Sorgen macht“ – die Veranstaltung anmelden und dort als Hauptrednerin auftreten. Und als es dann so weit ist, hat die in einer betreuten Wohnanlage lebende, lebenskluge 94-Jährige, nachdem sie drei „Geschichten vom Schweigen“ aus ihrer Vergangenheit und der ihrer Familie erzählt hat, tatsächlich eine wichtige Botschaft an ihre Zuhörer: „Wir müssen miteinander reden und uns zuhören – und nicht nur die Meldungen lesen, die uns unser Telefon und unser Computer anzeigt.“

Wie das gehen könnte, erzählt Kathrin Aehnlichs Roman in seinem letzten Kapitel. Es ist überschrieben mit Wo wir zu Hause sind und bringt noch einmal alles zusammen, was sich unter dem Begriff „Heimat“ subsumieren lässt: traditionelles Essen inklusive der „obligatorische[n] Soljanka“, der „Russischen Eier“ und des „Hackepeter-Igel[s] mit seinen Stacheln aus Zwiebelspalten“, dazu „Erdbeer-Bowle“ und Bier und all die alten Geschichten, die immer wieder, zu jedem Geburtstag, jeder Hochzeit, jeder Familienfeier erzählt wurden – „aber wären sie nicht erzählt worden, hätte uns etwas gefehlt.“ Ein schöner, so hoffnungsvoller wie auch leicht utopischer Schluss eines Romans, der sich auf humorvolle Weise mit unserer Gegenwart auseinandersetzt und im Osten des Landes – nicht nur, weil er dort spielt und auf viele kollektive Erinnerungen der dort Lebenden zurückgreift – sicherlich eine positivere Resonanz finden wird als westlich der Elbe.    

Nicht verschwiegen werden darf freilich auch, dass der Autorin manchmal eine mehr tatsachengeprägte Exkursion in die DDR-Vergangenheit – etwa die zum BFC Dynamo, dem Lieblingsfußballklub von Stasi-Minister Erich Mielke, der alles unternahm, damit seine Mannen Jahr für Jahr die DDR-Oberliga gewannen, oder die zu Wolfgang Mattheuers Gemälde „Die Ausgezeichnete“ – zu lang gerät. Der in derlei Abschnitten herrschende feuilletonistische Ton will sich dann nur schwer an den übrigen Erzählstil anpassen. Und auffällig ist nicht zuletzt auch ein äußerst flüchtiges Lektorat. Fehlende Worte, verwechselte Buchstaben, Kommas, die man vergeblich sucht oder an Stellen findet, wo sie partout nicht hingehören, grammatische Fauxpas und Wortdopplungen lassen die Lektüre nur allzu häufig zu einer ärgerlichen Angelegenheit werden.

Titelbild

Kathrin Aehnlich: Der König von Lindewitz.
Verlag Antje Kunstmann, München 2024.
304 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783956145834

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