Die maximale diplomatische Demütigung totaler Ahnungslosigkeit ersparte Michail Gorbatschow seinem Saunafreund Helmut Kohl – aber wirklich nur die maximale. Ansonsten nahm der Kreml-Chef wenig Rücksicht auf den Bundeskanzler, zumindest am 13. März 1991.
Ein sowjetischer Militärkonvoi hatte Erich und Margot Honecker vom sowjetischen Militärkrankenhaus Beelitz bereits am Vortag insgeheim zum Fliegerstützpunkt Sperenberg gebracht. Erst als an diesem Mittwoch der Abflug des mit Haftbefehl gesuchten Ex-SED-Generalsekretärs und DDR-Staatschefs nach Moskau unmittelbar bevorstand, informierte der Botschafter der UdSSR in Bonn, Wladislaw Terechow, die Bundesregierung über die Aktion – so viel Anstand immerhin brachte Gorbatschow auf.
Schon seit Mai 1990 hatten sich die Honeckers in Beelitz dem Zugriff zuerst der DDR-, nach dem 3. Oktober der gesamtdeutschen Justiz entzogen. Zu Militärstützpunkten der Sowjetunion hatten die Berliner Strafverfolger keinen Zugang, sie waren faktisch exterritorial.
Rasch öffentlich bekannt wurde die in Moskau organisierte Fluchthilfe durch zwei Zufälle. Am Morgen des 13. März waren Honeckers Anwälte, Wolfgang Ziegler und Nicolas Becker, unangemeldet zum Krankenhaus auf dem sowjetischen Militärareal bei Potsdam gekommen. Dort sei ihnen eröffnet worden, berichteten sie später, die Honeckers befänden sich auf dem Weg nach Moskau. Ziegler und Becker behandelten die Nachricht zunächst vertraulich, erst auf konkrete Nachfrage bestätigten sie den Abflug.
Ausgeplaudert hatte ein sowjetischer Offizier die „breaking news“ gegen Mittag des 13. März: „Nach Honecker müssen Sie nicht mehr suchen, er ist nicht mehr in Beelitz“, sagte dieser Mann auf Fragen eines Reporters der „Bild“-Zeitung. Um 16 Uhr ging die Nachricht um die Welt.
Die „Verlegung“ sei aus „humanitären Gründen“ erfolgt, teilte Botschafter Terechow mit. Im Krankenhaus Beelitz hätten nicht die notwendigen Geräte zur Verfügung gestanden, den 78-jährigen früheren Diktator zu versorgen. Als ob es nicht in wenigen Dutzend Kilometer Entfernung von dem sowjetischen Militärhospital reihenweise hochmodern ausgestattete Kliniken in West-Berlin gab.
Nur hätte sich Honecker dafür aus dem Schutz des sowjetischen Militärs herausbegeben müssen – und dann wäre natürlich der seit dem 30. November 1990 bestehende Haftbefehl gegen ihn wegen vielfachen Mordes an der innerdeutschen Grenze vollstreckt worden. Selbstverständlich wäre er trotzdem auf dem neuesten Stand der Forschung behandelt worden, nur eben unter Polizeibewachung.
Die Sowjets trieben erheblichen Aufwand für die Aktion – und hatten auch den Termin genau ausgesucht: Für den 15. März 1991 war die Übergabe der sowjetischen Ratifizierungsurkunde zum Zwei-plus-vier-Vertrag über die Wiedervereinigung vorgesehen. Erst damit trat das völkerrechtliche Abkommen formal in Kraft. Wenn die Bundesregierung also gegen Honeckers Flucht Handgreifliches unternommen hätte, etwa Jagdflugzeuge losgeschickt hätte, um die Maschine vor Verlassen des deutschen Luftraums zur Umkehr zu zwingen, hätte Moskau ein starkes Druckmittel gehabt.
Auch sonst hatten sowjetische Militärs vorgesorgt – jedenfalls laut dem, was in den Tagen nach der Geheimaktion durchsickerte (oder lanciert wurde, das ist nicht klar zu unterscheiden). Deutsche Medien berichteten am 16. März 1991, der angeblich schwerkranke Honecker sei erhobenen Hauptes zu der zweimotorigen Turboprop-Maschine gegangen, die seine Frau und ihn nach Moskau fliegen sollte.
Der Flugplatz Sperenberg war hermetisch abgeriegelt, an die Offiziere wurde scharfe Munition ausgegeben. Dutzende Männer des KGB sicherten das Flugzeug; es galt angeblich die Parole: „Ein Sowjetbürger wird nach Hause geflogen.“ Fröhlich winkte Honecker noch aus der Flugzeugtür, dann startete die Maschine.
Nach dem Durchsickern der Aktion reagierte die Bundesregierung betont schmallippig. Ein Sprecher erklärte, es sei ein Verstoß gegen den „Vertrag über die Bedingungen des befristeten Aufenthaltes und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland“ und gegen das Völkerrecht gewesen, Honecker auszufliegen.
Das Ehepaar hielt sich inzwischen im Spezialkrankenhaus für hohe KP-Funktionäre in Moskau auf, und Michail Gorbatschow hielt seine schützende Hand über die beiden. Doch der Putschversuch im August 1991 schwächte den KPdSU-Chef erheblich; neuer starker Mann war der russische Präsident Boris Jelzin. Seine Regierung forderte die Honeckers im Dezember 1991 auf, Moskau freiwillig zu verlassen, da sie sonst als unerwünschte Ausländer abgeschoben würden.
So folgte die nächste absurde Wendung des Versuchs, sich der Verantwortung für seine Taten zu entziehen: Die Honeckers wurden zu Botschaftsflüchtlingen, gingen nämlich in die Vertretung Chiles in Moskau. Botschafter Clodomiro Almeyda war selbst nach dem Putsch gegen Salvador Allende 1973 in die DDR ins Exil gegangen. Für sein eigenmächtiges Verhalten wurde der Diplomat im März 1992 abberufen, und Erich Honecker Ende Juli 1992 an Deutschland ausgeliefert.
Hier musste er sich dem Landgericht stellen. Doch wieder gab es eine unerwartete Wendung: Der Berliner Verfassungsgerichtshof befand nach wenigen Wochen Prozess, das Verfahren gegen Honecker verstoße gegen die Menschenwürde, weil er das Urteil absehbar nicht erleben werde. Der frühere SED-Chef wurde am 13. Januar 1993 entlassen und verließ Europa binnen Stunden Richtung Chile. Dort lebte er noch fast anderthalb Jahre in Freiheit bis zu seinem Tode 1994 – das Urteil im Politbüro-Prozess fiel im September 1993.
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