Manchmal ist die Unfreiheit viel sicherer als die (relative) Freiheit. Im Frühjahr 1945 zum Beispiel konnte es eine ganz gute Idee sein, hinter den soliden Ziegelmauern einer Haftanstalt in der Provinz auf die näherkommende Rote Armee zu warten. Jedenfalls besser, als auf den ständig bombardierten und beschossenen Straßen der Reichshauptstadt unterwegs zu sein. Zumal für einen erkennbar „wehrfähigen“, noch recht jungen Mann.
Anfang März 1945 saß Erich Honecker schon seit rund neuneinhalb Jahren hinter Gittern. Der Saarländer und ehemals überaus aktive KPD-Jugendfunktionär war Ende 1935 von der Gestapo verhaftet, im Juni 1937 vom Volksgerichtshof zu zehn Jahren Haft verurteilt und als Sträfling 523/37 zum Vollzug nach Brandenburg-Görden überstellt worden. Da er sich in der Haft gut geführt hatte, war der gelernte Dachdecker ab 1943 im Einsatz, um Bombenschäden auszubessern. Stationiert war das Arbeitskommando im Frauengefängnis Barnimstraße in Berlin-Friedrichshain.
Hier entschied er sich zur Flucht. Damit schlug er „nicht nur alles, was er sich an Erleichterungen und Begnadigungsaussichten über Jahre hinweg so mühsam erarbeitet hatte, glatt in den Wind“, schreibt der Potsdamer Historiker Martin Sabrow im gerade erschienenen ersten Band seiner großen Honecker-Biografie. Zusätzlich setzte der 31-Jährige „auch sein Leben mit unfassbarer Leichtfertigkeit aufs Spiel“.
Denn Berlin war nicht nur zu großen Teilen von Bombenangriffen zerstört oder wenigstens beschädigt. Es waren auch strenge Kontrollen eingerichtet, die Fahnenflüchtige der kaum 50 Kilometer weiter östlich, an der Oder gelegenen Front aufgreifen sollten. Wer aufgegriffen wurde, ohne gültige Papiere zu haben, landete schnell bei der Gestapo oder in einem KZ.
Erich Honecker. Das Leben davor 1912–1945“
Ohnehin war eine inoffizielle Existenz in Berlin zu dieser Zeit nur sehr schwer möglich: Ohne Anmeldung und Lebensmittelmarken bekam man nichts zu essen, brauchte also Helfer, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen. So kurz vor dem Untergang des Dritten Reiches war es Polizei und SS längst egal, ob sie einen untergetauchten Juden, einen Deserteur oder einen entwichenen Häftling aufgriffen: Lange zu leben hatte keiner von ihnen mehr.
„Ausbruch in die Aussichtslosigkeit“ nennt Sabrow deshalb treffend die Flucht Erich Honeckers zusammen mit seinem Haftkameraden Erich Hanke am 6. März 1945. Nach einem schweren Luftangriff räumten rund 30 Gefangene auf dem beschädigten Dachboden eines anderen Gefängnisses im Bezirk Lichtenberg Schutt weg – die Ziegel waren von einer Bombe weitgehend abgedeckt. Plötzlich erschien Hanke: das Signal, die Flucht zu wagen.
Rasch kletterten die beiden auf den Firstbalken des Gebäudes. Sie hasteten bis zum Giebel eines benachbarten Hauses und kletterten dort am Blitzableiter auf das Dach und durch eine Luke auf den Dachboden, dann die Treppe hinab auf die Straße. Doch damit hatte nur das Entweichen geklappt – die eigentliche Flucht musste jetzt erst noch folgen.
Honecker folgte Hanke zur Wohnung von dessen Tante – doch die war nicht da, womit der Fluchtplan schon nach Kurzem praktisch in sich zusammenbrach. Vorbereitet darauf waren sie nicht. Erst einmal mussten sie dringend ihre Häftlingskleidung loswerden, die sie mit breiten gelben Streifen als entlaufene Gefangene kennzeichnete.
In einem halb zerstörten Luftschutzkeller fanden sie erst einmal einen Unterschlupf. Erfolglos liefen sie erst nach Neukölln, dann, weil sie auch dort niemand antrafen, zurück nach Mitte. In einem Keller in Kreuzberg übernachteten sie – ohne Aussicht auf ein dauerhaftes, einigermaßen sicheres Untertauchen.
Da fiel Hanke ein, dass ein Onkel von ihm in der Nähe wohnte, allerdings direkt in der Mietskaserne, in der seine Eltern lebten. Hier würde die Polizei sicher nach ihm suchen, und hier kannte man ihn auch. Also eigentlich kein gutes Versteck – aber die letzte Hoffnung. Für Hanke, nicht für Honecker, denn zwei unerwartete Gäste konnte der Onkel nicht verstecken. Ab sofort war der Saarländer in der Reichshauptstadt auf sich allein gestellt.
Als letzte Hoffnung ging er zur Wohnung einer Aufseherin des Gefängnisses Barnimstraße, Charlotte Schanuel. Mit ihr zusammen hatte Honecker nach einem schweren Luftangriff Verschüttete geborgen, in der beschädigten Anstalt. Sie, nach Sabrows Recherchen „durchaus keine Menschenschinderin“, nahm den entlaufenen Gefangenen auf, auch wenn das ein enormes Risiko bedeutete.
Detailliert analysiert Sabrow, der seit 2004 mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschungen eines der größten geschichtswissenschaftlichen Institute Deutschlands leitet, warum Honecker die Flucht beendet. In seinen stark stilisierten Memoiren von 1980 hieß es dazu nur: „Es blieb kein anderer Weg als zurück zum Arbeitskommando im Frauengefängnis Barnimstraße, sollte ich nicht noch in letzter Stunde der Gestapo in die Hände fallen.“ Eine erstaunliche Aussage – und trotzdem zutreffend, jedenfalls in der Situation in Berlin im Frühjahr 1945.
Charlotte Schanuel und der zur SS dienstverpflichtete Arbeitskommandoaufseher Paul Seraphim, bis 1933 ein Sozialdemokrat, schafften es, Honecker trotz inzwischen erfolgter offizieller Meldung der Flucht wieder ins Häftlingskommando zurückzuschleusen. Wesentlich beteiligt an der Rettung war wohl auch Staatsanwalt Erich Kolb, der den Arbeitseinsatz von Strafgefangenen beaufsichtigte: Er verzichtete auf eine Meldung. Honecker kam zurück nach Brandenburg-Görden, wo er am 27. April 1945 von Soldaten der Roten Armee befreit wurde.
Bald darauf heiratete er Charlotte Schanuel, die allerdings schon wenige Jahre später an einem Gehirntumor starb. Honecker bekam 1950 mit Edith Baumann, seiner Stellvertreterin im FDJ-Vorsitz, eine Tochter, trennte sich aber wegen seiner neuen (und jüngeren) Liebschaft Margot Feist rasch wieder. Feist wurde zu Margot Honecker, blieb bis zu dessen Tod 1994 im chilenischen Exil mit ihm zusammen und starb erst 2016.
Sabrow zeigt, wie dramatisch auch das erste Leben eines vermeintlich so langweiligen Apparatschiks wie Erich Honecker sein kann – wenn man denn jedem Informationsfragment nachjagt. Dann lohnt es sogar, über die ersten 33 Lebensjahre eines Menschen mehr als 600 Seiten zu schreiben.
Für Honecker blieb zeitlebens die Erfahrung der 1930er-Jahre prägend. Sein späterer außenpolitischer Bevollmächtigter in der SED, Hermann Axen, formulierte es 1991 so: „Für Erich war wichtig, ein Dach überm Kopf zu haben, genug zu essen, warme Kleidung, genug Geld für eine Kinokarte am Wochenende und ein Kondom.“
Genau diese bescheidenen, in Wirtschaftskrise und Drittem Reich geprägten Ansprüche sollte die DDR nach Erich Honeckers Überzeugung erfüllen. Sie tat es – doch um einen hohen, viel zu hohen Preis: die Freiheit.
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