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Geschichte Zeitgeschichte in empörten Zeiten

Krippe und KZ – Wer auf solche Ideen kommt, hat ein Problem

Das Titelbild einer ostalgischen Neuerscheinung eines DDR-relativierenden Verlages sorgt für Empörung bei Buchhändlern, heißt es. Die Episode stellt allen Beteiligten ein schlechtes Zeugnis aus. Was ist nur mit dem Verständnis der deutschen Vergangenheit los?
Leitender Redakteur Geschichte
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Auf diese Assoziation muss man auch erst einmal kommen: Kinder in KZ-Kluft nach der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 und das Cover der Neuerscheinung
Quelle: SZ Photo/picture alliance; Eulenspiegel Verlag/dpa
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Eigentore kommen vor, im Fußball wie im echten Leben. Sogar zwei Eigentore im selben Spiel. Aber drei ungewollte Treffer in derselben Sache, von drei verschiedenen Seiten, und das noch über fast ein halbes Jahrhundert hinweg – derlei ist wirklich selten.

Der Berliner Eulenspiegel-Verlag, der unter verschiedenen Namen vorwiegend ewiggestrige DDR-Verharmlosung publiziert, hat mit dem Titelbild seiner Neuerscheinung „Wie wir lebten, wer wir waren“ für einen Sturm der Entrüstung gesorgt. Sagt der Verlag. Wenn das stimmt, liegt der seltene Fall eines (mindestens) dreifachen Eigentors vor.

Das Originalfoto von ADN, aufgenommen am 22. November 1976 in einer Kinderkrippe in Torgau
Das Originalfoto von ADN, aufgenommen am 22. November 1976 in einer Kinderkrippe in Torgau
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R1122-022 / Grubitzsch (geb. Raphael), Waltraud / CC-BY-SA 3.0

Das erste davon schoss die offizielle DDR-Nachrichtenagentur ADN, indem sie Ende 1976 die Aufnahme der Reporterin Waltraud Raphael (später verheiratete Grubitzsch) verbreitete. Darauf waren Kinder zu sehen, die in einer „Krippe“ in Torgau von Mitarbeiterinnen zum „täglichen Planschen im krippeneigenen Schwimmbad“ gebracht wurden, so der ADN-Text. Und weiter: „Damit sich niemand erkältet, haben die Krippenerzieherinnern die praktischen Umhänge genäht.“ Die Aufnahme erhielt sogar beim Wettbewerb World Press Photo 1977 einen zweiten Platz in der Kategorie „Humor“.

Diese Vorlage griff die Zeitschrift „Stimme der Märtyrer“, das Mitteilungsblatt des Vereins Hilfsaktion Märtyrerkirche, in der Juni-Ausgabe 1978 auf. Der überkonfessionelle Verein, gegründet 1969, kümmerte sich seinerzeit vor allem um verfolgte Christen in kommunistischen Staaten; heute werden vorwiegend Christen unterstützt, die in muslimischen Staaten wegen ihres Glaubens Nachteile in Kauf nehmen müssen.

Das Cover der Zeitschrift „Stimme der Märtyrer“, Ausgabe 6/1978, mit dem beschnittenen und in anderen Kontext gesetzten Bild
Das Cover der Zeitschrift „Stimme der Märtyrer“, Ausgabe 6/1978, mit dem beschnittenen und in anderen Kontext gesetzten Bild
Quelle: Stimme der Märtyrer / Sammlung Kellerhoff

Auf dem Cover wurde das Foto beschnitten, stark gerastert und vergröbert gezeigt, um – mutmaßlich bewusst – Assoziationen mit den schrecklichen Aufnahmen von Kindern in befreiten nationalsozialistischen Konzentrationslagern zu wecken, vor allem aus dem Stammlager Auschwitz. Auf einem der bekanntesten dieser Bilder von Ende Januar oder Anfang Februar 1945 sind Kinder in den typisch breit gestreiften Drillich-Anzügen zu sehen, von denen manchmal sogar eines lächelt.

Die Redaktion von „Stimme der Märtyrer“ beschnitt das Foto so, dass der gesamte Kontext wegfiel – und füllte diese selbsterzeugte „Leerstelle“ mit einer infamen Behauptung: „Kinder in Häftlingskleidung. Ein aus einem Sowjet-KZ in der UdSSR geschmuggeltes Bild. Die Kinder wurden in einem Häftlingslager geboren und wachsen dort auf, bis die Eltern einmal entlassen werden.“

ADN meldete, als diese tatsächlich missbräuchliche Verwendung in der SED-Diktatur bekannt wurde: „Ein World Press Photo für üble Anti-Sowjet-Hetze missbraucht.“ Das traf zu, doch ein Eigentor der DDR-Agentur blieb das Bild – einfach weil diese Assoziation ausgelöst werden konnte.

Das Cover des Buches „Wie wir lebten, wer wir waren“
Das Cover des Buches „Wie wir lebten, wer wir waren“
Quelle: Eulenspiegel Verlag/dpa

Das zweite Eigentor wurde fast 46 Jahre später, im Frühjahr 2024, geschossen. Unglücklicher Schütze war diesmal der Eulenspiegel-Verlag, zu dem traditionsreiche frühere DDR-Verlage wie „Das Neue Berlin“ und „Neues Leben“ (beide entstanden 1946) sowie der frühere „Eulenspiegel-Verlag“ (entstanden 1954) ebenso gehören wie Neugründungen nach der Deutschen Einheit wie „Edition Ost“ und „Spotless“ (beide entstanden 1991).

Das Programm der Verlagsgruppe ist zu weiten Teilen linkslastig, bedient Ostalgie und verharmlost das SED-Regime. Zu den jüngeren Veröffentlichungen zählt etwa die zweibändige Autobiografie des vorletzten SED-Machthabers Egon Krenz, der zwischen Erich Honecker und Hans Modrow für knapp sechs Wochen amtierte.

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Typisch für das Eulenspiegel-Programm ist auch das nun umstrittene Buch „Wie wir lebten, wer wir waren“. Es handelt sich um eine „bunte Chronik des Lebens in der DDR“ – schon in sich ein Widerspruch, war doch die vorherrschende Farbe der SED-Diktatur ein trübes Grau in allerdings zahlreichen Schattierungen. Es gehe nicht um „Ausmitteln à la ,Es war nicht alles gut’ – ,Es war nicht alles schlecht’“, heißt es im Werbetext, sondern um „erzählten Lebensalltag“. Also um Ostalgie in reinster Form.

Nur leider erwies der Verlag diesem Ziel einen Bärendienst durch die Auswahl des Titelfotos. Denn es illustriert, nimmt man nicht nur den Ausschnitt auf dem Cover wahr, sondern das Original, keineswegs ein „buntes Leben“, sondern die von klein auf allen DDR-Bürger anerzogene Einordnung in „Kollektive“ statt individuelle Entwicklung. Dass die Kinderkrippen, in der SED-Diktatur vielfach betrieben von „Kombinaten“ oder „Volkseigenen Betrieben“, alles andere waren als ein Hort kindgerechter Frühentwicklung, ist längst anerkannter Stand der Forschung. Das Coverfoto des Buches konterkariert also seine Kernbotschaft.

Auf dieses zweite Eigentor folgte freilich sogleich ein drittes. Denn „einige Buchhändler“ seien „irritiert“ gewesen, teilte der Chef der Eulenspiegel-Verlagsgruppe Matthias Oehme mit. In Anrufen sei darauf hingewiesen worden, die DDR sei kein KZ gewesen.

Wer immer diese Buchhändler gewesen sein mögen, die sich beschwerten – man sollte sich künftig besser nicht auf ihre Empfehlungen verlassen. Allein, dass sie ernsthaft auf den Gedanken kamen, diese „Warnung“ anbringen zu müssen, zeugt von deutlich unterentwickeltem historischem Verständnis. Denn niemand, der sich auch nur ansatzweise mit den Verhältnissen in KZs und in der DDR auskennt, würde auf so eine Idee kommen.

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Quelle: N24 Doku

Natürlich nannte man in den 1950er-Jahren und noch einmal verstärkt nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 im Westen die SED-Diktatur das „Ulbricht-KZ“ oder ein „Mammut-KZ“. Derlei Aussprüche gab es zuhauf – sie gehörten (wie umgekehrt die noch zahlreicheren Beleidigungen der Bundesrepublik als „faschistisch“ oder ähnlich) zur Rhetorik des Kalten Krieges.

Aber so unfrei und menschenrechtswidrig das Leben in der SED-Diktatur zu allen Zeiten war: Ernsthaft wollte niemand es gleichzusetzen mit dem Mordregime der SS in den im Frühjahr 1933 erst wenigen, im Zweiten Weltkrieg mit Außenkommandos und ähnlichem tausenden Lagern im gesamten Machtbereich Hitlerdeutschlands.

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Offenbar aber war der irregeleitete Protest der Empörten 2024 so stark, dass der Vorgang öffentlich wurde. Die „Buchhändler“, um wen immer es sich gehandelt haben mag, schossen das dritte Eigentor in dieser Angelegenheit. Die Eulenspiegel-Gruppe denkt nun eigenen Angaben zufolge darüber nach, für eine eventuelle Folgeauflage des Bandes das Coverbild auszutauschen; an einen Rückruf der bereits ausgelieferten Exemplare (5000 Stück wurden hergestellt, heißt es) sei nicht gedacht.

Es muss um das Geschichtswissen in Deutschland wirklich arg schlecht bestellt sein, wenn selbst Buchhändler, die immerhin qua Beruf belesen sein sollten, so reagieren. Zumal dadurch die eigentlich relevante Information, dass nämlich die Eulenspiegel-Verlagsgruppe einmal mehr der Ostalgie das Wort redet, unterzugehen droht. Falls es sich aber um eine Inszenierung des Verlages gehandelt haben sollte, um Aufmerksamkeit zu generieren, so wäre auch das nach hinten losgegangen.

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