Dem Geist der Schorfheide frönte auch Erich Honecker bis zuletzt. Längst von den eigenen Genossen gestürzt, ging er am 8. November 1989, einen Tag vor dem Mauerfall, auf die Jagd und erlegte gleich drei Rot- und drei Damhirsche. Dass die DDR am Abgrund stand, wollte er sich bis zuletzt nicht eingestehen. Das hatte Honecker mit einem anderen Jäger in der Schorfheide gemein. Als die Rote Armee auf Hitlers Bunker vorrückte, verkroch sich Reichsjägermeister Hermann Göring in seinem Jagdsitz Carinhall und träumte von kapitalen Hirschen.
Der Staats- und Parteivorsitzende der DDR war ein leidenschaftlicher Jäger. „Bei der Jagd war Honecker ein anderer Mensch. Hier konnte er lachen – auch wenn er eine halbe Stunde später ein Todesurteil unterschrieb“, gab Dieter Wlost, einer seiner ehemaligen Revierförster, einmal zu Protokoll.
Zwischen 1968 und 1989 erlegte er allein 512 Rothirsche, mindestens, schreibt der Jagdhistoriker Helmut Suter. Der Leiter des Schorfheidemuseums in Groß Schönebeck nördlich von Berlin dokumentiert in seinem neuen Buch „Honeckers letzter Hirsch – Jagd und Macht in der DDR“ nicht nur die Passion ihres langjährigen Diktators, sondern auch die ihrer Führungsclique insgesamt. Wie es bis in die letzten Tage ihres Regimes fast alle Mitglieder des SED-Politbüros mit der Waffe hinaus in den Wald trieb, kann Suter nicht zuletzt auf der Grundlage von Dokumenten der Stasi-Unterlagen-Behörde nachzeichnen.
Reservierte Reviere, luxuriöse Quartiere, beste Waffen und extra herangezüchtete Trophäenhirsche – Honecker (1912–1994), Stasi-Chef Erich Mielke (1907–2000), Ministerratsvorsitzender Willi Stoph (1914–1999) oder Wirtschaftslenker Günter Mittag (1926–1994) nahmen für sich ein Privileg in Anspruch, das vor ihnen brandenburgische Fürsten, preußische Könige, deutsche Kaiser und hohe Nazis ausgeübt hatten. Der Anspruch der Mächtigen auf den wildreichen Forst im Norden Berlins reicht schon zu den Askaniern im 12. Jahrhundert zurück.
Die Sonderjagdgebiete für die Führungsriege der DDR wurden ohne gesetzliche Basis eingerichtet, schreibt Suter. Einige Reviere unterstanden dem Ministerium für Nationale Verteidigung, andere dem Ministerium für Staatssicherheit. Für Normalbürger waren sie tabu. Honecker soll aber allen Ernstes geglaubt haben, dass die Schorfheide samt Umgebung seines Jagdhauses „Wildfang“ unweit von Groß Schönebeck jedem DDR-Bürger offen gestanden haben soll, schreibt Suter.
Tatsächlich war das „Staatsjagdgebiet“ eingezäunt, nicht nur, um Besucher abzuschrecken, sondern auch um das Wild am Fliehen zu hindern. Um genügend mächtige Opfer für Honeckers Jagdleidenschaft vorzuhalten, wurden sogar Rothirsche aus Ungarn importiert, erinnerte sich ein Förster.
Zu DDR-Zeiten wurden die gesicherten Waldflächen samt Jagdhäusern oder Wochenenddomizilen, die sich über das gesamte Land verteilten, maßgeblich aus der Staatskasse finanziert. Flossen Anfang der 70er-Jahre noch fünf Millionen Ost-Mark in den Unterhalt, waren es 1987 bereits 20,5 Millionen. Die Ausgaben wurden ebenso verschleiert wie die Lieferungen an West-Lebensmitteln und anderen Gütern, die für DDR-Bewohner unerschwinglich oder nur als Bückware zu bekommen waren.
Honeckers Passion hat seiner Karriere nicht geschadet, im Gegenteil. Da sein Vorgänger in der SED-Führung, Walter Ulbricht, keinen Sinn für zünftiges Waidwerk hatte, schickte er seinen Kronprinzen vor, wenn Machthaber des Kreml zur Hatz baten. Dass der Kronprinz auf diese Weise zum engen Vertrauten Leonid Breschnews wurde, leitete Anfang der 70er Honeckers Auf- und Ulbrichts Abstieg ein. Während Sitzungen des SED-Politbüros unter Ulbricht leicht 14 Stunden dauern konnten, brach sein Nachfolger das Verfahren oft nach zwei Stunden ab, um schnell in den Wald zu gelangen, zumal während der Brunftzeit.
Sein Jagdhaus „Wildfang“ nutzt Honecker gern als Bühne für die große Politik. Hier empfing er bundesdeutsche Prominenz von Bundeskanzler Helmut Schmidt bis zu Oskar Lafontaine. Auch der bayerische Ministerpräsident (und begeisterte Jäger) Franz Josef Strauß, der mit seinem 1983 eingefädelten Milliardenkredit den finanziellen Kollaps der DDR verhinderte, war in der Schorfheide zu Gast.
In einem Berliner Ermittlungsverfahren nach dem Mauerfall kam ans Licht, dass Honecker und Mittag acht westliche Geländewagen für die Jagd gegen Devisen im Millionenwert ankaufen ließen. Sie wurden in einer Werkstatt in West-Berlin nach den Wünschen der jagenden Spitzengenossen umgebaut. Mindestens ein Geländewagen sei um 60 Zentimeter verlängert worden, heißt es. Treibende Kraft soll Mittag gewesen sein. Zu einer Anklage kam es nicht.
Der ehemalige Stasi-Major Bernd Brückner, der Honecker lange als Bodyguard begleitete, machte 2014 die Episode publik, dass sein Chef einmal seinen Geländewagen im Jagdrevier gegen einen Baum gesetzt habe. „Der Alte“ habe weder Führerschein noch technisches Gespür gehabt und sei anschließend stundenlang durch den Wald geirrt. Mindestens dreimal pro Woche sei der SED-Chef zum Jagen in die Schorfheide gezogen,
Suter bietet auch eine Übersicht des Ministeriums für Staatssicherheit zu den Waffen der SED-Politbüromitglieder. Danach besaß allein Honecker mindestens 36 Jagdwaffen, gefolgt von Stoph mit 17 und Mittag mit neun. Munition aller Kaliber musste im nicht sozialistischen Ausland beschafft werden.
Das waidgerechte „Aufbrechen“ des Wilds und die Reinigung der Waffen wurden allerdings dem Personenschutzkommando überlassen. In Haus „Wildfang“ wurden die Trophäen dann im Beisein des Generalsekretärs vermessen, fotografiert und beurkundet. „Das war ein Ritual“, erinnerte sich Brückner, „wo eine richtige Freude, ja sogar Ausgelassenheit bei Honecker zu spüren war.“
Helmut Suter: „Honeckers letzter Hirsch – Jagd und Macht in der DDR“. (be.bra verlag, Berlin. 224 S., 26 Euro)
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