Das überraschende Urteil, das Erich Honecker die Ausreise nach Chile erlaubte

Das überraschende Urteil, das Erich Honecker die Ausreise nach Chile erlaubte

Wie kam es, dass der ehemalige Staatschef der DDR vor 30 Jahren das Land verlassen durfte? Eine juristische Analyse des Urteils, das Rechtsgeschichte schrieb.

Der frühere Staats- und Parteichef der DDR, Erich Honecker, im April 1993 bei einem Spaziergang durch Santiago de Chile
Der frühere Staats- und Parteichef der DDR, Erich Honecker, im April 1993 bei einem Spaziergang durch Santiago de ChilePA/AFP

Kontrollinstanz für die Verfassungsmäßigkeit des politischen Lebens in Deutschland ist in erster Linie das Bundesverfassungsgericht. Es interpretiert die Regelungen des Grundgesetzes (GG), damit auch dessen Grundrechte, und passt die Interpretation immer wieder dem gesellschaftlichen Wandel an. Seine Zuständigkeit und wesentlichen Aufgaben sind im GG detailliert geregelt. Unter anderem kann jeder Bürger im Wege der Verfassungsbeschwerde das Gericht mit der Behauptung anrufen, er sei durch die öffentliche Gewalt in seinen Grundrechten verletzt worden.

Seine Entscheidungen sind oft spektakulär. Als Beispiele aus den vergangen 30 Jahren seien die „Mauer-Schützen“-Entscheidung vom 24. Oktober 1996, die Einstellung des NPD-Verbotsverfahrens am 18. März 2003 und der Beschluss vom 24. März letzten Jahres zum Klimaschutzgesetz erwähnt.

Neben dem Bund verfügen alle Bundesländer über eigenständige – unterschiedlich bezeichnete – Verfassungsgerichte. Dort ist ebenfalls überwiegend die Verfassungsbeschwerde zulässig. So auch in Berlin. Zuweilen setzen auch diese Gerichte Meilensteine der Rechtsgeschichte.

Honecker-Urteil: Eine spektakuläre Entscheidung

Die wohl spektakulärste Entscheidung eines Landesverfassungsgerichts jährt sich nächstes Jahr, am 12. Januar 2023, zum 30. Mal. Mit Beschluss vom 12. Januar 1993 ermöglichte der Verfassungsgerichtshof Berlin, der sich erst im Mai 1992 konstituiert hatte, dem ehemaligen Vorsitzenden des Staatsrats und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR Erich Honecker die Ausreise nach Chile zu seiner bereits dort lebenden Ehefrau Margot, wo er am 29. Mai 1994 starb. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Honecker war gemeinsam mit vier Mitangeklagten zwölffache Anstiftung zum Totschlag vorgeworfen worden. In seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR sei er für den Ausbau der Sperrvorrichtungen einschließlich der Installation von Selbstschussanlagen und Belobigung von Todesschützen verantwortlich gewesen. Die Hauptverhandlung begann am 12. November 1992 vor dem Landgericht Berlin unter Leitung des später erfolgreich wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnten Vorsitzenden Richters Hansgeorg Bräutigam.

Schwer krank, 80 Jahre alt, völlig überhastet freigelassen

Am 12. Januar 1993 befand der Verfassungsgerichtshof auf Verfassungsbeschwerde Honeckers und seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, Kammergericht und Landgericht Berlin hätten das Grundrecht des 80-jährigen schwer kranken Beschwerdeführers auf Achtung seiner Menschenwürde verletzt, indem sie die Einstellung des Strafverfahrens und die Aufhebung des Haftbefehls abgelehnt hätten. Honecker würde das Ende des Strafverfahrens nach den Feststellungen des Kammergerichts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben. Der Angeklagte wurde darauf völlig überhastet freigelassen. Er konnte am 13. Januar 1993 abends nach Chile ausreisen.

Der Anfang 2022 verstorbene Kölner Staatsrechtslehrer Sachs hat den Beschluss des Verfassungsgerichtshofs zutreffend als „Paukenschlag“ bezeichnet. Dass diese Entscheidung die Gemüter hochgradig erregte, ist kein Wunder. Auch unter Juristen war sie außerordentlich umstritten. Es erscheint zweifelhaft, ob sie „juristisch vorzüglich begründet“ wurde, wie Uwe Wesel, Professor für Römisches Recht an der Freien Universität Berlin, in einer juristischen Fachzeitschrift konstatierte.

Die Landesverfassungsbeschwerde konnte und kann nämlich vom Beschwerdeführer nur mit der Behauptung erhoben werden, durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin in einem seiner in der Verfassung von Berlin, nicht aber in einem seiner im Grundgesetz enthaltenen Rechte verletzt zu sein. Entsprechendes gilt für die übrigen Länder, in denen die Landesverfassungsbeschwerde möglich ist. Zwar enthalten mit Ausnahme Hamburgs die Verfassungen aller Bundesländer und damit auch diejenige Berlins grundrechtliche Gewährleistungen. Gleichwohl stellt sich die Frage, welche Grundrechte die Länder in ihren Verfassungen vorsehen dürfen. Denn die Grundrechte des Grundgesetzes gelten auch in den Ländern. Von Bedeutung ist daher, welche Vorgaben das Grundgesetz für den Erlass von Landesgrundrechten enthält.

Generell gilt: Die sogenannte Grundrechtshoheit der Länder ist originärer und wesentlicher Bestandteil ihrer Verfassungsautonomie. Aufgrund dieser Verfassungsautonomie verfügt der Landesverfassungsgeber über einen weitgehenden Gestaltungsspielraum. Dem Landesverfassungsgeber ist es grundsätzlich unbenommen, im Vergleich zu den Bundesgrundrechten sowohl inhaltsgleiche, weitergehende als auch weniger weitreichende Landesgrundrechte zu statuieren.

Die Menschenwürdegarantie und die Verfassung

Vorausgesetzt das jeweils engere Grundrecht ist als Mindestgarantie zu verstehen. Es besteht auch keine Pflicht zur Grundrechtsgewährung. Die Länder sind bei der Verfassungsgebung schließlich nicht an die Regelungen des GG über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern gebunden. Grundgesetzwidrige und damit nichtige Landesgrundrechte sind eine seltene Ausnahme. Für die Verfassung von Berlin sind sie nicht ersichtlich. Somit muss jede einen Grundrechtsträger belastende Maßnahme immer den Anforderungen von zwei Grundrechtskatalogen (Grundgesetz und Verfassung von Berlin) genügen, um verfassungsgemäß zu sein.

Nach den Vorgaben des Grundgesetzes hätte die Verfassung von Berlin daher seinerzeit eine Menschenwürdegarantie enthalten können. Sie hätte sie aber auch enthalten müssen, damit Honecker Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof Berlin mit der Behauptung hätte erheben können, er sei in diesem Recht durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin verletzt worden. Im geschriebenen Text der Verfassung von Berlin gab es bis zum 29. November 1995, anders als seither, keine dem Grundgesetz entsprechende Gewährleistung der Menschenwürde.

Der Verfassungsgerichtshof hat argumentiert, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die Verfassung eines Bundeslandes nicht im geschriebenen Verfassungstext allein enthalten. In ihn hinein wirkten auch Bestimmungen der Bundesverfassung. Erst beide Elemente, die Verfassungsurkunde und die in sie hineinwirkenden Bestimmungen der Bundesverfassung, machten die Verfassung des Bundeslandes aus.

Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes gehöre zu dessen in die Landesverfassungen hineinwirkenden Bestimmungen und werde so zu einem konstitutiven Element der verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern. Auch die Verfassung von Berlin verbürge deshalb das Grundrecht auf Achtung der Menschenwürde. Ergänzend, so das Gericht, enthalte diese aus dem ihren Grundrechten zugrunde liegenden Menschenbild als ungeschriebenen Verfassungssatz das Bekenntnis zur Menschenwürde und die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, jene zu achten und zu schützen.

Was macht die Verfassung eines Bundeslandes aus?

Der Verfassungsgerichtshof Berlin hat damit auf einen „fremden“ Entscheidungsmaßstab zugegriffen, so als enthielte die seinerzeit geltende Verfassung von Berlin die Aussage: „Die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sind Bestandteil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes Recht.“ Eine derartige Regelung weisen die Verfassungen einiger Bundesländer, etwa Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen sowie Nordrhein-Westfalen und seit einigen Jahren auch Schleswig-Holstein, auf.

Die Argumentation des Verfassungsgerichtshofs erscheint problematisch. Das Bundesverfassungsgericht hat tatsächlich wiederholt argumentiert, die Verfassung eines Bundeslandes sei nicht in der Landesverfassungsurkunde allein enthalten. In sie hinein wirkten auch Elemente der Bundesverfassung. Erst beide Elemente zusammen machten die Verfassung des Bundeslandes aus.

Es hat die Fälle des Hineinwirkens aber als „selten“ bezeichnet und betont, die Verfassungsautonomie der Länder und damit ihre Staatlichkeit würden nachhaltig beschädigt, je mehr an Prinzipien oder Normen der Bundesverfassung in eine Landesverfassung „hineingelesen“ werde. Auf diese Weise würde letztlich ein Eckpfeiler des Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland untergraben: das föderale Prinzip.

Ein Hineinlesen von Grundrechten des Grundgesetzes in Landesverfassungsrecht ist zudem nicht geboten, da diese nach dessen Art. 1 Abs. 3 auch in den Ländern gelten. Vielleicht selbst nicht voll von seiner Konstruktion des Hineinwirkens der Menschenwürdegarantie in die Verfassung von Berlin überzeugt, hat der Verfassungsgerichtshof die Menschenwürdegarantie ergänzend aus einer Gesamtschau der in ihr enthaltenen Grundrechte abgeleitet.

Honecker profitierte von den Garantien des Rechtsstaats, die in seinem Staate nicht gegolten hatten.

Matthias Strohs

Andererseits war der Beschluss des Berliner Verfassungsgerichtshofs vom 12. Januar 1993 nicht unvertretbar. Zu weit geht insbesondere die Kritik des bereits erwähnten Vorsitzenden Richters Bräutigam in seinem 2021 erschienenen Buch über die strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Er schreibt dort, der Verfassungsgerichtshof habe in völliger Verkennung der Rechtslage eine nicht zu begründende eigene Zuständigkeit angenommen. Strafprozessrecht und Strafrecht seien Bundesrecht und kein Landesrecht. Nach überwiegender Rechtsansicht sei die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde Honeckers sowohl formal wie sachlich falsch gewesen.

Die Befugnisse des Landesverfassungsgerichts

Es darf nämlich nicht übersehen werden, dass sich der Verfassungsgerichtshof die Feststellungen des Land- und des Kammergerichts zum Gesundheitszustand Honeckers zu eigen gemacht und auf dieser Grundlage entschieden hat. Auch hat das Bundesverfassungsgericht am 15. Oktober 1997 die Auffassung bestätigt, dass den Richtern eines Landes bei der Durchführung eines bundesrechtlich geregelten Verfahrens Raum für die Anwendung der parallel mit den Grundrechten des Grundgesetzes verbürgten Grundrechte der Landesverfassung bleibt.

Wegen der Bindung der Landesstaatsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes (Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz) und des Vorrangs des Bundesrechts (Art. 31 Grundgesetz) bringen mit dem Grundgesetz inhaltsgleiche Landesgrundrechte dem Bürger zwar keinen nennenswerten materiellen Mehrwert. Sie sind jedoch vor allem in verfassungsprozessualer Hinsicht von Bedeutung, weil sie in sämtlichen zulässigen Verfahren von den Landesverfassungsgerichten als Prüfungsmaßstab herangezogen werden können. Die Landesverfassungsgerichte sind befugt, unter bestimmten Voraussetzungen, bei Anwendung von Bundesrecht ergangene landesgerichtliche Urteile am Maßstab der Landesverfassung zu prüfen und gegebenenfalls zu kassieren.

Der Berliner Verfassungsgerichtshof hat damit am 12. Januar 1993 einen Meilenstein gesetzt. Und Erich Honecker profitierte von den Garantien des Rechtsstaats, die in seinem Staate nicht gegolten hatten.


Matthias Strohs ist nach langjähriger Tätigkeit in der Innenverwaltung Baden-Württembergs, davon überwiegend im Innenministerium in Stuttgart, jetzt wissenschaftlicher Autor auf dem Gebiet Öffentliches Recht vor allem Verfassungsrecht.

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