In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der Gruppendiskussion vorgestellt. Um die Forschungsfragen zu beantworten, wurden fünf Thesen aufgestellt und mit Aussagen aus den Gruppendiskussionen und zusätzlichen Quellen belegt. Zur besseren Übersichtlichkeit wurden unter jeder These nochmal Abschnitte gebildet, die die Ausführungen strukturieren und mit einem prägnanten Zitat aus den Diskussionen eingeleitet werden. Einige Teilnehmer:innen wollten in der Diskussion anonym bleiben. Wer unter seinem Klarnamen erscheint und bei welchen Namen es sich um Pseudonyme handelt, ist der tabellarischen Übersicht in Abschnitt 4.5 zu entnehmen.

5.1 Ostdeutsche Identität ist komplex

Das Elternhaus und die ostdeutsche Sozialisation beeinflussen die Entscheidung, Journalist:in zu werden und prägen das journalistische Rollenverständnis. Diejenigen, die die DDR noch bewusst erlebt haben, haben eine besondere Wertschätzung für Pressefreiheit und Meinungspluralismus. Ostdeutsche Journalist:innen besitzen ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und sehen sich bisweilen in einer Vermittlerrolle zwischen Ost und West.

„Wir sind mehr Kinder unserer Zeit als Kinder unserer Eltern“

– Christoph Dieckmann

Ostdeutsche Identität konstruiert sich sowohl aus dem gesellschaftspolitischen Gefüge, in dem die Menschen aufwachsen und leben (vgl. Abschnitt 3.1.5), als auch aus der individuellen Prägung durch Familie und nahestehende Menschen. Dies ist in den Gruppendiskussionen deutlich geworden, auch, wenn die Teilnehmer:innen den Einflüssen jeweils unterschiedliches Gewicht beimessen. Es gibt spezifisch ostdeutsche Erwartungs- und Deutungsstrukturen, die die Akteur:innen in ihrer Entscheidung beeinflussen, Journalist:in zu werden.

In der jüngeren Generation besteht Einigkeit darüber, dass sich die ostdeutsche Identität nicht allein vom Geburtsort ableitet, sondern „die Summe der Erfahrungen, […] eine komplexe Gemengelage“ (Vorreyer) ist. Für Thomas Vorreyer zählen Dinge wie die weißen Sneaker seines Onkels bei der Hochzeit seiner Eltern ebenso dazu wie das Aufwachsen Ende der 90er Jahre, als „Sachsen-Anhalt einmal im Monat auf der Lokalzeitung die roten Zahlen bei den Arbeitsmarktzahlen hatte“. Franziska Beermann hält fest: „[…] wir sind durch die 90er und 2000er in Ostdeutschland auf eine gewisse Weise geprägt, die jemand in Westdeutschland so nicht erfahren hat“. Martin Machowecz erklärt, dass „aus der ostdeutschen Herkunft einfach Eigenschaften [folgen], die sind nicht bei allen gleich und die machen sich nicht bei allen ähnlich bemerkbar“, aber sie führten eben dazu, „dass ich aus dem Osten komme und dass ich das schon auch schon jeden Tag merke“.

Auch im Gespräch mit der älteren Generation wurde deutlich, dass das politische Klima bereits im Kindes- und Jugendalter wahrgenommen wird. So berichtet Christoph Dieckmann, dass er beim Umzug von Dingelstedt am Huy nach Sangerhausen im Alter von 12 Jahren gleich merkte, dass „im Chemiebezirk Halle ein viel schärferer ideologischer Wind wehte als im Agrarbezirk Magdeburg“. Jörg Wagner hat Grenzen und Möglichkeiten der Arbeit seiner Mutter beim DDR-Rundfunk als Kind „brühwarm“ mitbekommen, „einerseits, was die Propagandistenrolle gewesen ist, aber andererseits auch, welche Zwischentöne die DDR zugelassen hat“. Politische Themen seien regelmäßig am Abendbrottisch diskutiert worden. Aufgrund dieser Erlebnisse habe er eigentlich nie Journalist werden wollen, „das war richtig gesetzt“. Er interessierte sich mehr für Theater und Film, weil es dort mehr Möglichkeiten zur kritischen Artikulation gegeben habe. Die Erwerbstätigkeit der Eltern kann eine „positive oder negative Orientierungsfolie für die Berufswahlentscheidung“ (Oechsle & Gläsel, 2009, S. 183) sein, dies wurde bereits in Abschnitt 3.2.4 gezeigt und konnte anhand dieses Beispiels bestätigt werden.

Ein wichtiger Unterschied zur jüngeren Generation ist, dass der Bildungsweg in der DDR auch formell wesentlich durch das Elternhaus vorgegeben war. So wurde Dieckmann als Pastorenkind beispielsweise von der höheren Bildung zunächst ausgeschlossen, er war kein Mitglied in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und hatte die Jugendweihe verweigert. Die Kreisschulrätin erklärte: „Sie tun nichts für die Volksmacht, da tut die Volksmacht auch nichts für Sie“. Auch Sonja Messmer, ebenfalls Pastorentochter, wurde aus politischen Gründen zunächst nicht zum Journalistik-Studium in Leipzig zugelassen und konnte erst durch die Intervention ihres Vaters beim Zentralkomitee der SED schließlich doch noch studieren.

Oft nimmt die ostdeutsche Identität erst im Westen Gestalt an, dies berichten mehrere Teilnehmer:innen. Dabei kann die gemeinsame Herkunft auch identitätsstiftend wirken: „Man hat halt irgendwie relativ schnell ein Gefühl dafür, dass man irgendwas teilt“ (Beermann). Lena Messmer hat die Erfahrung, zum Studieren in den Westen zu gehen, wesentlich in ihrem Vorhaben bestärkt, sich journalistisch mit ihrer ostdeutschen Herkunft auseinanderzusetzen: „…weil wie es ja vielen so geht aus dem Osten, die dann mal im Westen landen: Man fühlt sich irgendwie anders oder merkt dann plötzlich Unterschiede.“ Diese Aussagen decken sich mit der Theorie Sozialer Identität von Henri Tajfel (vgl. Abschnitt 2.2) und den Hintergründen aus Abschnitt 3.3.2: „Die Diskussion über ostdeutsche Identität und die Konstruktion von Ostdeutschen beginnt […] überhaupt erst mit dem Mauerfall“ (Kubiak, 2020, S. 191).

„So ein Interesse einfach für verschiedene Ungerechtigkeiten. Ich glaube, wenn man selber [ostdeutsch ist], kann man sich […] auch mit anderen Menschen anders solidarisieren, die […] diskriminiert werden.“

– Lena Messmer

In beiden Generationen beeinflusst die ostdeutsche Sozialisierung die Art und Weise, wie ostdeutsche Journalist:innen auf ihren Beruf blicken. Sonja Messmer aus der älteren Generation glaubt, einen „anderen Gerechtigkeitssinn“ zu haben, etwas, das sie offenbar an ihre Tochter Lena Messmer weitergegeben hat (s. Zitat oben). Auch Beermann sagt aus, dass die „fortwährenden Ungerechtigkeiten“ in Bezug auf Ost und West ein Thema seien, das ihre Generation noch umtreibe. Manchmal falle es ihr schwer, „emotionale Distanz zu gewinnen“, die im journalistischen Umgang mit dem Thema nötig wären, „damit man nicht zu sehr mit der einen Seite mitfühlt“. Gleichzeitig seien die erlebten Ungerechtigkeiten „nichts verglichen mit denen, die meine Eltern erlebt haben“. Die Aussagen unterstreichen die Bedeutung der bewussten und unbewussten Weitergabe von Erfahrungen innerhalb von Familien und sozialen Gruppen (vgl. Abschn. 3.1.5 & Abschn. 3.3.1).

Aber auch die generationalen Prägungen spielen bei der Konstruktion der ostdeutschen Identität und bei der Entwicklung journalistischer Handlungsmuster eine wichtige Rolle. Insbesondere die Bedeutung von wirtschaftlichen Ungleichheiten gegenüber Westdeutschen und dem Erstarken rechter Bewegungen für die jüngere Generation (vgl. Abschn. 3.1.5) hat sich deutlich bestätigt. Bei mehreren Teilnehmer:innen werden „Ungerechtigkeiten, Massenarbeitslosigkeit, die Präsenz von Neonazis […] im öffentlichen Raum“ (Vorreyer) als prägend beschrieben. Für Vorreyer haben diese Erfahrungen „den Blick auf die Welt geschärft“ und ihn letztlich auch darin beeinflusst, Journalist zu werden: „Also als Kind meiner Umstände, aber nicht unbedingt reflektierend, dass diese Umstände ostdeutsch sind.“ Wiese kam in ihren Sommerferien in Thüringen direkt in Berührung mit dem, was sie über den Osten in den westdeutschen Medien las. Erfahrungen wie das Ausrufen des Hitlergrußes bei Partys in ihrem Dorf bei Thüringen bezeichnet sie als einen „journalistische[n] Ansporn“. Mehrere Teilnehmer:innen der jungen Generation äußern, dass sie mit Ambiguitäten und Unsicherheiten im journalistischen Kontext gut umgehen könnten. In beiden Gruppen wird großer Wert darauf gelegt, viele Perspektiven abzubilden – und auszuhalten. „Ich gehe immer dem nach, warum Dinge so sind, wie sie sind und warum Menschen so denken, wie sie denken“, so Selina Wiese. Dem stimmt Lena Messmer zu. Sie versuche, verschiedene Meinungen zusammenzubringen und nicht sofort in eine Richtung zu tendieren. „Das war bei mir manchmal eben anders als bei westdeutschen Kollegen.“

Für Wiese und Messmer bedeutet die ostdeutsche Identität auch die Solidarisierung mit anderen, von Diskriminierung betroffenen Personen. „Die Themen, die ich journalistisch behandle, es geht da viel um Ungerechtigkeiten, um nicht gesehen werden, aber gar nicht so sehr in Bezug auf Ostdeutschland, sondern eher in Bezug auf Rassismus […]. Und trotzdem […] gibt es irgendwie immer so Touchdowns“ (Wiese). Beim Recherchieren denke sie sehr inklusiv, zum Beispiel, wenn sie als weiße Person über Rassismus schreibt – damit sie nicht denselben Fehler begehe wie „jemand, der mit Ostdeutschland überhaupt nichts zutun hat, darüber schreibt und nicht mal mit irgendwem gesprochen hat“.

„[W]enn man aus der DDR kommt, dann hat man so ein Gehör dafür, wenn die ideologische Nachtigall so ein bisschen trapst.“

– Ulrike Jacobi

Die ältere Generation sagt über sich, Pressefreiheit aufgrund ihrer Sozialisierung in der DDR heute ganz besonders wertzuschätzen. Die in 3.1.5 vorgestellten generationalen Prägungen unterstreichen, wie groß das Freiheitsbedürfnis bei vielen Jugendlichen in der DDR war und wie maßgeblich die Generationen der 50er- und 60er-Jahre an der Friedlichen Revolution mitgewirkt haben, insofern scheint dies sehr plausibel. Den Wandel zur freien Presse haben diejenigen, die schon in der DDR gearbeitet hatten, in lebendiger Erinnerung. Für Jörg Wagner, der damals beim Radiosender DT64 tätig war, fiel die Selbstzensur-Schere mit der Entmachtung Erich Honeckers am 18. Oktober 1989: „Alles, was danach kam, war Freiheit pur.“ Ulrike Jacobi, die beim Neuen Deutschland als Kulturredakteurin arbeitete, ging es ähnlich: „[I]ch habe gemerkt, wie schnell ich schreiben konnte, als das alles weg war. Wie schön das war, dann so die Pferde laufen zu lassen.“ Wagner glaubt, dass die ausgeprägte Wertschätzung für die freie Meinungsäußerung im Journalismus seine Generation von jüngeren Kolleg:innen unterscheide: „[W]enn man sich das Wasser aus dem Brunnen holen muss, schätzt man es mehr, als wenn man es aus der Wand bekommt, indem man den Wasserhahn aufdreht.“ Er konstatiert, dass sich junge Journalist:innen ihrer Freiheiten oft erst bewusst würden, wenn sie in Länder wie China oder Bulgarien reisten oder das Ranking der Organisation Reporter ohne Grenzen sähen [Anm.: Rangliste der Pressefreiheit v. Reporter ohne Grenzen (2022)]. Er wolle seine Generation jedoch nicht „erhöhen“, weil sie beide Systeme kennt. „Das ist natürlich eine Lebenserfahrung, die haben wir uns nicht ausgesucht.“

Die Teilnehmer:innen der ersten Gruppendiskussion sind sich einig, dass sie durch ihre DDR-Erfahrung im Vergleich zu ihren westdeutschten Kolleg:innen „sensibler auf Vorschriften [reagieren], was Formulierungen oder Grundhaltungen anbelangt, die natürlich auch heute noch vorgegeben werden in den Medien“ (Skulski). Es gebe „eine leichte Tendenz, alles so ein bisschen […] in eine Bahn zu lenken“ (Jacobi). Jörg Wagner spricht von einem „Witterungsding, was wir Ossis haben, wenn die Ideologie um die Ecke kommt“. In der Pandemie sei ihm dieses „[komische] Gehorsam“ aufgefallen. Dabei sei die „Selbstzensur-Schere“ bei West-Kolleg:innen stärker ausgeprägt. Er weise dann immer auf die tragende Rolle der Selbstzensur für den Journalismus der DDR hin. Auch im Kontrast zu jüngeren Kolleg:innen, die „unhinterfragt gewisse […] Ansichten übernehmen, die grade en vogue sind“ (Bernhard), glaubt die ältere Generation, empfindlicher auf „Verbote“ für Worte oder Denkrichtungen zu reagieren, beispielsweise beim Thema Gendern. Leider ist dieses Thema in der Diskussion mit der jüngeren Generation aus zeitlichen Gründen nicht wirklich diskutiert worden.

„Ich bin da viel mehr zwischen den Stühlen, weil ich einfach nicht nur verurteilen kann, wenn Leute […] Fragen haben an die Demokratie, […] weil ich einfach weiß, wo es herkommt.“

– Martin Machowecz

Ostdeutsche Journalist:innen sehen sich in einer Vermittlerrolle zwischen Ost und West. In der älteren Vergleichsgruppe machen dies insbesondere die Äußerungen von Christoph Dieckmann deutlich, der direkt nach der Wiedervereinigung von der ZEIT in Hamburg angeworben wurde. Über seine Rolle bei der Wochenzeitung sagt er in einem Interview mit zwei Kolleg:innen anlässlich seines 65. Geburtstages: „Ich habe mich als Vermittler verstanden. Ich habe Geschichten aufgeschrieben, die im Osten bekannt waren und im Westen unbekannt.“ Als Anwalt des Ostens habe er sich dabei nicht gesehen, sondern als Erklärer (Machowecz & Hensel, 2021). In der Gruppendiskussion konstatiert er, sich gelegentlich auch überfordert von den Erwartungen gefühlt zu haben, die an ihn als einzigen Ostdeutschen unter rund einhundert Redakteur:innen gestellt wurden. „Dass ich gar keine typische Biographie hatte, dass kein Einzelner ein ganzes Land erzählen kann, weil man natürlich auch sein Naturell hat und seine Einschränkungen in der Erfahrung, seine Vorlieben und so weiter… Gut, ich habe versucht, es so gut zu machen, wie ich konnte.“

Viele Jahre später sieht sich auch Martin Machowecz bei der ZEIT in einer „Scharnierrolle“. In Westdeutschland fühle er sich den Ostdeutschen nahe und fühle sich in der Pflicht, sie zu erklären, im Osten wiederum sei er „der, der die ganze Zeit die Ossis kritisiert“. Er schaue anders auf viele Themen als westdeutsche Kolleg:innen dies im Durchschnitt täten. Natürlich kritisiere er, wenn jemand die AfD wähle, aber er habe eben trotzdem noch einen anderen Blick darauf oder „verstehe zumindest, warum Leute zum Beispiel mit demokratischen Prozessen in diesem Land hadern“.

Die ambivalente Rolle, die ostdeutsche Journalist:innen sowohl persönlich als auch beruflich einnehmen, kann auch zur Belastung werden, macht Franziska Beermann deutlich. In Köln habe es sie ermüdet, permanent Ostdeutschland erklären zu müssen. „[E]s ist [ein bisschen], noch in der krasseren Form, was People of Colour haben, dass die halt nicht immer Bildungsarbeit machen wollen und den Leuten Rassismus erklären wollen“, konstatiert sie.

Zwischenfazit

Aus der ostdeutschen Sozialisierung ergeben sich spezifische Eigenschaften, die auch im journalistischen Arbeiten Ausdruck finden. Die jüngere Generation wurde durch das Aufwachsen im Ostdeutschland der Nachwendezeit für das Thema Gerechtigkeit stark sensibilisiert. Sie nehmen existierende Ungerechtigkeiten in Bezug auf Ost- und Westdeutschland in der Gesellschaft wahr und begegnen anderen Minderheiten in ihrer Rolle als Journalist:innen mitunter besonders empathisch. Die ältere Generation ist geprägt durch die Erfahrung, zwei Mediensysteme kennengelernt zu haben: Zunächst ein propagandistisches, nach der Wende ein freies. Daraus erwächst eine große Wertschätzung für Pressefreiheit und ein innerer Seismograph für Tendenzen im Medienbetrieb, Meinungen und Vorgaben unreflektiert zu übernehmen. Hierin glauben sie, sich von jüngeren Generationen und westdeutschen Kolleg:innen zu unterscheiden. Die beiden Generationen haben gemeinsam, dass sie sich in einer vermittelnden und erklärenden Rolle zwischen Ost und West sehen, eine Aufgabe, die auch überfordernd und belastend sein kann.

5.2 Von Alibi-Ossis und Besserwessis

Einige Journalist:innen in Ostdeutschland standen dem herrschenden System und der SED durchaus kritisch gegenüber. Dies wurde nach der Wiedervereinigung oft nicht (an)erkannt. Die Nachwendezeit war von dem „Überstülpen“ westlicher Standards und Wertvorstellungen gekennzeichnet. Diese Transformationserfahrungen prägen die ostdeutsche Gesellschaft bis heute. Inwiefern ostdeutsche Journalist:innen nach der Wende von ihrer Herkunft profitieren konnten, hing von mehreren Faktoren ab, insbesondere ihrem Alter – und glücklichen Zufällen.

„ […] es waren nicht alle Leute […] Agitatoren, die in der SED waren, sondern es waren Weltverbesserer dabei, es waren Opportunisten dabei und innerhalb dieser Gemengelage hatte man auch seine Freiräume entwickeln können.“

– Jörg Wagner

Die Medien in der DDR unterlagen strenger Kontrolle durch die SED, dessen sei sich jeder Journalist bewusst gewesen, so Christoph Dieckmann. „[E]in Journalist war ein Propagandist der sogenannten herrschenden Weltanschauung.“ Wer Journalist:in werden wollte in der Erwartung, unabhängig über das Weltgeschehen zu berichten, wurde bald eines Besseren belehrt. Kritische Äußerungen zur Biermann-Ausbürgerung im Journalistik-Studium in Leipzig hatten einen persönlichen Termin beim Dekan zur Folge, erinnert sich Sonja Messmer. „Und der hat dann gesagt: Entweder Klappe halten oder raus. Das war schon klar.“ Trotz der Tatsache, dass wohl überwiegend Personen dort studierten, die mit dem sozialistischen Regime zumindest sympathisierten (vgl. Abschn. 3.2.3), gab es während der Ausbildung durchaus unterschiedliche Meinungen und „kritische Diskussionen“ (S. Messmer). Laut Wuschig (2005) nannten die Student:innen am „Roten Kloster“ die Berichterstattung der eigenen Medien selbst schlicht „Rotlichtbestrahlung“ (S. 136).

Auch in den Redaktionen war der Einfluss der SED alltäglich spürbar. Jacobi beschreibt das Neue Deutschland als eine „von direkter Zensur geprägte Zeitung“ und erinnert sich, wie die Druckfahnen nach Wandlitz gefahren und Erich Honecker persönlich vorgelegt wurden, der der Redaktion sodann telefonisch seine Anmerkungen mitteilte. „Und der Redakteur hatte total Angst, dass er was auf den Deckel kriegt, wenn er irgendwas in der Zeitung hat, was dann der Obrigkeit nicht gefiel.“ Beim Thüringer Tageblatt ging die Stasi ein und aus (S. Messmer) und selbst der progressive Jugendsender DT64, dem tendenziell etwas mehr Freiheiten eingeräumt wurden, stand „immer unter der Obhut der DDR, da brauchen wir uns nichts vorzumachen“ (Wagner).

Und doch, so schildern es die Diskussionsteilnehmer:innen, leisteten viele Journalist:innen in der DDR den Anweisungen der SED nicht blind Folge. Sie betonen, dass man sich innerhalb gewisser Grenzen Freiräume habe erkämpfen können, wie es auch der Redakteur Ernst-Michael Brandt beschrieb (vgl. Abschn. 3.2.1). Jacobi erinnert sich an ihre Erfahrungen beim Neuen Deutschland in der DDR als eine Zeit mit „viele[n] klugen und kritischen Kollegen, mit denen man sich richtig gut beraten konnte“. Obwohl sie bei einer Zeitung arbeitete, die in ganz besonderem Maße der SED-Kontrolle unterlag, berichtet sie, dass man „lernen [konnte], wie man sich unter dieser Latte irgendwie durch duckte und wie man […] jemanden von der Obrigkeit auch für sich gewann, der dann irgendwie ein gutes Wort einlegte“. Auch Jörg Wagner erzählt, dass er sich Tricks gesucht habe, um bestimmte Dinge sagen zu können. So berichtete er 1989 live vom Dokfilmfestival, wo die Oppositionsgruppe Neues Forum in einer Resolution einen Medienkontrollrat forderte, den es in der DDR nicht gab. „Ich wusste genau, wenn ich diesen Bericht als Tonband abgesetzt hätte, wäre mir das rausgeschnitten worden. In der Liveschalte versendete es sich.“ Hätte es eine Beschwerde der SED gegeben, hätte kein Chef die Verantwortung übernehmen müssen, sondern der Reporter. „Das Risiko gingen wir regelmäßig ein. Es gab diese Bestrafungen, aber im Vergleich zu 365 Sendetagen im Jahr waren sie erträglich.“ Wagner resümiert: „[E]s gab immer Beulen, die man sich holte und es war eine Frage der Energie und auch der eigenen weltanschaulichen Orientierung, ob man der DDR noch eine Chance gab oder wartete auf den Ausreiseantrag.“

Wie Journalist:innen in der DDR dem Staat gegenüber tatsächlich eingestellt waren, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Doch es ist sicher, dass es auch in der DDR die zum Journalist:innenberuf gehörende Neugier und kritische Grundhaltung gab. „Die gute, wenn auch das Thema Recherche aussparende, Ausbildung schärfte ihren Blick für gesellschaftliche Zustände und machte den täglich nötigen Verdrängungsprozess schwer“ (Wuschig, 2005, S. 135). Resümierend lässt sich sagen, dass der Typus Mensch, der sich für den Journalist:innenberuf in der DDR entschied, zwar durchaus anpassungsfähig und -bereit war, wie Wuschig (2005) feststellt (vgl. Abschn. 3.2.1). Dies darf jedoch nicht als Synonym für unkritisch, ahnungslos oder gehorsam gelten. Der individuelle Handlungsantrieb kann nicht auf den des Homo Sociologicus, wie er von Schimank definiert wurden, reduziert werden, sondern vereinte auch Komponenten der anderen Idealtypen, wie den Emotional Man oder den Identitätsbehaupter (vgl. Abschn. 2.5). Das zeigen die Anekdoten der Gesprächsteilnehmer:innen ganz deutlich.

„[…] zum Einen die […] Gnade der späten Geburt, auch Glück in großem Maße, […] vor allem im richtigen Moment die richtigen Menschen getroffen zu haben […]. Und natürlich auch die Befähigung […], dass man anderen, die man getroffen hat, das Gefühl gab, anders zu sein, als sie den Ostgeborenen unterstellten.“

– Thomas Skulski

Die oben beschriebene kritische Grundhaltung von DDR-Journalist:innen und die diesbezügliche Heterogenität innerhalb der Redaktionen wurde nach der Wende von westdeutschen Politiker:innen und Redakteur:innen überwiegend nicht gesehen, die Potenziale blieben ungenutzt (Wuschig, 2005, S. 135 f.). Während andere Transformationsgesellschaften des ehemaligen Ostblocks mangels Alternative auf die Arbeitskräfte im eigenen Land zurückgreifen mussten, stand in Westdeutschland genügend Personal zur Verfügung, um jeden als systemnah eingestuften Bürger in leitenden Funktionen der DDR auszutauschen (S. 76). Trotzdem: Vielen gelang die persönliche Transformation, die das Einfinden in ein neues politisches System und neue soziale Rollen erforderte. Ob die „besondere Kompetenz“ (S. 47), die Ahbe und Gries (2011) der Generation der 50er-Jahre aufgrund ihres doppelten Erfahrungshintergrundes attestieren, im wiedervereinten Deutschland tatsächlich anerkannt wurde, ist jedoch fraglich (vgl. Abschn. 3.1.5). Viele Teilnehmer:innen betonen, dass vor allem Glück und die richtigen Kontakte darüber entschieden, ob man nach der Wende beruflich erfolgreich war (vgl. Skulski; Bernhard; Dieckmann).

Bei den personellen Umbrüchen waren diejenigen im Vorteil, die jung waren und noch nicht in der DDR gearbeitet hatten. „Die Jüngeren, die noch nicht so lange in der DDR gelebt hatten, die galten erstmal irgendwie per se als unbelastet“ (Jacobi). Meyen (2020) unterstreicht dies: „Die neuen Herren aus dem Westen brauchten Fußvolk aus dem Osten, möglichst fertig ausgebildet und unbelastet noch dazu“ (S. 346). Henry Bernhard, der 1988 Abitur machte, wurde „quasi in die Wende entlassen“ und hat „gleich die Gelegenheit ergriffen, im Westen zu studieren“. Auch für Thomas Skulski kam die Wende zum richtigen Zeitpunkt. Er war wenige Wochen vor dem Mauerfall in die Sportredaktion des DDR-Fernsehens gewechselt. „Dort konnte ich […] vieles, vieles machen, weil denen klar war, dass sie junge, unverbrauchte Gesichter benötigen.“ Die Nachwendezeit erlebte er als „unwahrscheinlich inspirierend“. Ab Mitte 1992 durfte er beim ZDF die neu gegründete Sportredaktion des Morgenmagazins mit aufbauen. Auf die Perspektiven ostdeutscher Kolleg:innen sei dort viel Wert gelegt worden: „Da wurde die Meinung abgefragt und höchst respektiert. Also das war eine sehr produktive und kreative Zeit, auch das Zusammenwachsen zwischen Ost und West.“ Jörg Wagner berichtet, dass er aufgrund seiner ostdeutschen Herkunft in der Redaktion gefragt war, um bestimmte ostdeutsche Persönlichkeiten zu interviewen, die sich weigerten, Westdeutschen ein Interview zu geben. „Das waren so seltsame Wertschätzungen, die ich als sehr positiv in Erinnerung habe, wo ich gemerkt habe, dass […] ehemalige DDR Bürger doch etwas mitbringen in diese Einheit.“

Neben der „Gnade der späten Geburt“ (Skulski), erleichterte auch die kulturelle Orientierung am Westen die Integration im wiedervereinten Deutschland (vgl. Martens & Holtmann, 2017, S. 22). Eine entscheidende Rolle spielten dabei die Westmedien (vgl. Abschn. 3.1.2). Jörg Wagner, der zur Wendezeit beim Jugendradiosender DT64 arbeitete, hatte durch seine Kindheit und Jugend in Ostberlin und das Konsumieren von Westradio und -fernsehen „überhaupt keine Probleme“, sich „mental umzuswitchen“. Die Wende bedeutete für ihn, an einem Leben teilnehmen zu können, dass ihm eigentlich schon vorher vertraut gewesen war. Diese Vertrautheit half auch, die eigenen Verhaltensweisen an westdeutschen Erwartungen auszurichten – und „anders [zu] sein, als sie den Ostgeborenen unterstellten“ (Skulski). ZDF-Fernsehmoderator Skulski wurde oft gesagt, man glaube ihm gar nicht, dass er „Ossi“ sei, das merke man ihm gar nicht an.

„[D]ie Bevölkerung hat sich mehrheitlich in großer Naivität, aber […] in freien Wahlen, der intakten, prosperierenden Mehrheitsgesellschaft angeschlossen. Und zwar komplett zu deren Bedingungen.“

– Christoph Dieckmann

„Die DDR-Medien, das war nach der Wende Konsens, konnten nicht bleiben“ (Wuschig, 2005, S. 133). Doch dass die nach-wendischen Strukturen fast nie von ostdeutschen Journalist:innen mitbestimmt wurden, war unerwartet. „Mit dem Bade der Einheit wurden die vielen Pflänzchen einer eigenen demokratischen Öffentlichkeit ausgeschüttet“ (ebd.). Auf die ökonomischen und politischen Ungleichheiten ost- und westdeutscher Medienakteure sowie auf die Rolle der Treuhand wurde bereits in Abschnitt 3.1.3 ausführlich eingegangen. Durch den rasanten Umbau der Presselandschaft und die Aufgabe vieler Sender und Zeitungen verloren die Medien in Ostdeutschland ihre integrierende und identitätsstiftende Wirkung (vgl. Reinard & Schiller, 2010, S. 68 f.), eine historische Entwicklung, die das Medienvertrauen in Ostdeutschland nachhaltig schwächte (vgl. Maier, 2022). „Die Euphorie, endlich frei von allen Scheuklappen und Behelligungen zu sein, ist erstickt worden von der Erkenntnis, dass das Land ostdeutsche Erfahrungen und Perspektiven nicht wirklich braucht und dass Demokratie nur das ist, was man im Westen dafür hält“ (Meyen, 2020, S. 356). Die verheerenden Folgen für die ostdeutsche Gesellschaft unterstreicht Christoph Dieckmann: Im Herbst 1989 habe das Volk seine öffentliche Sprache gefunden, doch „dieser Fund ging wieder verloren, weil die gesamtdeutsche Öffentlichkeit eine bundesdeutsche Öffentlichkeit ist, […] westdeutsch geprägt, ohne es selbst zu wissen“. Erst sehr langsam verstanden die westdeutschen Akteur:innen, dass ihr exportiertes Mediensystem sich im Osten „als Fremdkörper in einer anderen Gesellschaft bewegte“ (Wuschig, 2005, S. 146). Die Auswirkungen sind noch immer spürbar: „Die Ossis haben quasi in der Medienlandschaft bis heute kaum etwas zu sagen“ (Wagner).

Jörg Wagner hat sich vor allem direkt nach der Wende „in großen Teilen west-fremdbestimmt“ gefühlt. Die Veränderungen hätten jegliche Lebensbereiche betroffen – das Warenangebot, die Kfz-Nummernschilder, das Krankenkassensystem. „Wir hatten plötzlich über Nacht den Eindruck, im Ausland zu leben.“ In dieser Zeit übernahmen die DDR-Medien, die noch im Herbst 1989 „auf einem Tiefpunkt“ (Reinard & Schiller, 2010, S. 57) waren, für die ostdeutsche Bevölkerung „die Rolle eines Lebenshelfers und Ratgebers“ (S. 70). Die Westmedien hingegen, die in den Monaten zuvor so entscheidend zur Wiedervereinigung beigetragen hatten (vgl. Abschn. 3.1.2), gingen auf diesen Informationsbedarf kaum ein (ebd.).

Auch in der Redaktion änderte sich für Wagner einiges. „Ich fand […] diesen Anschluss […] insofern problematisch, als dass selbst Sachen, die bei uns funktionierten, dem Weststandard angepasst wurden“, erklärt er. Bei der Audioproduktion im Studio seien Hörfunk-Journalist:innen zu DDR-Zeiten sehr eigenständig gewesen, hätten die Beiträge fast vollständig selbst produziert. „Das war nicht der Weststandard vor 30 Jahren. Man saß dort mit einer/m Cutter:in oder Techniker:in und sagte immer: ‚Schnitt‘ und so weiter.“ Zwar wurde dies bei seinem Sender abgelehnt, doch war man zu Gast bei anderen Sendern, „musste man sich diesem Ritual unterwerfen“. Das habe logischerweise zu Spannungen geführt. Zum „Clash der Kulturen“ kam es für ihn aber erst einige Jahre nach der Wende, als er bei radioeins zu arbeiten anfing. „Dort erlebte ich meinen ersten West-Chef, der mit einer West-Mannschaft anrückte.“ Durch die neue Zusammensetzung des Teams aus Ost- und Westdeutschen habe es „extreme Reibungen“ gegeben. „In den Konzepten stand etwas von High-Quality-Radio, aber in der Praxis hatte nicht nur ich den Eindruck, dass es eher um Low-Quality ging.“ Mükke (2021) konstatiert, dass es sich bei den Personaltransfers von West nach Ost zwar häufig um sogenannte „Besser-Wessis“ (S. 19) gehandelt habe, wirklich ausgeprägte Konflikte aber selten gewesen seien (ebd.).

Auch die junge Generation beschäftigt dieses Kapitel der ostdeutschen Geschichte. Sie nehmen die gesellschaftspolitischen Umbrüche in Ostdeutschland nach der Wende, auch wenn sie diese nur teilweise bewusst erlebt haben, als diskriminierend wahr. Dinge, die ungerecht zugegangen sind, zögen sich durch „so viele verschiedene Felder“ (Beermann), dass man den Verdruss der Menschen in Ostdeutschland nachvollziehen könne, sagt eine Teilnehmerin. Auch, dass sich viele Ostdeutsche als „Bürger zweiter Klasse“ fühlten sei darauf zurückzuführen. Für Jacobi hängt dieses Phänomen auch damit zusammen, dass die Vorstellung, die viele DDR-Bürger von der BRD hatten, noch aus Zeiten stammte, als diese „ein richtiger, funktionierender Wohlstandsstaat“ war. „Die Leute haben was anderes gekriegt, als was sie erhofft haben. Und mit dieser Enttäuschung haben wir bis heute zu tun.“

„Wie viele Leute sind in die Arbeitslosigkeit gegangen, hatten vorher einen Beruf, den sie liebten […]. Diese Wunde, die bleibt, die bleibt auch über die nächste Generation […] Als wir in die Bundesrepublik hineingekommen sind, war oben und unten schon verteilt.“

– Ulrike Jacobi

Für viele ostdeutsche Journalist:innen bedeutete die Wiedervereinigung biografische Brüche und berufliche Veränderungen. Sonja Messmer, damals Redakteurin beim Thüringer Tageblatt, ist Ende der 1980er Jahre in Elternzeit gegangen. „Und dann, als ich wieder arbeiten wollte, da war das Thüringer Tageblatt passé.“ Sie berichtet, dass sie sich bei der kirchlichen Presseabteilung beworben hatte, die Stelle jedoch an einen ehemaligen Chefredakteur vergeben wurde, „obwohl der ja natürlich als Chefredakeur auf jeden Fall Stasi Kontakte hatte“. Dies scheint zunächst widersprüchlich, doch es war tatsächlich so, dass im Zuge der Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt oft eine „DDR-Subelite“ (Wuschig, 2005, S. 84) aufrückte, eine zu DDR-Zeiten zweite und dritte Reihe. In die neue Gesellschaft brachte sie die Haltung mit, das politische System, gleich welches, kaum in Frage zu stellen, was ihr nun zugute kam und den „pejorativen Ruf eines ‚Wendehalses‘“ einbrachte (S. 85). Messmer aber war arbeitslos, musste zum Arbeitsamt, wie es damals noch hieß. „[D]as war schon eine Ernüchterung“, erinnert sie sich. Auch beim Neuen Deutschland, wo Ulrike Jacobi tätig war, „ging […] der eiserne Besen der Entlassungen durch“. Sie blieb verschont. Doch zu erleben, wie ihre Kolleg:innen, insbesondere die älteren, die Redaktion verlassen mussten, machte ihr ein schlechtes Gewissen. „Alle, die von dieser Zeitung kamen, bekamen keine Arbeit mehr […] Du hast einen Stempel und du wirst als irgendetwas angesehen, was du gar nicht bist.“ Insofern habe sie Glück gehabt. Man müsse bedenken, dass in der anwesenden Runde viele säßen, „die es wirklich geschafft haben“. Vielen sei es aber auch anders ergangen. Sonja Messmer erzählt von einer ehemaligen Kollegin, die als freiberufliche Sportjournalistin nach Berlin gegangen ist und nun von 750 Euro Rente lebe.

Vereinzelt konnten ostdeutsche Journalist:innen nach der Wende von ihrer ostdeutschen Herkunft auch profitieren, ein prominentes Beispiel ist Christoph Dieckmann mit seiner Anstellung bei der ZEIT in Hamburg. Dies dürfte jedoch die Ausnahme gewesen sein. Meistens mussten sich ostdeutsche Journalist:innen eher behaupten als dass ihnen Türen bereitwillig geöffnet wurden. So hat Thomas Skulski bei den Olympischen Spielen 1992 erlebt, wie es ist, der „Alibi-Ossi“ zu sein. Außer ihm war nur ein weiterer Kollege aus Ostdeutschland vor Ort. Zu Beginn seien beide ausschließlich mit relativ simplen Aufgaben betraut gewesen. „Wir haben uns dann, durch einzelne Jobs, Stück für Stück auch in andere Bereiche gearbeitet während dieser kurzen Tage Arbeit vor Ort. Aber erst mal wurden wir auf der untersten Charge eingegliedert, natürlich.“

Zwischenfazit

Mit der Wiedervereinigung wurde das Mediensystem reformiert – zu westdeutschen Bedingungen. Dabei gingen aufkeimende Bestrebungen einer demokratischen Öffentlichkeit wieder verloren, ökonomischer Druck und die Politik der Treuhand führten zu erheblichen Konzentrationsbewegungen auf dem Pressemarkt. Medien verloren ihre integrierende und identitätsstiftende Wirkung, eine der Ursachen für das heute geringe Medienvertrauen in den neuen Bundesländern. Für Ostdeutsche ging die Wende mit gravierenden Veränderungen einher, die jeden Lebensbereich betrafen, sie fühlten sich durch die Dominanz des Westdeutschen in dieser Transformationszeit mitunter „wie im Ausland“ (Wagner). In den Redaktionen kam es nach der Wende zu Auseinandersetzungen zwischen Ost- und Westdeutschen. Viele Journalist:innen verloren ihren Job. Dass einige von ihnen eine kritische Grundhaltung zur DDR besaßen, wurde von Westdeutschen oft nicht gesehen. Insbesondere diejenigen, die bereits in der DDR als Journalist:innen tätig gewesen waren, hatten es beruflich schwer. Unter den jüngeren war die Wiedervereinigung für ihre Karriere eher förderlich, wenngleich auch sie sich in westdeutschen Redaktionen zunächst behaupten mussten. Immer wieder kommt zum Ausdruck, wie entscheidend es gewesen ist, die richtigen Leute gekannt zu haben und wie oft letztlich Glück über den beruflichen Erfolg entschieden hatte.

5.3 Fehlende Repräsentation gleich fehlende Perspektiven

Kein bundesdeutsch relevantes Medium entsteht in Ostdeutschland. Die Berichterstattung über Ostdeutschland erfolgt aus einer Außenperspektive und ist oft klischeebehaftet. Dadurch wird die gesellschaftliche Spaltung zwischen Ost und West verstärkt. Ostdeutsche sind in den Redaktionen überregionaler Medien unterrepräsentiert. Der Einstieg in den Journalismus ist für sie ein finanzielles Wagnis und der Zirkel westdeutscher Eliten kann nur mühsam aufgebrochen werden.

„Also es ist fast schon so, als ob du in einen Zoo gehst.“

– Franziska Beermann

In Abschnitt 3.1.4 wurde bereits erklärt, dass die Berichterstattung über Ostdeutschland oft stereotyp ist und überregionale Medien im Osten kaum gelesen werden. Es überrascht daher wenig, dass die Teilnehmer:innen beider Gruppendiskussionen die Medienlandschaft in Deutschland sehr kritisch bewerten, was die Inklusion ostdeutscher Themen und Redakteur:innen betrifft. An die Jahre nach der Wende erinnert sich Christoph Dieckmann folgendermaßen: „[B]erichterstattung über den Osten war oft Auslandsjournal in der Diktion von Westmedien.“ Auch heute noch seien die großen Medien alt-bundesdeutsch geprägt. „Ost-Stimmen sind immer das garnierende Lorbeerblatt.“

Dies hat zur Folge, dass die Medien ostdeutsche Leser:innen inhaltlich und emotional nicht abholen. Meyen (2013) zeigte in einer Untersuchung, dass das Bild der DDR in den Massenmedien in erster Linie den Diktaturcharakter zeigt. „Die Zeitzeugen (sowohl im Osten als auch im Westen) haben eine ganz andere Vergangenheit im Kopf als jeder Zugewanderte, der sich auf die Spitzenprodukte des deutschen Journalismus verlässt“ (S. 13). Für Westdeutsche sind die unterschiedlichen DDR-Gedächtnisse „deutlich unwichtiger als für Ostdeutsche“. Sie erinnern sich „im Zweifel eher im Modus des Diktaturgedächtnisses“ (S. 229). So werden laut Meyen (2020) alle zum Schweigen gebracht, die anderes über die DDR erzählen könnten und insgesamt Perspektiven unterdrückt, die „dem neoliberalen Wertekanon“ (S. 348) widersprechen. Sonja Messmer sagt dazu: „[I]ch fühle mich angegriffen, wenn man uns das so überstülpt. Wir haben ja trotzdem ein Leben gehabt, mit viel Glück und Freude, mit Freundschaften, mit Liebe…[…] [W]enn man dieses abtut, unserem Leben irgendwie so einen Stempel aufdrückt, das war eben nicht das ganze Leben und wir haben trotzdem versucht, was draus zu machen und haben auch was geschafft.“ Diese Aussage lässt sich eher dem in Ostdeutschland dominierenden Arrangementgedächtnis zuordnen, das die alltägliche Selbstbehauptung und den Stolz auf das Erreichte in den Fokus stellt (vgl. Abschn. 3.3.1). Die Divergenz von Berichterstattung und eigener Wahrnehmung kann nur zu Entfremdung, nicht zu Identifikation mit den Medien führen. Auch hierin liegt also eine Ursache für das geringere Medienvertrauen in Ostdeutschland.

Franziska Beermann hat insbesondere während ihres Aufenthalts in Köln festgestellt, dass „Journalismus extrem westdeutsch geprägt ist und interpretiert wird“. Bei vielen journalistischen Erzählungen fehle die ostdeutsche Perspektive, „ob das jetzt historisch ist oder […] mentalitätsmäßig“. Ostdeutsche Besonderheiten hätten westdeutsche Redakteur:innen „nicht auf dem Schirm, […] es ist so ein bisschen ein blinder Fleck“. Die „überregionalen, […] intellektuellen politischen Medien“ hätten mit Ausnahme der ZEIT im Osten einen klischeehaften Blick auf Ostdeutschland. „[W]ie sie auf AfD, Neonazis und so weiter gucken, ist extrem von der Außenperspektive, fast, als würde man Auslandsberichterstattung machen.“ Beermann glaubt, dies führe bei den Menschen im Osten zu einer „Abwehrhaltung“: „Wenn du zu mir sagst ‚Ich bin Nazi – na dann bin ich halt Nazi‘.“ Sie räumt auch ein, dass es eine Herausforderung sei, eine „gute Balance“ in der Berichterstattung zu finden. „[D]ass man sagt, ich relativiere nicht, aber ich versuche auch nicht immer nur auf diese Extreme zu gucken, weil die ja auch nur ein Teil der Gesellschaft in Ostdeutschland darstellen und abbilden.“

Auch Thomas Vorreyer fände es wichtig, aus Ostdeutschland klischeefrei zu berichten, „als wenn es jede andere Region in Deutschland wäre“. Er beobachtet in dieser Hinsicht eine positive Entwicklung. Mit den überregionalen Medien geht er weniger hart ins Gericht als seine Kollegin Beermann. Viele, so zum Beispiel die ZEIT, die SZ oder die FAZ, hätten mittlerweile „sehr stabile Korrespondent:innen“ in Ostdeutschland. Auch die ARD gebe in den Tagesthemen ostdeutschen Belangen mehr Raum. „[I]ch glaube, ganz viele Medien machen eigentlich eine sehr selbstverständliche Berichterstattung von Leuten, die vor Ort sind, die das reflektieren und sehr gut informiert sind.“ Dennoch brauche es „auch genuine regionale Medien von hier“.

Martin Machowecz wünscht sich zudem, dass mehr überregionale Medien im Osten entstehen würden: „[W]enn es eine ostdeutsche überregionale Zeitung gäbe, die […] ganz selbstverständlich außenpolitische Berichterstattung aus der Zentrale in Erfurt macht, das wäre natürlich eine Lösung für ganz, ganz viele Probleme, weil es ein großer Bestandteil dieses Repräsentationsdefizits in Ostdeutschland ist, dass es dieses Medium nicht gibt.“

„Du musst es aus Idealismus tun können und nicht, weil du eine sichere Karriere brauchst. Und deswegen werden Leute, die aus einer Region kommen, in der […] die Verhältnisse ein bisschen schwieriger sind, als allerletztes daran denken, Journalisten zu werden.“

– Martin Machowecz

Was in Abschnitt 3.2.3 gezeigt wurde, hat sich in den Gruppendiskussionen bestätigt: Aller Anfang ist schwer – aber im Osten ganz besonders, zumindest wenn es darum geht, den Einstieg in den Journalismus zu schaffen. Dies ist ein wesentlicher Grund für die Unterrepräsentation ostdeutscher Journalist:innen in der Medienlandschaft, bestätigen die Teilnehmer:innen der Gruppendiskussion. Die Verdienstmöglichkeiten seien gering, die soziale Sicherheit, die es braucht, um Journalist:in zu werden, hingegen entscheidend (vgl. Machowecz). Der Journalismus ziehe Idealist:innen an, die sich den Sicherheitsverzicht leisten können, weil sie beispielsweise „aus einem baden-württemberger Lehrerhaushalt“ (Machowecz) kommen. Diejenigen, die aus einer strukturschwächeren Region kommen, machten „dann halt doch lieber eine Bank-Ausbildung oder ein BWL-Studium“ (ebd.).

Für Vorreyer ist auch das fehlende Medien- und Ausbildungsangebot in Ostdeutschland ein Problem. Es gebe schlicht nicht so viele Arbeitsplätze, „nicht viele Gelegenheiten reinzuschnuppern, nicht viele Volontariatsplätze“. Auch mangele es an Studienangeboten, viele zögen es vor, woanders zu studieren. Wenn Medien im eigenen Umfeld weniger wichtig sind, so schlussfolgert Lena Messmer, „gibt es ja auch weniger Anreize, […] da selber mitzumischen und selber Medien zu machen und journalistisch tätig zu werden“. Fehlende Berührungspunkte mit Medien in Kindheit und Jugend verringern nicht zuletzt auch die Wahrscheinlichkeit, journalistische Vorbilder zu entdecken. Diese beeinflussen jedoch die persönlichen Vorstellungen von dem Beruf und die Entscheidung, Journalist:in zu werden (vgl. Dernbach et al., 2017, S. 98 f.). Vorreyer glaubt, es fehle auch an Netzwerken vor Ort, an Leuten, die „jemanden mitziehen“. An der Henri-Nannen-Schule in Hamburg beispielsweise würden viele Bewerber:innen von anderen Nannenschüler:innen „richtig […] gecoacht“, eine Aussage, die die Relevanz von Mentor:innen unterstreicht (vgl. Abschn. 3.2.3).

Entscheidender als Mentor:innen, Vorbilder oder Berührungspunkte mit dem Journalismus in der Kindheit scheint jedoch die individuelle Motivation zu sein. Sonja Messmer hat Journalistik studiert, weil sie „das Leben und die Menschen interessiert haben“, für Jacobi lag der Reiz darin, ihre Meinung ausdrücken zu können. Auch Vorreyer hat mit dem Bedürfnis, genauer hinsehen zu wollen, eine „klassische Motivation für Journalismus“, wie er selbst sagt, und Machowecz ist in den Journalismus gekommen, weil er „das schon immer machen wollte“. Diese Aussagen decken sich mit der Berufsmotivation, die Hanitzsch et al. (2016) und Jeschke et al. (2010) in ihren Studien herausgearbeitet haben (vgl. Abschn. 3.2.4).

„Es passiert immer noch das, was immer passiert ist, nämlich die Eliten rekrutieren sich selbst nach der Herkunft, die sie kennen, nach dem sozialen Setting, das sie kennen, nach dem sozialen Status, den sie kennen.“

– Martin Machowecz

Auch wenn Ostdeutsche mit dem Schritt in die Ausbildung den ersten Grundstein für ihre Karriere im Journalismus gelegt haben, bleibt der Aufstieg für sie ungleich schwieriger. Eliten rekrutieren sich am liebsten selbst, wie die obige Aussage unterstreicht. „Dem Westdeutschen ist das Westdeutsche […] das Normale“ (Dieckmann), dies wurde bereits in Abschnitt 3.3.2 erwähnt. Daraus resultiert für Ostdeutsche in Westdeutschland Druck, sich anzupassen. „Während die Westdeutschen zu wissen glauben, wie es ‚drüben‘ gewesen ist, und genug haben von Entschuldigungen und Rechtfertigungen, vermeidet der Ostdeutsche am liebsten, als DDR-Bürger enttarnt zu werden“ (Meyen, 2013, S. 13). Selina Wiese beschreibt sich selbst als perfektionistisch, was sie auf ihr Aufwachsen im Westen zurückführt: „[I]ch habe […] auch dadurch, dass meine Mutter in den Westen gegangen ist [sehr stark gelernt], die große Angst, ihrerseits zu versagen oder Fehler zu machen.“

Der Journalismus in Deutschland ist ein selbstreferenzielles System, dessen Strukturen nur mühsam aufgebrochen werden können. „Für mich hat auch kein Westler im Pressehaus in Hamburg seinen Platz geräumt“, so Dieckmann über seine Anfänge bei der ZEIT vor 30 Jahren. Westdeutschen im westdeutsch geprägten Journalismus fällt es offenbar schwer, zugunsten von mehr Diversität auf ihre Privilegien zu verzichten. Bei der Diskussion über mehr Diversität in den Redaktionen schwingt seit einigen Jahren daher immer öfter die Frage einer Quotenregelung mit. Beermann steht einer Ost-Quote eher kritisch gegenüber. Sie kenne Kolleg:innen, die seit 30 Jahren beim MDR arbeiteten und sich selbst ostdeutsch lesen würden. Sie fände es „blöd“, wenn ihre Generation jemandem, der aus Nordrhein-Westfalen zum MDR gekommen ist, mit der Begründung seiner westdeutschen Herkunft eine Stelle vorenthalten würde. Sie sei zwiegespalten bei der Frage, ab wann man als ostdeutsch gilt. „[I]st man ostdeutsch nur qua Geburt oder qua Sozialisation?“

Wuschig (2005) konstatiert, dass auch Westdeutsche, die lange im Osten leben, ihr soziales Umfeld oft im Westen haben und die ostdeutsche Gesellschaft „aus dem Blickwinkel der beruflichen Neutralität, des Nicht-Betroffenseins“ erleben (S. 75). Auch für Martin Machowecz zählt daher jemand, der seit 30 Jahren in Ostdeutschland wohne, nicht direkt als ostdeutsche Führungskraft. Er sei „in der Machtfrage total entschieden“. Für ihn gehe es darum, wo jemand seine Schulbildung absolviert hat, wo seine ursprüngliche Herkunft liegt. „[D]a geht es um Repräsentation, da geht es um die Frage ‚Sehen die Leute in dem jemanden, […] der sie selbst sein könnten?‘“ Dass es diese Vorbilder nicht gebe, sei ein wesentlicher Grund für den Demokratieverdruss im Osten. „[L]eider funktioniert da auch immernoch nicht der Elitentausch.“ Machowecz befürwortet daher eine Ost-Quote – „zumindest als Drohung.“

„Also es wird langsam ein bisschen besser, aber was immer noch fehlt, ist so eine Inner-Ost Verständigung. Die gibt es noch nicht so richtig für mich und die ist dringend nötig.“

– Henry Bernhard

Die Teilnehmer:innen betonen mehrfach, dass sich in Bezug auf die Ungerechtigkeiten im deutschen Mediensystem in den letzten Jahren vieles zum Positiven verändert habe. Doch sie vermissen ein Medium zur „Inner-Ost-Verständigung“ (Bernhard) als ostdeutsches Pendent zu den großen Zeitungen aus Westdeutschland. Das sei „dringend nötig“. Selina Wiese wünscht sich mehr Auseinandersetzung mit dem Osten aus dem Osten selbst heraus. „Aber so die Kritik aus dem Inneren […] an dem, was im Osten dieses Landes schiefläuft, die […] müsste noch lauter sein.“ Dadurch würden nicht westdeutsche Medien bestimmen, wie der Osten ist, sondern der Osten könnte „die Probleme selber framen“. Vielen Dingen, wie die Tatsache, dass Menschen mit Migrationshintergrund nicht in den Osten reisen möchten, könne man auch journalistisch etwas entgegensetzen, indem „wir diese Probleme [viel, viel offensiver] anpacken“.

Die ZEIT im Osten, eine Regionalbeilage der Wochenzeitung aus Hamburg, die seit 2009 in den neuen Bundesländern erscheint und sich gezielt ostdeutschen Themen widmet, ist ein vielzitiertes Positivbeispiel (vgl. Mükke, 2021, S. 32 f.; Bernhard). Martin Machowecz, der von Anfang an Teil der Redaktion war, erinnert sich, dass das Vorhaben auf „große Widerstände im Medienbetrieb“ stieß, viele hätten die Idee „skurril“ gefunden – wer unterscheide 30 Jahre nach der Einheit, wo alle Probleme behoben sind, noch zwischen Ost und West? Doch die Leserzahlen entwickelten sich positiv. Das zeige: Es lohnt sich, „den Osten ernst zu nehmen und die Geschichten zu erzählen, die die Leute interessieren“. Vor allem jedoch sei das Geheimrezept, Journalismus aus der Region und nicht über die Region zu machen und nicht nur im Krisenfall, sondern dauerhaft präsent zu sein. Machowecz resümiert: „[I]n den Jahren ist wahnsinnig viel aufgebrochen und wahnsinnig viel passiert. Heute würde, glaube ich, niemand mehr sagen, dass es kein Ost- und Westdeutschland mehr gibt.“

Zwischenfazit

Die gesamtdeutsche Medienlandschaft ist auch heute noch durch ein westdeutsches Medienidiom und westdeutsche Persönlichkeiten in den Redaktionen geprägt. Die Berichterstattung über Ostdeutschland ist oft klischeebehaftet. In beiden Generationen wird dies deutlich wahrgenommen. Wenn es um die Darstellung der DDR in den Medien geht, dominiert deren Diktaturcharakter, das Arrangementgedächtnis bekommt wenig Raum. Dies führt zu geringerem Medienvertrauen und zur Entfremdung von den Medien. Es fehlt an einem identitätsstiftenden Medium zur „Inner-Ost-Verständigung“ (Bernhard) sowie überregional relevanten Medien aus Ostdeutschland. Tendenziell rekrutieren sich westdeutsche Eliten am liebsten selbst, wodurch der deutsche Journalismus als selbstreferenzielles System angesehen werden kann, in dem sich Minderheiten wie Ostdeutsche nur schwer etablieren können. Dass ostdeutsche Perspektiven seltener Eingang in die Berichterstattung finden, liegt auch an dem schwierigen Einstieg in den Journalismus. Neben finanziellen Hürden und weniger Ausbildungsangeboten mangelt es in Ostdeutschland an Mentor:innen und Vorbildern, die Wege in den Beruf aufzeigen könnten. Seit einigen Jahren beobachten die Teilnehmer:innen eine Verbesserung hin zu mehr Gleichberechtigung von ost- und westdeutschen Perspektiven im Mediensystem. Neue Medienangebote wie die ZEIT im Osten deuten auf einen Wandel hin und zeigen, dass die Unterschiede und Ungerechtigkeiten zunehmend ins Bewusstsein von Medienorganisationen und Ausbildungsinstitutionen rücken.

5.4 Diskriminierung von Ostdeutschen – keine Generationenfrage

Viele ostdeutsche Journalist:innen haben schonmal Abwertungserfahrungen aufgrund ihrer Herkunft gemacht. Westdeutsche Kolleg:innen legten und legen bis heute eine gewisse Arroganz an den Tag, die auch mit fehlenden Kenntnissen über die ostdeutsche Geschichte und Gegenwart zutun hat. Journalist:innen leiten daraus unterschiedliche Konsequenzen ab: Es gibt sowohl Tendenzen zur Assimilierung als auch zu verstärkter Selbstbehauptung.

„Das Krasseste war: ‚Hätten wir die Mauer mal behalten, um uns vor den Faschisten aus dem Osten zu schützen‘. […] Von einer landespolitischen Korrespondentin in Düsseldorf im Übrigen.“

– Franziska Beermann

In beiden Generationen haben Journalist:innen aufgrund ihrer ostdeutschen Herkunft im beruflichen Kontext Abwertungserfahrungen durch Westdeutsche gemacht. Ulrike Jacobi erinnert sich, wie sie 1989 in der Jury des Klagenfurter Journalistenpreises geholt wurde, als „Quoten-Ostfrau“, wie sie sagt. Sie erwartete, dort auf großes Interesse von den westdeutschen Kolleg:innen zu stoßen, dachte, sie würde beispielsweise gefragt werden, ob sie bei der Stasi gewesen sei oder diese wahrgenommen habe. Doch nichts dergleichen passierte. „Ich kam dahin und da hat sich kein Mensch an mich gewandt. Die saßen alle da, die fuhren zusammen mit ihrem Cabrio zum Essen und haben mich nicht einmal… Sie haben mich überhaupt wie Luft behandelt.“ Das sei „schon ganz schön blöd“ gewesen.

Als Jacobi etwas später bei einer Messe eine Feuilleton-Redakteurin der ZEIT kennenlernte, schlug sie vor, man könne ja einmal einen Rollentausch vornehmen – Jacobi würde für eine gewisse Zeit zur ZEIT, die westdeutsche Redakteurin zum Neuen Deutschland gehen. Doch ihr Gegenüber fand die Idee „unglaublich“, man könne sich doch nicht vergleichen. Jacobis Studium sei doch gar nicht vollwertig gewesen. „Da hatte sie ja Recht: Dies und jenes hatte ich nicht. Aber ich konnte Russisch gut. Nur das war für sie egal.“ Jacobi findet: „[D]iese Idee, […] das wäre echt eine deutsche Einheit gewesen.“ Beide Anekdoten zeugen nicht nur von Abwertung und Arroganz der ostdeutschen Kollegin gegenüber, sondern auch von einem ausgeprägten Desinteresse an der journalistischen Realität im Ostdeutschland der 1990er Jahre.

Franziska Beermann hat Abwertungserfahrungen insbesondere in der Zeit ihres Volontariats in Köln gemacht. Es sei eine Klischee-Kiste, die über einem ausgekippt werde. Sie habe sich viele Kommentare, auch von gebildeten Kolleg:innen, zum Thema AfD und Pegida anhören müssen. „Also die meinten das gar nicht auf mich gerichtet, sondern auf die Ostdeutschen. Aber ich bin ja eine Ostdeutsche und meine Familie lebt ja noch dort und damit trifft es einen ja dann trotzdem.“ Es ist auch die andere Sozialisation, die Beermanns Erfahrung nach in Westdeutschland auffällt – wie die Tatsache, dass manche Eltern nach der Geburt sehr bald wieder arbeiten gehen und die Kinder in Bildungsinstitutionen unterbringen. „Also dieses ganze Unverständnis darüber, dass es […] aus wirtschaftlichen und finanziellen Gründen und halt auch einfach sozialisierten Gründen bei uns anders war.“ Damit sei oft eine Abwertung verbunden.

Auch Machowecz hat ähnliche Kommentare wie Beermann schon gehört. Er fasst sie in erster Linie eine „spielerische Form von Auseinandersetzung“ auf. Bananenwitze seien für ihn keine Diskriminierung. „[I]n dem sozialen Status und in dem Leben, in dem ich mich befinde, bin ich als Ossi so gefestigt und selbstbewusst, dass ich es einfach lustig finde.“ Er gehe mit seiner ostdeutschen Herkunft ja auch „wahnsinnig forsch“ um und habe „halt einfach beschlossen zu behaupten, dass es die wesentlich tollere Herkunft ist, diskriminiere also, im Spaß, den ganzen Tag Wessis“. Mehrere Teilnehmer:innen beider Generationen betonen auch, noch nie aufgrund von ihrer ostdeutschen Herkunft diskriminiert worden zu sein (vgl. Bernhard; Vorreyer).

„Beispielsweise saß ich beim Studium im ersten Semester mit vier anderen Leuten an einem Tisch, die alle nach der Schule beim Auslandsjahr auf demselben Berg in Brasilien gewesen waren. […] Und keine dieser Personen war jemals in Ostdeutschland oder Sachsen-Anhalt gewesen.“

– Thomas Vorreyer

In Westdeutschland ist das Wissen über Ostdeutschland und die DDR sehr gering – eine logische Konsequenz aus dem soeben dargelegten Desinteresse. Jede:r einzelne Teilnehmer:in der jungen Generation hat diese Wissenslücke im Westen im Laufe der Diskussion thematisiert. „Klar, ich hatte auch irgendwie Jokes, Begegnungen und mal blöde Sprüche. Aber das fand ich halt nicht so schlimm wie dass kein Wissen […] vorhanden ist“ (L. Messmer). Martin Machowecz wundert sich bisweilen, wie „wenig Verständnis [es gibt] für Zusammenhänge und das andere Aufwachsen und den Mauerfall und den 9. November und die Montagsdemos“. Da gebe es Aufklärungsbedürftigkeit.

Doch bereits in der Schule wird dem Thema wenig Raum gegeben. Arnswald (2004) fand in einer Untersuchung heraus, dass das Gesellschafts- und Machtsystem der DDR sowie die Entwicklung von Opposition in den Lehrplänen nur unsystematisch oder unzureichend bearbeitet werden, insbesondere in den alten Bundesländern. „Am wenigsten Aufmerksamkeit erfährt die Kritik des gesellschaftlichen Modells des Sozialismus in seiner Entwicklung sowie mit seinen theoretisch-ideologischen Quellen“ (ebd.). Selina Wiese erinnert sich, dass sie im Unterricht in Baden-Württemberg vorschlug, sich mit den Montagsdemonstrationen zu beschäftigen. „Und dann kann ich mich noch erinnern, dass ein Mitschüler wirklich einmal über die Schulter nach hinten ‚Ey, von denen da drüben will ich nichts hören!‘, so gesprochen hat.“ Zwar wurde die Stunde trotzdem abgehalten. Doch abgesehen davon sei Ostdeutschland eigentlich kein Thema gewesen, es sei nicht darüber gesprochen worden und man habe auch nicht wissen wollen, was sie dazu zu sagen hatte. Auch Beermanns Freunde in Köln erzählten, sie hätten nichts zur DDR oder Wiedervereinigung gelernt. Beermann sagt, sie könne ihnen ihre Unwissenheit gar nicht wirklich zum Vorwurf machen, schließlich habe das Thema in ihrem Leben bis dato keine Rolle gespielt.

Fehlendes Wissen über Ostdeutschland gibt es auch in den Redaktionen. In Bezug auf eine Sendung der ARD-Sportschau erzählt Christoph Dieckmann: „Ohne Humor kam man da nicht über die Runden. Also wenn […] Chemnitz und Cottbus dasselbe [ist]… Ja, was soll man dann noch vermissen auf der Welt?“ Beermann habe ihren Kolleg:innen nicht dauernd erklären wollen, warum die AfD in Ostdeutschland so stark sei. „Erst verletzt es, dann kriegt man so eine ‚Erst-Recht- und Trotzhaltung‘ und irgendwann ermüdet es einen.“ Beermann habe sich in Köln auch ihren sächsischen Dialekt „richtig krass abtrainiert“, um nicht mehr darauf angesprochen zu werden. „Schon diese Ignoranz, als würden alle Ostdeutschen sächseln, als gäbe es nur diesen einen Dialekt für diese ganze Region. Das finde ich […] herabwürdigend.“

Diese Erzählungen zeigen, dass fehlendes Wissen eng mit Diskriminierung verknüpft ist. Dies leuchtet mit Blick auf die Theorie Sozialer Identität von Tajfel ein: Wenn kaum Kontakt zu Mitgliedern der Outgroup besteht und kaum Wissen über deren Lebensrealität vorhanden ist, werden sie tendenziell als „undifferenzierte Items“ wahrgenommen. Die Soziale Identität, d. h. der Wert und die emotionale Bedeutung der eigenen Gruppenmitgliedschaft, gewinnen dadurch wiederum an Bedeutung, die Neigung, die andere Gruppe abzuwerten, nimmt zu (vgl. Abschn. 2.2).

Zwischenfazit

Ostdeutsche werden auf Grundlage eines westdeutschen, vermeintlich universellen, Maßstabs be- und verurteilt. Dabei wird ihnen immer wieder deutlich gemacht, dass sie anders sind – anders sprechen, anders sozialisiert sind, anders leben. Dies ist meist mit subtilen oder konkreten Kränkungen verbunden, die von Nicht-Beachtung und Desinteresse bis hin zu beleidigenden Kommentaren reichen. In beiden Generationen haben Journalist:innen solche Abwertungen aufgrund ihrer Herkunft erfahren. Sie werden jedoch von Person zu Person sehr unterschiedlich wahrgenommen. Manche bewerten diese Erfahrungen nicht als Diskriminierung, sondern als eine spielerische Form der Auseinandersetzung, andere wiederum fühlen sich dadurch angegriffen. Auch die Konsequenzen, die daraus gezogen werden, unterscheiden sich. Es gibt Tendenzen zur Assimilierung, indem sich beispielsweise der Dialekt abgewöhnt wird. Andere wiederum gehen umso selbstbewusster mit ihrer ostdeutschen Herkunft um. Die Abwertungen stehen in engem Zusammenhang mit dem fehlenden Wissen über Geschichte und Gesellschaft Ostdeutschlands im Westen, dies lässt sich aus der Literatur folgern und wird auch von den befragten Journalist:innen wahrgenommen. Die DDR-Geschichte und das sozialistische Gesellschaftssystem wird in den Schulen nur unzureichend behandelt. Auch in den Redaktionen gibt es in dieser Hinsicht Wissenslücken. Für ostdeutsche Journalist:innen kann es kränkend und ermüdend sein, ihren westdeutschen Kolleg:innen dauernd ostdeutsche Phänomene erklären zu müssen.

5.5 Wandel durch neue Diskurse und neues Selbstbewusstsein

In beiden Generationen besteht das Bedürfnis, sich journalistisch mit Ostdeutschland auseinanderzusetzen. Insbesondere die junge Generation nähert sich dem Thema dabei auch aus einer autobiografischen Perspektive. Dies stößt bei der älteren Generation nicht immer auf Verständnis. Die Bedeutung der ostdeutschen Herkunft für die eigene Karriere hat sich im Laufe der Jahre stark verschoben. Heute können Journalist:innen von ihr profitieren. Insbesondere die junge Generation hat dies erkannt, vernetzt sich untereinander und möchte die Diskurse im Land mitbestimmen.

„[E]s ist natürlich auch wirklich ein geiles Label. Wenn du ostdeutscher Journalist bist, dann hast du was, was viele andere nicht haben. Ein bisschen scherzhaft gesagt: Für mich als weißen Mann gibt es kein anderes Alleinstellungsmerkmal, als Ossi zu sein.“

– Martin Machowecz

Dieses einleitende Zitat von Martin Machowecz hätte man vermutlich kaum von einem ostdeutschen Journalisten Anfang der 1990er Jahre gehört. Der selbstbewusste Umgang mit der ostdeutschen Herkunft unter Journalist:innen ist ein Phänomen der jungen Generationen. Wuschig (2005) konstatiert, dass „sich der Ossi […] ungern in Szene setzt“(S. 113). Reden können sei eine Qualifikation, das Sich-Verkaufen und Sich-Herausstellen jedoch eine andere. Zu oft schreckten Ostdeutsche davor zurück (ebd.). In westlich geprägten Medien anzukommen, sei eine „schwierigere und langwierigere Aufgabe als gedacht“ (S. 124). Der Medienwissenschaftler Hans-Jörg Stiehler führt dies auch auf die unterschiedliche Sozialisation von Ost- und Westdeutschen zurück. „In diesen Diskursen geht es um Gedanken-Gebäude, in die wir nicht hineingewachsen und um kulturelle Ausformungen, die uns fremd geblieben sind“ (Mükke, 2010, S. 255). Auch sei das Aushalten eines von Westdeutschen bestimmten Meinungsmarktes und seiner „rauen Sitten“ schwierig, so Wuschig (2005), da Ostdeutsche empfindlicher gegenüber Kritik seien. Dies sei letztlich auch ein Grund dafür, dass Ost-Themen auf dem Medienmarkt unterrepräsentiert seien (vgl. S. 128).

Doch inzwischen gibt es in Westdeutschland ein wachsendes Bedürfnis, „den Osten erklärt zu bekommen und erklärt zu bekommen, was da eigentlich gerade passiert“ (Machowecz), beispielsweise mit Blick auf den Aufstieg des Populismus im Osten. Dadurch sind ostdeutsche Redakteur:innen mehr gefragt. Auch an den Journalistenschulen hat man als ostdeutsche:r Bewerber:in heute einen Vorteil. Martin Machowecz ist in der Auswahlkommission der Deutschen Journalistenschule, die er selbst einst besuchte, und konstatiert: „[W]enn du dich da als Ossi bewirbst, ist das in keinem Fall ein Startnachteil, sondern ganz im Gegenteil.“ Es gebe einen großen Bedarf an interessanten Biografien, man wolle dort niemanden ausschließen. Auch Beermann überlegt manchmal, ob sie den Volontariatsplatz beim WDR nicht auch deswegen erhalten hat, weil sei ostdeutsch ist. „Ob das vielleicht auch die interessante Biografie war, die vielleicht noch das extra Quäntchen gebracht hat.“

„Man hat nicht eine starke Generation der Alten, gegen die sich die Jungen auflehnen müssen, sondern man hat im Osten ja eine Generation von Jungen, die es mit schwachen Eltern zu tun haben, mit Eltern, die eigentlich eine gebrochene Biografie haben […], die eher selber Hilfe brauchten.“

– Martin Machowecz

Henry Bernhard kann mit der autobiografischen Verarbeitung der ostdeutschen Identität, wie sie vorwiegend durch jüngere Journalist:innen stattfindet, nicht immer etwas anfangen. „Ich glaube, je kürzer sie die DDR erlebt haben, umso größer ist die Neigung, ein Buch darüber zu schreiben. Das hat jetzt auch jeder gemacht und nun ist irgendwann auch mal gut. Also die Neigung dieser Generation, über Ost-Identität zu schreiben, geht mir gelegentlich auf die Nerven.“ Auch Wagner sagt mit Blick auf die eigene Generation: „Es gibt da kein großes Bedürfnis mit der DDR-Herkunft oder mit der Ossi-Herkunft hausieren zu gehen.“

Im Kontrast dazu stehen die Aussagen der Jüngeren: „Also ich finde es super wichtig, auf diese Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Mich nervt es auch, wenn dann gesagt wird ‚Was redet ihr da noch drüber? […] [D]u bist doch nach der Wiedervereinigung geboren. Es muss doch für dich eigentlich keine Rolle mehr spielen“ (Beermann). Das sei ein „beklopptes Totschlagargument“, weil man merke, das es eben doch noch eine Rolle spielt. Es sei cool, „dass es junge Journalist:innen aus Ostdeutschland gibt, […] die irgendwie Lust haben, darüber nochmal neu und anders zu schreiben und zu sprechen“. Sie glaubt, das Unverständnis der älteren Generation über ihre journalistische Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft rühre daher, dass „für sie ostdeutsch immer ein Nachteil war“.

Lena Messmer glaubt, dass viele Ältere die Auseinandersetzung zudem scheuen, weil „diese Schockmomente, der Umbruch, da wurde ja vieles überhaupt nicht aufgearbeitet“. Sie berichtet, dass die journalistische Auseinandersetzung mit der DDR und Ostdeutschland manchmal zu familiären Differenzen führe. Äußert sie Kritik am aktuellen politischen System oder vergleicht dieses mit früher, werde das schnell so gesehen, als wolle sie etwas schönreden. „Also mein Interesse wird dann auch gleich irgendwie in ein Klischee verpackt, obwohl ich jetzt nicht irgendwelche DDR-Unrechte positiv darstellen möchte, sondern mich einfach dafür interessiere.“ Eine „Abwehrhaltung“ und den Vorwurf der Relativierung seitens der älteren Generation hat auch Beermann beobachtet, insbesondere als Reaktion auf ihren Podcast, in dem sie sich mit dem Aufwachsen in Ostdeutschland beschäftigt. Haag (2016) konstatiert, dass sich die junge Generation in der Regel bewusst von positiv gefärbten Erinnerungsbildern der DDR abgrenzt (vgl. Abschn. 3.3.1).

Für Machowecz zeigen diese Erfahrungen, dass man es nicht mit einem klassischen Generationenkonflikt zutun hat, bei dem sich die Jungen gegen eine starke Generation der Älteren auflehnen (s. Zitat oben). Sie gingen vielmehr voran, zeigten, wer sie sind und was sie können und lebten ihren Eltern etwas vor. Er könne als Ostdeutscher heute „relativ unbeschränkt“ seinen beruflichen Weg gehen, aber er wisse, „wie viele hochtalentierte Menschen in der Generation meiner Eltern und meiner Großeltern […] diese Chance nicht hatten“. „Einfach weil eben das Ostdeutschsein damals noch nicht sowas Selbstverständliches war und weil sie nicht wussten, wie der Weg aussehen könnte.“ Nun stünden „die Älteren […] manchmal so ein bisschen staunend daneben und finden das eigentlich ganz cool, was […] die nächste Generation jetzt anzettelt“. Insgesamt hätte seine Generation mit ihren Eltern einfach noch viel zu wenig über das, was diese erlebt haben, gesprochen.

„[D]ieser ostdeutsche Diskurs, […] da geht’s ja auch sehr viel um Sichtbarmachung. Deshalb sind so viele Journalist:innen jetzt vorne mit dabei, weil es am einfachsten ist, sich selbst sichtbar zu machen, wenn man schon einmal Zugriff hat auf das Medium.“

– Thomas Vorreyer

Viele Initiativen, Projekte und journalistische Formate von Ostdeutschen sind in den letzten Jahren enstanden, darunter beispielsweise Wir sind der Osten, eine Initiative, die über sich schreibt: „Die Wiedervereinigung hat uns geprägt. Jetzt prägen wir die Gesellschaft“ (Wir sind der Osten, 2022b). Erwähnenswert ist auch die 3te Generation Ost, die sich vor allem der Vernetzung und Sichtbarmachung von Wendekindern verschrieben hat (Dritte Generation Ost, 2022). Oft wirken Journalist:innen daran mit. Wuschig (2005) unterstreicht, man dürfe sich nicht in eine passive Rolle begeben. Niemand gebe Akteur:innen mehr Raum – „es sei denn, sie nehmen ihn sich“ (S. 243). Der Identitätsbehaupter, wie er von Schimank definiert wurde, hat als Handlungsantrieb unter ostdeutschen Journalist:innen offenbar an Bedeutung gewonnen (vgl. Abschn. 2.5).

Die Vernetzung von Ostdeutschen ist auch eine Konsequenz enttäuschter Erwartungen nach der Wiedervereinigung, so Dieckmann: „[E]rst, als die Ostler feststellten, dass im Westen keiner auf sie gewartet hatte, da fingen sie an, sich untereinander zu vernetzen.“ Doch gelernt hätten sie das eigentlich nicht so richtig. „Dann fielen die Maschen runter oder plumpste jemand durch.“ Ein bisschen so sei es bis heute. Diese Einschätzung teilt Beermann aus der jüngeren Generation. Sie sei im Netzwerken nicht so gut, auch wenn sie es sehr wichtig finde. „[M]an ist immer eher ein bisschen zurückhaltender und würde sich eher immer ein bisschen unter Wert verkaufen.“

Beermann betont auch, dass man sich trotz der scheinbar großen Aufmerksamkeit in einer „relativ kleinen Bubble“ bewege, die es zwar „nett und gemütlich“ mache, in der letztlich jedoch immer die gleichen Personen zu Wort kämen. Sie fordert, politische Verteilungsmechanismen zu finden, damit die Ungleichheit abnimmt. „[M]an muss irgendwie zu Lösungen kommen“ und dürfe sich „nicht nur in diesem Gefühl immer wieder ergehen“. Es sei zwar wichtig, über diese Dinge zu sprechen, aber es müsse nun auch konstruktiv weitergehen. Machowecz sagt in Bezug auf Symposien und Lesungen: „[I]ch kann da nicht mehr hingehen und ich kann mir das auch nicht mehr angucken, weil ich das Gefühl habe, das habe ich jetzt fünf Jahre, zehn Jahre diskutiert, und was kommt jetzt?“ Die Ostdeutschen müssten aufhören, die ganze Zeit über sich selbst zu reden und anfangen, „selbstverständlich die Diskurse [zu] erobern. […] Wir müssen jetzt schon den nächsten Schritt hinkriegen“.

Zwischenfazit

Die journalistische Auseinandersetzung mit Ostdeutschland führt zwischen den Generationen manchmal zu Konflikten. Die Jüngeren verspüren ein stärkeres Bedürfnis, sich auch aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus mit ihrer Herkunft zu befassen und ihrer ostdeutschen Identität in journalistischen Arbeiten Ausdruck zu verleihen. Die Älteren können dies manchmal nicht nachvollziehen, möglicherweise, weil Ostdeutsch-sein für sie in ihrer Karriere eher ein Nachteil war. Heute können ostdeutsche Journalist:innen, anders als ihre Eltern und Großeltern, relativ unbeschränkt ihren Weg gehen. Für viele ist die ostdeutsche Herkunft sogar ein vorteilhaftes Label. Ihnen spielt auch in die Hände, dass es in Westdeutschland ein wachsendes Bedürfnis gibt, gesellschaftspolitische Prozesse und Phänomene des Ostens zu verstehen. Ostdeutsche Journalist:innen vernetzen sich zunehmend untereinander, auch, wenn vielen die damit verbundene Selbstinszenierung eher fremd ist. In den letzten Jahren sind viele Initiativen zur Sichtbarmachung ostdeutscher Lebensrealitäten entstanden. Einige betonen, dass man sich dennoch in einer Blase bewege und das Thema die Breite der Gesellschaft noch nicht erreicht hat. Es müssten nun politische Veränderungen folgen und die nächsten Schritte getan werden, damit Ostdeutsche in Zukunft die Diskurse in ganz Deutschland mitbestimmen.