In diesem Buch fasst Habermas ein überarbeitetes Essay aus dem Leviathan-Sonderband 37 sowie ein Interview und einen weiteren Sammelbandbeitrag zusammen, die insgesamt einen Überblick über Habermas’ Gegenwartsdiagnosen zum aktuellen Strukturwandel der Öffentlichkeit geben.

Beim Lesen war meine erste Reaktion die Hoffnung, bald wieder ein Seminar über digitalisierte Öffentlichkeiten zu geben. Im ersten Essay spannt Habermas den Bogen von seiner Theorie verständigungsorientierter Kommunikation über die historische und aktuelle Rolle politischer Öffentlichkeit für demokratische Systeme bis zur Arbeitsteilung verschiedener Öffentlichkeitsebenen. Vor diesem Hintergrund ordnet er aktuelle Krisenphänomene wie gesunkenes Vertrauen in professionellen Journalismus, Anstieg von Desinformation und Fragmentierung von Öffentlichkeiten ein.

Für Habermas lassen sich diese Phänomene erstens durch das krisenanfällige Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie erklären: Die Befriedung sozialer Konflikte durch den Sozialstaat im vergangenen Jahrhundert sieht er gefährdet durch steigende soziale Ungleichheit, welche als Reaktion auf die funktionalen Imperative einer globalisierten Marktwirtschaft bisher politisch als unausweichliche Notwendigkeit dargestellt wurde. Zweitens sieht er sie als Folge des technischen Wandels und ein daraus folgendes Verschwimmen verschiedener Rollen in der Öffentlichkeit: Während im von Habermas immer noch idealisierten Modell von Öffentlichkeit dem Journalismus eine ordnende Funktion zugeschrieben wird, sieht er diese durch die vermeintliche Egalisierung von Sprecherrollen in digitalisierten Öffentlichkeiten gefährdet.

Damit ist dies der Text, den ich lange für Student:innen gesucht habe, die einen Überblick über Habermas’ Modell deliberativer Demokratie mit einer Einordnung in aktuelle Debatten bekommen sollen. Habermas fasst hier sehr viele Einzelargumente zusammen, die man bisher aus mehreren verteilten Texten zusammentragen musste. Für Kommunikationswissenschaftler:innen, die bisher Abstand zu deliberativen Öffentlichkeitsansätzen gehalten haben, ist der Aufsatz vor allem in Verbindung mit dem Leviathan-Sonderband ein guter Überblick über den aktuellen Stand der Debatte, auch wenn Habermas selbst zugibt, die Kommunikationsforschung nicht tiefgehend zu verfolgen. Gerade die These einer zunehmenden Fragmentierung in sozialen Medien wird in der Forschung differenzierter gesehen, als Habermas annimmt: Die Echokammer scheint empirisch immer noch ein Randphänomen zu sein, die meisten Nutzer:innen sind auf sozialen Medien eher noch stärker der Meinung Andersdenkender ausgesetzt als in anderen Öffentlichkeiten – aber, wie Habermas richtig sieht, eher konfrontativ als deliberativ. Dafür ist die theoretische Einordnung von Einzelphänomenen, die in der Forschung sehr gegenstandsbezogen untersucht werden – Fragmentierung, Desinformation, Polarisierung –, in breitere gesellschaftliche Dynamiken für Forscher:innen interessant.

Für Deliberationsforscher:innen tragen die Beiträge viel Bekanntes und wenig Neues zusammen. Spannend ist vor allem die Abgrenzung zu Argumenten konkurrierender Ansätze. Hier finden sich interessante Kommentare zur agonistischen Demokratietheorie: Von Theoretiker:innen wie Chantal Mouffe übernimmt Habermas das Argument, dass die Umwandlung von potenziellen Feinden in respektvolle Gegner eine Leistung politischer Öffentlichkeit ist, sieht die Voraussetzungen dafür aber in der argumentativen Herausbildung staatsbürgerlicher Solidarität anstatt (nur) in agonistischer Auseinandersetzung.

Was implizit bleibt: Sowohl Habermas als auch Mouffe gehen davon aus, dass für das Funktionieren der Demokratie ein von breiten Teilen der Bevölkerung geteilter Kern von Überzeugungen notwendig ist. Bei Habermas reicht dieser Kern bis zu geteilten Wahrheits- und Wertvorstellungen, bei Mouffe nur bis zu einem sehr dünnen Bekenntnis zu (sehr offen interpretierbaren!) Werten wie Freiheit und Gleichheit. Die Uneinigkeit besteht also darin, welcher Grad an Konsens sowohl realistisch erwartbar als auch funktional notwendig zum Erhalt gesellschaftlichen Zusammenhalts ist. Habermas selbst ist sehr kritisch gegenüber dem inzwischen wahrscheinlich vergangenen Konsens neoliberaler Wirtschaftspolitik. Können oder müssen wir uns jetzt einen neuen Konsens, zum Beispiel auf Basis der Einsicht in notwendige Klimapolitik, diskursiv erarbeiten? Oder spiegelt die aktuelle Polarisierung in der Bevölkerung nur den Umstand wider, dass kein politisches Programm über verschiedene Milieus hinweg argumentativ überzeugende Angebote liefern kann (und vielleicht auch nur bedingt muss)?

In einem Seminar über digitalisierte Öffentlichkeiten könnte man diskutieren, ob man aus deliberativer Sicht nicht noch mehr aus konkurrierenden Theorieansätzen gewinnen kann. Gegenüber der Systemtheorie fällt auf, dass Habermas dem Journalismus weiterhin keine eigenständige Funktionslogik zugesteht. Systemtheoretiker:innen würden einwenden, dass Journalist:innen sich wahrscheinlich nur nebenberuflich als demokratische Argument-Aggregatoren politischer Debatten sehen, während die Selektion berichtenswerter Ereignisse im journalistischen Alltag im Vordergrund steht. Kommunikationsforschung, die die Eigenlogik journalistischer Selektion (und auch: der Selektion in sozialen Medien) berücksichtigt, müsste also auch nachvollziehen, was Argumente berichtenswert (oder teilenswert) macht – und wie diese funktionalen Imperative weitere Spannungen mit demokratischen Öffentlichkeitsansprüchen hervorrufen. Die Stärke von Habermas’ Ansatz, die Spannung zwischen demokratischen Erwartungen der Bürger:innen und funktionaler Eigendynamik sozialer Systeme offenzulegen, trifft hier auf die Schwäche, diese Eigendynamik weiterhin nur im Staat und der Wirtschaft zu suchen. Damit eignet sich das Essay als Diskussionseinstieg – bietet aber auch Anlass zum kritischen Weiterdenken.