1 Einleitung

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kündigte der in Harvard lehrende Historiker Francis Fukuyama (1992) das Ende der Geschichte als Folge eines globalen Siegeszuges der liberalen Demokratie an. Und auch wenn mit dem Ende der Apartheid oder der anstehenden Rückgabe von Hong Kong und Macau an China kurze Zeit später einiges für die Verbreitung freiheitlicher Ordnungsprinzipien auf Grundlage von Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit zu sprechen schien, verdichten sich ein Vierteljahrhundert später Diagnosen einer fundamentalen Krise der Demokratie (Rosanvallon 2018). Eine Gemeinsamkeit dieser Einschätzungen liegt darin, dass sie eine zunehmende soziale Ungleichheit innerhalb westlicher Industriegesellschaften als Ursache gesellschaftlicher Desintegrationsdynamiken benennen (vgl. auch Piketty 2014, Baccaro/Howell 2017 oder Schäfer 2015). „Autoritärer Kapitalismus, Desintegration und Demokratieentleerung“, so schließt Wilhelm Heitmeyer (2018: 23) vor diesem Hintergrund, hätten „bei Teilen der Bevölkerung tiefe Spuren hinterlassen, die aus individueller Latenz in manifeste kollektive Bewegungen umgesetzt werden können, wenn die entsprechenden autoritären Organisationsangebote vorhanden sind.“

In diesem Artikel will ich die hier skizzierte Entwicklung als Krise politischer Öffentlichkeit im Anschluss an Jürgen Habermas’ (1990) ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ untersuchen. In seiner Anfang der 1960er Jahre veröffentlichten Studie rekonstruiert und bewertet dieser drei Entwicklungsstadien öffentlicher Kommunikation über ihre Emergenz im 17. Jahrhundert und ihre Konsolidierung im Zuge der Aufklärung bis hin zu ihrem Niedergang im 19. und 20. Jahrhundert aus gesellschafts- und demokratietheoretischer Perspektive. Im Zuge umfassender gesellschaftlicher Transformationen (Globalisierung, Ökonomisierung, Digitalisierung), so möchte ich im Folgenden argumentieren, ist es nötig, Habermas‘ Überlegungen einer Revision zu unterziehen.

Anschließend an eine Rekonstruktion der aktuellen Krise der Demokratie als Krise politischer Öffentlichkeit Abschn. 2 leistet der folgende Abschn. 3 eine Reihe grundlegender Begriffsbestimmungen. Abschn. 4 widmet sich der Vorstellung von Habermas’ Argumentation im ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘. Aktuelle Entwicklungen, die diese Überlegungen zur Disposition stellen, fasst der folgende Abschn. 5 zusammen, bevor im letzten Abschn. 6 eine Reihe weiterführender Fragen und Probleme erörtert werden.

2 Krise der Demokratie – Krise der Öffentlichkeiten?

Ob mit Blick auf ihre wünschenswerten Zielsetzungen, die erwartbare Leistungsfähigkeit und eine realistische Praxis – die Demokratie ist von jeher ein umstrittenes Prinzip. Anschließend an Ingeborg Maus (2011: 177) wollen wir den Begriff im Folgenden verstehen als „‚die Vergesellschaftung von Herrschaft‘ – auf der Basis des egalitären Prinzips der ‚Anerkennung aller als Freier und Gleicher, ungeachtet ihrer faktischen Differenzen‘ – und die Unterwerfung aller Staatsapparate unter das demokratische Gesetz, also unter den gesetzgebenden Willen der Bürger.“

Als „Dreieck einer zeitgemäßen Demokratiewissenschaft“ benennt Paul Nolte (2012: 16) die Disziplinen der Geschichte, der empirischen Sozialforschung und der Sozialtheorie. Im Schnittpunkt dieser Perspektiven wurde in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Positionen spätmoderner Demokratie formuliert, die auf eine fundamentale Krise (spätmoderner Demokratie) verweisen. Ein gemeinsamer Bezugspunkt dieser Diagnosen liegt in der Kritik eines neoliberalen Regierungsdispositivs, welches sich in zeitgenössischen Politiken als Verschränkung von Diskursen und institutionellen Regelungen Bahn bräche (vgl. Foucault 2006). Gemessen an der im Anschluss an Maus (2011) etablierten Definition erscheinen Demokratien im 21. Jahrhundert im globalen Maßstab als „reichlich unvollkommen“ (Rosanvallon 2018: 9).

Als vielleicht prominenteste dieser Diagnosen beschreibt der vor allem durch Colin Crouch (2008) geprägte Begriff der Postdemokratie eine Entmachtung des Demos zugunsten politischer Eliten. Angesichts dessen behielten Regierungsinstitutionen, so Crouch weiter, zwar ihren demokratischen Schein, folgten gleichzeitig einer durch Selbstreferenzialität und Kapitalinteressen geprägten Handlungslogik. Seine Diagnose des zunehmenden Einflusses politischer Eliten und des Verfalls politischer Kommunikation entwickelte Colin Crouch einige Jahre später unter dem Eindruck der Finanzkrise zu einer Kritik neoliberaler Ordnungsprinzipien fort (vgl. Crouch 2011).

Das durch Crouch in seinen Arbeiten herausgearbeitete Grundproblem bringt Wolfgang Streeck (2013) in seiner historisch-institutionalistischen Untersuchung ‚Gekaufte Zeit‘ auf den Grundbegriff einer Strukturkonfliktes zwischen Kapitalismus und Demokratie. Unter Bedingungen internationalen Standortwettbewerbs und einer hiermit verbundenen Erschöpfung national- und steuerstaatlicher Handlungsfähigkeit geriet der, so Streeck (2013: 31), Kapitalismus seit den 1970er Jahren in eine „dreifache Krise“ – der Banken, der Staatsfinanzen und der Realökonomie. Mit einem globalisierten Kapitalismus konnte die Politik jedoch nicht (nur nicht) Schritt halten. Eine autoritäre Zentralisierung politischer Entscheidungsmacht jenseits demokratischen Einflusses erkennt Streeck weiterhin im Prozess der europäischen Integration, welchen er als groß angelegtes Liberalisierungsprojekt charakterisiert. Konnte der Nationalstaat das Kapital und seine Interessenvertreter noch zu Kompromissen zwingen, erschwert die Heterogenität der europäischen Länder die effektive Etablierung von Lohnkartellen unter den Gewerkschaften genauso wie etwa eine harmonisierte Steuergesetzgebung unter den Mitgliedstaaten. Ähnlich wie Crouch gelangt Streeck (2013: 28) so zu dem Schluss, dass „die Demokratie, wie wir sie kennen, auf dem Weg ist, als redistributive Massendemokratie sterilisiert und auf eine Kombination von Rechtsstaaten und öffentlicher Unterhaltung reduziert zu werden.“

Nationale Dynamiken der Demokratieunterhöhlung beobachten – ebenfalls am Beispiel des deutschen Falles – Armin Schäfer (2015) und Oliver Nachtwey (2016) unter dem Eindruck einer wachsenden Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes. Einen „Verlust politischer Gleichheit“ diagnostiziert Schäfer (2015) auf Basis breiter quantitativer Untersuchungen angesichts geringer Kapazitäten sowie eines „geringen Glaubens, der Einkommens- und Bildungsarmen, durch politisches Engagement noch etwas verändern zu können.“ Gleichzeitig zeigt Nachtwey die systematische Verursachung sozialer Abstiegsdynamiken durch die Aushöhlung wohlfahrtsstaatlicher und arbeitsmarktpolitischer Institutionen des Sozialkapitalismus. Eine „Regression der sozialen Bürgerrechte“, so schließt er (2016: 116), ziehe damit tief greifende „Auswirkungen auf das demokratische Gemeinwesen und sein generisches Gleichheitspostulat“ nach sich.

Auch vom Blickpunkt der Politischen Theorie (und hier vor allem anschließend an Karl Marx und Michel Foucault) entwickelt auch Wendy Brown (2018) die Diagnose einer ‚Schleichenden Revolution‘ marktbasierter Gesellschaftssteuerung. Im Einklang mit den skizzierten Positionen benennt sie (ebd.: 29) eine zunehmende Ungleichheit zwischen den Menschen, eine wachsende Kommerzialisierung des Alltagslebens und die fortschreitende Unterwanderung des Staates durch die Interessen des Unternehmens- und Finanzkapitals als „kritische Auswirkungen“ des Neoliberalismus’ auf die Demokratie. Anders als die vorgenannten Autoren fokussiert Brown hierbei jedoch weniger die politökonomischen Institutionen neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme als deren spezifische Regierungsrationalität. Unter neoliberaler Ägide, so schließt sie (ebd.: 15), „wandelt die neoliberale Vernunft, die heute in der Staatskunst und am Arbeitsplatz, in der Jurisprudenz, Bildung, Kultur und einem riesigen Bereich von Alltagstätigkeiten allgegenwärtig ist, den eindeutig politischen Charakter, die Bedeutung und Tätigkeit der wesentlichen Bestandteile der Demokratie in etwas Ökonomisches um.“Footnote 1 An die Stelle bürgerrechtlich garantierter Ansprüche und Pflichten treten in der spätmodernen Regierungsrationalität die verinnerlichten Zielgrößen von Incentive-Steuerung und Humankapitalintensivierung. Als „eine Form der öffentlichen Willensbildung und Entscheidungsfindung, bei der alle betroffenen Personen gleiche und wirksame Einflußmöglichkeiten haben und die normativ begründungsfähige Problemlösungen hervorbringt“ (Zürn 1998: 233), so lässt sich damit schließen, gerät die Demokratie seit einigen Jahrzehnten in zunehmendem Maße unter Druck.

In der Tradition des liberalen Fortschrittsideals lassen sich die hier vorgestellten Krisensymptome auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt hin zuspitzen – was bei Crouch die Aushöhlung öffentlicher Institutionen, bei Streeck die Zentralisierung politischer Macht in Brüssel und bei Brown die sinnstiftend-normative Ordnung Neoliberaler Regierungsrationalität bezeichnet wird, lässt sich vom Blickpunkt der politischen Soziologie und Demokratietheorie als Krise von Öffentlichkeit interpretieren. Eine genauere sozialwissenschaftliche Bestimmung dieses Begriffes möchte ich im folgenden Abschnitt entwickeln.

3 ‚Öffentlichkeit‘ als sozialwissenschaftlicher Begriff und die ‚Strukturwandel‘-These

„The world that we have to deal with politically is out of reach, out of sight and imagined“ (Lippman 1997: 1). Ähnlich wie spätere Klassiker der politischen Kommunikationsforschung (Edelman 1976; Luhmann 1995) betont Walter Lippman in seiner Kritik demokratischen Regierens zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Konstruktionscharakter öffentlicher Diskurse. Als ein „Medium der kollektiven Selbstverständigung und Selbstaufklärung“ schafft Öffentlichkeit „eine Legitimationsgrundlage politischer Ordnungen und Entscheidungen“ (Peters 2007: 655) innerhalb eines Spannungsfelds, das „[P]olitische und ökonomische Interessen der Öffentlichkeitsakteure“ mit den „Unterhaltungs- und Orientierungsbedürfnisse[n] eines Publikums“ konstituieren, „das in marktwirtschaftlich verfaßten Demokratien als Elektorat und Kundschaft strategische Bedeutung besitzt“ (Neidhardt 1994: 7). „In dieser Öffentlichkeit, und nur in dieser“ so lässt sich mit Imhof (2003: 401) schließen, „ist das, was wir in politischem Sinne Gesellschaft nennen, beobacht- und qua Intervention gestaltbar.“ Wie aber lässt sie sich analytisch präziser bestimmen?

Als Ort der politischen Legitimation demokratischen Regierens kommt dem Begriff der Öffentlichkeit in den Politik- und Rechtswissenschaften, der Sozialphilosophie (Dewey 2001) und Soziologie (Habermas 1990), aber auch in den Geschichts- und Kulturwissenschaften (Ballhaus 2001) eine zentrale Bedeutung zu. Anschließend an (Preuss 2004: 48 ff.) lassen sich vier bestimmende Dimensionen unterscheiden: Als Inbegriff der res publica dient die Öffentlichkeit als Bindeglied zwischen Staat und Volk im Sinne eines politischen Gemeinwesens auf Basis einer Selbstgesetzgebung der Bürger. Als „Merkmal der Qualität politischer Herrschaft“ (ebd. 51) bezeichnet Öffentlichkeit den normativen Maßstab der Ermittlung des Gemeinwohls in einem allgemeinzugänglichen Vorgang. Indem sie die Gesamtheit aller Staatsbürger repräsentiert, fungiert Öffentlichkeit drittens als ein legitimatorisches Kennzeichen politischer Herrschaft durch Zwangsausübung. Und viertens stellt die Öffentlichkeit eine „Sphäre kommunikativer Meinungs- und Willensbildung“ (ebd.: 53) dar.

Die Voraussetzungen und Probleme demokratischen Regierens lassen sich unter Bezug auf das Konzept der Öffentlichkeit in normativer 1) und empirischer 2) Hinsicht untersuchen: Unter normativen Gesichtspunkten wirkt sie hierbei als „Mechanismus der politischen Legitimation“ eines Gemeinwesens (Trenz 2018: 359) und konstituiert so „ein Netzwerk für Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen“ (Habermas 1992: 436), welches kollektive Entscheidungen an den Maßstäben demokratischen Regierens misst und den Mitgliedern Möglichkeit und Sinn ihrer Zugehörigkeit und Teilhabe vermittelt.

In diesem Sinne benennt Neidhardt (1994: 8) „drei Prinzipien und Funktionen politischer Öffentlichkeit“. Indem Öffentlichkeit zum einen allen gesellschaftlichen Gruppen offensteht und für alle Themen und Meinungen von kollektiver Bedeutung sein soll, erfüllt sie erstens eine Transparenzfunktion. Dadurch, dass sie die Teilnehmer den Meinungen anderer Teilnehmer aussetzt, zwingt sie diese, ihre jeweiligen Ansichten zu reflektieren (und ggf. auch anzupassen) und erfüllt so, zweitens, eine Validierungsfunktion. Indem sie öffentliche Meinungen produziert, welche die Adressaten als überzeugend wahrnehmen können, leistet sie, drittens, eine Orientierungsfunktion. Aus demokratietheoretischer Sicht erkennt Fraser (2007: 298) damit Legitimität und Effizienz als normative Gradmesser politischer Öffentlichkeit: „Without them“, schließt sie, „the concept loses its critical force and its political point“ (vgl. grundsätzlich hierzu auch Scharpf 1999).

4 Der Strukturwandel der Öffentlichkeit nach Habermas

Die Debatte um die deliberativen Potenziale und Bedrohungen öffentlicher Kommunikation reicht im Verlauf des 20. Jahrhunderts von der Kontroverse zwischen Walter Lippmann (1997) und John Dewey (2001) über die Dialektik der Aufklärung bis zu Hannah ‚Vita activa‘. Einen grundlegenden Beitrag zum Forschungsfeld leistete Anfang der 1960er Jahre Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift zum ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘. In Abgrenzung zur marxistischen Theorie, in welcher die bürgerliche Öffentlichkeit „lediglich als ideologischer Schleier partikularer Interessen“ (Hartmann 2006: 170) erscheint, rekonstruiert Habermas hier Idee und Praxis einer bürgerlichen Öffentlichkeit zum Zweck einer Abschaffung unbegründeter Herrschaft im demokratischen Nationalstaat. Das zentrale Anliegen der Untersuchung stellt, mit Calhoun (1992: 1) gesprochen, die Frage dar, unter welchen Bedingungen „mixed companies“ über kommunikative Akte belastbare Grundlagen politischen Handelns ausbilden können: „What are the social conditions, he asks, for a rational-critical debate about public issues conducted by private persons willing to let arguments and not statuses determine decisions?“ Indem er sich an Webers idealtypischer Methode orientiert und das Öffentlichkeitsverständnis der Aufklärungsphilosophie mit den realen Entwicklungen kontrastiert, beruht seine Untersuchung auf einer „normative[n] und analytischen[n] Ausgangsbasis“ (Imhof 2011: 71).

Am Beispiel der Entwicklung in England und Deutschland zeigt Habermas (1990: 13), wie sich im Bürgertum bis zum Ende des 18. Jahrhunderts „eine kleine, aber kritisch diskutierende Öffentlichkeit“ entstand. Die schnell wachsende Zahl von Leserinnen und Lesern bedingt gegenseitig die erweiterte Produktion von Büchern und Zeitschriften sowie die Gründung von Bibliotheken und den wachsenden Buchhandel als „soziale Knotenpunkte einer neuen Lesekultur“ (ebd.). Ein politisch räsonierendes Publikum findet dabei seinen Ort in privaten Zusammenschlüssen des Bürgertums, welche sich zu Kristallisationspunkten des sozialen Lebens entwickeln (Habermas 1983: 93). Ausgangspunkt der Öffentlichkeit ist dabei die Privatheit: erst im Rahmen der intimen bürgerlichen Kleinfamilie bildet sich ein politisch räsonierendes Publikum.

Nach Habermas ist die Voraussetzung hierfür die Ausdehnung und Freisetzung des freien Marktes gewesen, durch welchen Warenbesitzer private Autonomie gewinnen und welcher soweit wie möglich eine Angelegenheit der „Privatleute unter sich“ ist (ebd.: 95). Mit den Kodifikationen des bürgerlichen Rechts wird ein vor staatlichen und ständischen Eingriffen geschützter Verkehr von Privatleuten gesichert (ebd.: 96 f.). Die Kodifikation des bürgerlichen Rechts findet als dialektischer Prozess statt, in dem ein institutioneller Zusammenhang von Publikum, Presse, Parteien und Parlament bereits beobachtet werden kann: Öffentlichkeit nimmt eine zentrale Stellung ein und wird im 19. Jahrhundert zum „Organisationsprinzip der bürgerlichen Rechtsstaaten mit parlamentarischer Regierungsform“ (ebd. 1983: 95). Bürgerliche Öffentlichkeit ist zwar als ein verbindendes Element zwischen Staat und Gesellschaft zu verstehen, in welchem Konflikte zwischen diesen Sphären ausgetragen werden. Verorten lässt sie sich jedoch eindeutig im Privaten: „Die Bürgerliche Öffentlichkeit entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft, aber so, daß sie selbst Teil des privaten Bereichs bleibt“ (ebd. 1983: 172).

Als konstitutiv für eine Öffentlichkeit sieht Habermas das Prinzip des allgemeinen Zugangs: „Eine Öffentlichkeit, von der eine angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr gar keine Öffentlichkeit“ (ebd. 1983: 107). Hierdurch wird bereits angedeutet, dass nicht allen der Zugang zur Öffentlichkeit freisteht, sondern der Zugang an Voraussetzungen geknüpft ist, welche aus Besitz und Bildung bestehen. „Öffentlichkeit ist dann garantiert, wenn die ökonomischen und sozialen Bedingungen jedermann gleiche Chancen einräumen, die Zulassungskriterien zu erfüllen: eben die Qualifikationen der Privatautonomie, die den gebildeten und besitzenden Mann ausmachen“ (ebd. 1983: 108), wobei Öffentlichkeit, welche auf männliche Teilnehmende beschränkt ist, einem Ausschluss weiblicher Gesellschaftsmitglieder „eo ipso“ gleichkommt und somit nach Habermas nicht als Öffentlichkeit betrachtet werden kann. In der Auseinandersetzung mit Marx wird zudem deutlich, dass durch die Gewaltverhältnisse zwischen Eigentümern und Lohnarbeitern die Erwerbschancen der Zulassungsvoraussetzungen, d. h., von Bildung und Besitz, ungleich verteilt sind; „Diese Kritik zerstört alle Fiktionen, auf die sich die Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit beruft“ (ebd. 1983: 152).

Kapitalistische Entwicklung führt zwischen den Klassen und innerhalb der besitzenden Klasse zu Konzentrationsprozessen, welche in Kombination mit wirtschaftlichen Krisen das Bedürfnis nach einem „starken Staat“ (ebd. 1983: 175) wachsen lassen. Durch staatlichen Interventionismus jedoch verwischt die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, deren Trennung Voraussetzung für die bürgerliche Öffentlichkeit darstellt. Habermas beschreibt dies in zwei Prozessen. Zum einen an der Verstaatlichung der Gesellschaft und einer gleichzeitigen Vergesellschaftung des Staates durch Verbände, zum anderen am Entstehen des Sozialstaates. Diese Entwicklung „zerstört allmählich die Basis der bürgerlichen Öffentlichkeit – die Trennung von Staat und Gesellschaft. Zwischen beiden, und gleichsam „aus“ beiden, entsteht eine repolitisierte Sozialsphäre, die sich der Unterscheidung von „öffentlich“ und „privat“ entzieht.“ (ebd.: 1983: 173). Der Sozialstaat greift tief in Prozesse ein, welche vormals privat im Rahmen der bürgerlichen Kleinfamilie geregelt wurden. Die Eingriffe entbehren jedoch nicht einer Notwendigkeit, sondern werden durch soziale Veränderungen notwendig – beispielsweise durch den Bedeutungsverlust der Familie in und für die Produktion, womit ein Verlust innerfamiliär generierter Einkommen zur Sicherung gegen klassische Risiken wie Unfall, Krankheit, Alter etc. einhergeht. Stattdessen werden die Risiken durch staatliche Garantien abgedeckt, wodurch die private Autonomie abnimmt: „In gewisser Weise wird also auch die Familie, dieser private Rest, durch die öffentlichen Garantien ihres Status entprivatisiert“ (ebd. 1983: 188).

Als weitere Dimension des neuen Interventionismus des Staates im ausgehenden 19. Jahrhundert wird das entstehende Verbands- und Körperschaftswesen dargestellt – ein in zwei Richtungen laufender Prozess. Konflikte werden nicht innerhalb der Privatsphäre ausgetragen, sondern es bündeln sich in Verbänden die Interessen vieler einzelner Privatleute, welche diese öffentlich gegenüber Anderen vertreten. Sie werden zu politischen Interessen, welche in den Staat hineingetragen werden (ebd.: 1983: 173, 238). In der anderen Richtung ist eine Übertragung staatlicher Kompetenzen auf private Körperschaften zu konstatieren – staatliche Gewalt wird privatisiert (ebd.). Es entsteht die Möglichkeit für privilegierte und nicht repräsentative private Interessen zur Akkumulation politischer Macht und, durch die Übertragung staatlicher Gewalt, Kontrolle über gesellschaftliche Prozesse zu erlangen.

Was an Privatheit übrig bleibt, ist ein Schein von Privatheit – in der ausgehöhlten familialen Intimsphäre bleibt die Kleinfamilie als Konsumgemeinschaft zurück. Damit ändert sich deren Handlungsfähigkeit, „private Autonomie erhält sich nicht so sehr in den dispositionellen als in den konsumtiven Funktionen; sie besteht heute weniger in der Verfügungsgewalt von Warenbesitzern als in der Genußfähigkeit der Leistungsberechtigten“ (Habermas 1983: 188). Begleitet wird die Entwicklung davon, dass die Gesetze des Marktes in die literarische Öffentlichkeit eindringen, welche einst von Tauschbeziehungen ausgenommen war – es entstehen durch Massenmedien verbreitete Erzeugnisse der Kulturindustrie. Dabei „wandelt sich Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte vereinzelter Rezeption“ (ebd.: 1983: 194), mit der privaten Aneignung entfällt die öffentliche Kommunikation über das Angeeignete, die für eine Öffentlichkeit notwendige dialektische Beziehung (ebd. 1983: 197). Das Gespräch wird nun einseitig: in Funk und Fernsehen professionell verwaltet wird es in eine Warenform verwandelt, welche vom Publikum konsumiert wird.

Durch den Einzug der Marktlogik in Medien und deren Kommerzialisierung wird die Maximierung des Absatzes zur Steigerung der Werbeeinnahmen das Ziel. Die Folge ist ein gesenkter Anspruch an die Verständnisfähigkeit der Lesenden, eine Entpolitisierung der Inhalte und die Nutzung der Medien zur Beeinflussung der Leserschaft: „Die Öffentlichkeit übernimmt Funktionen der Werbung. Je mehr sie als Medium politischer und ökonomischer Beeinflussung eingesetzt werden kann, umso unpolitischer wird sie im Ganzen“ (ebd.: 1983: 211). Die Gesinnungs- wandelt sich in eine Geschäftspresse, die Unterordnung unter Gesichtspunkte der Betriebsökonomie wird von Möglichkeit zu Zwang (ebd.: 1983: 220 f.). Von zentraler Bedeutung für den strukturellen Wandel der Öffentlichkeit stellt sich dies dar, da Presse „im Maße ihrer Kommerzialisierung selbst manipulierbar“ (ebd.: 1983: 221), zum „Einfallstor privilegierter Privatinteressen in die Öffentlichkeit“ (ebd. 222.) wird.

Nicht nur die Presse wird durch ihre Kommerzialisierung manipulierbar, auch ihr im Zuge der Kommerzialisierung und der technischen Fortschritte immens gewachsenes Publikum: „mit dem Aufstieg der elektronischen Massenmedien, einer zunehmenden Kommerzialisierung des Kommunikationsnetzes sowie dem Zerfall des liberalen Vereinswesen“ entstand im Verlauf des 20. Jahrhunderts „eine neue Kategorie von Einfluß, nämlich eine Medienmacht, die, manipulativ eingesetzt, dem Prinzip der Publizität seine Unschuld raubte“ (Habermas 1990: 28). Mit der hohen Reichweite und der gesteigerten publizistischen Effektivität gerinnen sie zu Komplexen gesellschaftlicher Macht, welche – zumindest in Europa – um die publizistischen gegenüber den privatkapitalistischen Funktionen zu schützen, in öffentlichen oder halböffentlichen Anstalten organisiert werden (Habermas: 1983: 223 f.). Trotz dessen steigt die Zugänglichkeit gegenüber dem Druck individueller und kollektiver Privatinteressen: „Während die Presse früher das Räsonnement der zum Publikum versammelten Privatleute bloß vermitteln und verstärken konnte, wird dies nun umgekehrt durch die Massenmedien erst geprägt. Auf dem Wege vom Journalismus der schriftstellernden Privatleute zu den öffentlichen Dienstleistungen der Massenmedien verändert sich die Sphäre der Öffentlichkeit durch das Einströmen privater Interessen, die in ihr privilegiert zur Darstellung kommen“ (ebd.: 1983: 225).

Nach Habermas ist neben der Werbung, welche sich durch sozialpsychologische Methoden stetig weiterentwickelt auch der Unterhaltungsanteil der Medien keine Öffentlichkeit im Sinne einer räsonierenden dialektischen Öffentlichkeit mehr – sie ist eine als Einbahnstraße laufende Scheinöffentlichkeit und ein Mittel der Verbrauchererziehung. Das Publikum, welches sich in dieser „massenhaft verbreiteten Integrationskultur“ (ebd.: 1983: 229) befindet, wird auf den Meinungsaustausch über Konsumartikel beschränkt und einem „sanften Zwang stetigen Konsumtrainings“ (ebd.) unterworfen.

In der politischen Öffentlichkeit „kreuzen“ sich laut Habermas (1990: 45) zwei Prozesse, die für die Schaffung und Legitimation gesellschaftlicher Ordnung von zentraler Bedeutung sind, – „die kommunikative Erzeugung legitimer Macht“ und „die manipulative Inanspruchnahme der Medienmacht zur Beschaffung von Massenloyalität, Nachfrage und ‚compliance‘ gegenüber systemischen Imperativen.“ Die von ihm beschriebene Entwicklung eines institutionellen Strukturwandels habe dementsprechend, so Habermas, eine zweifache Transformation von Öffentlichkeit bewirkt: Ein sozialer Strukturwandel folgt laut Habermas hier vor allem aus dem Wandel der Zusammensetzung des Publikums (Überwindung von Klassenschranken, Verschwinden des bildungsbürgerlichen Diskurshabitus vgl. Ritzi 2014: 201). Die Entstehung einer massenmedialen Öffentlichkeit bewirke weiterhin einen politischen Funktionswandel, welcher kollektive Deliberation erschwere und wirtschaftliche Privatinteressen privilegiere. Diese Gefahr eines Rückfalls in die Unmündigkeit beschreibt Habermas auch als „Refeudalisierung von Öffentlichkeit“.Footnote 2

Die refeudalisierte Öffentlichkeit zeigt sich in verschiedener Gestalt: Den kollektiv organisierten Privatinteressen, welche in Verbänden politische Form angenommen haben und deren Ziel es ist, private Interessen vieler einzelner in ein gemeinsames öffentliches Interesse zu transformieren, d. h., „die glaubwürdige Repräsentation und Demonstration des Verbandsinteresses als eines allgemeinen. Dabei verfügen die Verbände freilich nicht trotz, sondern wegen ihres privaten Charakters über weitreichende politische Macht; vor allem können sie „öffentliche Meinung“ manipulieren, ohne sich von ihr selbst kontrollieren lassen zu müssen“ (ebd.: 1983: 238). Öffentlichkeitsarbeit zielt dabei darauf die eigene Position zu stärken, ohne die Kompromissmaterie zum Thema einer öffentlichen Diskussion werden zu lassen. In dem gewandelten Umfeld muss auch der Staat, nach dem Vorbild der privaten Unternehmen, „seine Bürger wie Verbraucher „ansprechen“. So wirbt auch die öffentliche Gewalt mit publicity“ (Habermas 1983: 233). Das feudale Element findet sich in allen beteiligten Akteursgruppen – den Unternehmen, den Verbänden und dem Staat: Die Öffentlichkeit muss durch die Akteure hergestellt werden, damit die Organisationen und deren Funktionäre ihre Repräsentation entfalten können. „Mit Aufkommen der sozialen Frage“, so Hartmann (2006: 170) „ist nicht länger die Abschaffung staatlicher Gewalt virulent, sondern das korporatistisch organisierte Einklagen staatlich gewährter sozialer Rechte“ und Öffentlichkeit „wird zum Hof, vor dessen Publikum sich Prestige entfalten lässt – statt in ihm Kritik“ (ebd.: 1983: 239).Footnote 3

5 Globalisierung, Digitalisierung, Ökonomisierung – Ein neuer Strukturwandel?

Öffentlichkeit im anschließend an Habermas verstandenen Sinne, so die hier zu vertretende These, unterliegt seit einigen Jahrzehnten einem erneuten Strukturwandel. Diese Diagnose ist in der vorliegenden Forschungsliteratur an verschiedenen Stellen aufgenommen und in Bezug auf verschiedene Parameter ausgearbeitet worden. „An der Schwelle zum 21. Jahrhundert“, proklamiert etwa Depenheuer (2001: 9) stünden „Grundstrukturen des Politischen vor fundamentalen Herausforderungen.“ Die Konstitution von Öffentlichkeit im nationalen Rahmen erscheint ihm „im Kontext der Globalisierung“ als „fragwürdig“. Und auch angesichts der Verbreitung digitaler Kommunikationsmedien erscheint ihm Öffentlichkeit als „zunehmend total, nicht als politisches Postulat oder rechtstheoretisches Prinzip, sondern als scheinbar unentrinnbares Schicksal der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung“ (ebd. 9).

Mit Blick auf die Rolle der Medien als Treiber der Entwicklung diagnostiziert auch Münch (1997: 704) eine zweite Stufe des ‚Strukturwandels der Öffentlichkeit‘ als Resultat der Etablierung grenzüberschreitender Verbreitungstechnologie: „Mit der Globalisierung der Kommunikation durch Satelliten-TV und Internet“, so Münch (1997: 696), „ergibt sich ein wachsender Druck der Beschleunigung von Kommunikation, der medialen Inszenierung und Produktion von Ereignissen.“ Indem auf diese Weise immer mehr Informationen erzeugt würden, steige gleichzeitig der (aufmerksamkeits-)ökonomische Konkurrenzdruck unter den Anbietern. Diese Entwicklung bedingt aus seiner Sicht einen grundlegenden Funktionswandel der Medien, die sich aufgrund der erhöhten Konkurrenz nicht mehr auf die Aufgabe einer inhaltlich möglichst sachgemäßen Berichterstattung beschränken können (oder wollen): „Die Inszenierung“, so Münch (ebd.), „bekommt tendenziell ein größeres Gewicht als der Inhalt der Darstellung, bis hin zur völligen Entleerung der Darstellung zur Inszenierung von Ereignissen um der Inszenierung willen.“ Aus diesen Entwicklungen folge, so sein (ebd.: 696) Schluss, „ein grundlegender Strukturwandel der gesellschaftlichen Reproduktion“, „der die Verschärfung des Wettbewerbs die Ökonomisierung und Kommerzialisierung der öffentlichen Meinungsbildung erst auf die Spitze treibt.“

Eine weitere, noch ausgearbeitete Diagnose findet sich in den Arbeiten von Kurt Imhof (2003, 2011). Dem Strukturwandel der Öffentlichkeit zugrunde liegen aus dieser Perspektive drei interdependente Prozesse sozialstruktureller Differenzierung: In funktionaler Hinsicht beschreibt Imhof hier die Erosion der korporatistischen Arrangements zwischen Wirtschaft und Politik bei gleichzeitiger Herausbildung „eines eigenständigen Handlungssystems Medien mit seinen Logiken sowie den damit verbundenen neuen Interdependenzen zwischen den Teilsystemen“ (2011: 24). Die Verstetigung neuer sozialer Bewegungen mit starker Medienorientierung zwischen den 1960er und 1990er Jahren ging hierbei einher mit der Zuschreibung politischer Salienz an neue Felder der gesellschaftlichen Entwicklung (Ökologie, Geschlechterverhältnisse, Migration, etc.). Gleichzeitig folgt eine stratifikatorische Differenzierung innerhalb des gesellschaftlichen Publikums aus der Neuordnung „ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals sowohl im Zentrum als auch an der Peripherie“ (ebd.). Die Globalisierung von Wirtschaft und eine komplementär (und mit großen Legitimitätsdefiziten) agierende Mehrebenenpolitik bedingt drittens eine segmentäre Differenzierung des nationalstaatlichen Ordnungssystems. Diese drei Entwicklungen, so schließt Imhof (2011: 25), müssen „in einer Heuristik des ‚neuen‘ Strukturwandels der Öffentlichkeit im Kontext der Nachfolge des sozialmarktwirtschaftlichen durch das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell berücksichtigt werden.“

Folgen wir diesen kursorisch zusammengefassten Positionen, lassen sich als Parameter eines neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit mit dem (sozial-)räumlichen Referenzrahmen (1), der technischen Entwicklung der Verbreitungsmedien (2) sowie den ökonomischen Rahmenbedingungen (3), in deren Spannungsfeld sich der Strukturwandel im von Habermas (1962) skizzierten historischen Verlauf vollzieht. Zentrale Transformationen im Verhältnis dieser drei Entwicklungspfade wollen wir im Folgenden unter den Oberbegriffen der Globalisierung, Digitalisierung und Ökonomisierung zusammenfassen.Footnote 4

5.1 Globalisierung

In seiner demokratietheoretischen Abhandlung ‚Die Öffentlichkeit und ihre Probleme‘ rekonstruiert John Dewey gegen Ende der 1920er Jahre (hier: 2001) die institutionellen Voraussetzungen eines demokratischen Gemeinwesens als territorial begrenzt. Solche „gesellschaftliche Gruppen, die durch Flüsse, Seen und Berge, durch fremde Sprachen und Götter so sehr voneinander getrennt sind“ entwickelten laut Dewey (2001: 50) „kein gemeinsames Interesse, keine Öffentlichkeit und weder eine Notwendigkeit noch eine Möglichkeit für einen inklusiven Staat.“

Verstehen wir die Globalisierung als Zunahme der Interdependenz von Ereignissen an weit voneinander entfernten Orten (Giddens 1990), offenbaren sich die Grenzen eines solchen Verständnisses. Dass politische Krisen zunehmend im globalen Maßstab entstehen, hierbei aber vornehmlich auf nationaler Ebene gelöst werden müssen, zieht für die Politik eine Reihe von Effizienzeinbußen und Legitimationsprobleme nach sich: So kann auch ein starker Staat unter Bedingungen globaler Umweltrisiken (Beck 1998) heutzutage die Anliegen seiner Bürger nicht mehr innerhalb eines nationalen Territoriums schützen. Zweitens können auch die Bewohner als Teilnehmer an der nationalen Öffentlichkeit als Folge migrationsbedingter Diversifizierung der Bevölkerung nicht mehr fraglos als Staatsbürger vorausgesetzt werden. Drittens lässt unter Bedingungen transnationaler Wertschöpfungsketten und grenzüberschreitenden Standortwettbewerbs auch die Gestaltungsfähigkeit nationaler Regierungen gegenüber dem sich internationalisierenden Kapital nach.

Die Entstehung moderner Nationalstaaten ist, wie dies Benedict Anderson (1983) in seiner historisch-rekonstruktiven Arbeit über ‚Imagined Communities‘ gezeigt hat, nicht zuletzt eine Geschichte nationaler Kommunikationsräume. Indem sie auf Grundlage des Buchdrucks gemeinsame Mediensysteme ausbilden, entstehen politische Gemeinschaften im nationalen Rahmen. Entsprechend dieser Denkweise findet sich auch im ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ eine methodologisch-nationalistische Forschungslogik (Wimmer/Glick-Schiller 2002), die sich implizit an einem „Westphalian Political Imaginary“ (Fraser 2007) orientierte.

Hieraus ergeben sich – lose anschließend an Fraser – eine Reihe von Implikationen, die das Habermas’sche Modell unter den gegenwärtigen Bedingungen als unzureichend erscheinen lassen. Zum einen setzt die Vorstellung einer Öffentlichkeit in diesem Sinne einen handlungsfähigen Staat als Adressaten politischer Forderungen voraus. Wenn sich der territoriale Rahmen des politischen Geschehens, mit Weber (1980) gesprochen, jenseits des staatlichen Gewaltmonopols erstreckt (beispielsweise, weil in Russland ein Atomreaktor explodiert, der die Umwelt in Deutschland bedroht). In diesem Modell werden die an einer bestimmten Öffentlichkeit beteiligten Akteure als Mitglieder eines spezifischen Gemeinwesens angesehen. Nationaler Demos und öffentlicher Kommunikationsraum basieren sozusagen auf dem gleichen Personalbestand. Um die wirtschaftlichen Angelegenheiten dieses Gemeinwesens kollektiv (wenn nicht sogar deliberativ) zu erläutern, stellt die (national gerahmte) Öffentlichkeit aus Sicht von Habermas den angemessenen Rahmen dar. „In effect“, so Fraser (ebd.: 300), „Habermas assumed that a primary focus on the public’s concern was a national economy, contained by a Westphalian state.“ Der Fokus auf nationale Diskussionsräume, implizierte weiterhin, dass – wie im deutschen Fall – eine einzige Landessprache kommunikative Transparenz innerhalb eines homogenen und auf nationale Debatten fokussierten Mediensystems ermöglichen würde.

Zwar steht, so lässt sich an dieser Stelle resümieren, das oben skizzierte Grundmodell politischer Öffentlichkeit „einer Transnationalisierung prinzipiell offen“ (Trenz 2018: 359). Ihre institutionelle Emergenz sei hierbei jedoch an gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden, wie sie im Rahmen der von Fraser (2007) beschriebenen ‚Westphalian Order‘ nicht gegeben waren. Als erste Sequenz institutioneller Transformationen, welche einen erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit bedingen, müssen wir daher die Globalisierung von Vergesellschaftung in Betracht ziehen.

Mit Blick auf die anschließend an Preuss (2004) vorgestellten Dimensionen von Öffentlichkeit ergeben sich zur Untersuchung des Strukturwandels folgende weiterführende Fragen:

  • Entstehen im Zuge der Globalisierung (sowohl durch neue Möglichkeitsräume, als auch unter dem Druck neuer sozialer Probleme und Krisen) transnationale Öffentlichkeiten, die der De-Territorialisierung des gesellschaftlichen Lebens Rechnung tragen?

  • Welche neuen Teilöffentlichkeiten und Konfliktlinien entstehen im Zuge der anhaltenden Diversifizierung des Publikums im Wege internationaler Migration?

  • Wie können wichtige Funktionen von Öffentlichkeit wie zum Beispiel die Binde- und Legitimationsfunktion zwischen Staat und Gesellschaft trotz fortschreitender Globalisierung erhalten oder substituiert werden?

  • Inwiefern verändert sich das Modell von Staatlichkeit in Hinblick auf dessen Legitimationsbasis?

5.2 Ökonomisierung

In der Entwicklung politischer Öffentlichkeit kommt dem Markt als strukturierender gesellschaftlicher Institution von Beginn an eine ambivalente Bedeutung zu. Hatte er noch zu Anfang den Rahmen geschaffen, innerhalb dessen sich „subversive Gedanken von staatlicher Unterdrückung emanzipieren konnten“ (Habermas 2008: 137), bleibt diese Wirkungsweise nur so lange gewährleistet, „wie die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten nicht in die Poren der kulturellen und politischen Inhalte selbst eindringen, die über den Markt verbreitet werden“ (ebd.).

Die Internationalisierung von Vergesellschaftung im globalen Maßstab wurde in den vergangenen Jahrzehnten begleitet von einer umfassenden Ökonomisierung der Gesellschaft, deren Ursachen und Folgen ebenfalls in vielfältiger Form wirksam werden. Dass der Kapitalismus aufgrund des anhaltenden Konkurrenzdrucks eines ‚Außen‘ bedarf, dessen ‚Landnahme‘ eine Reproduktion auf Kosten vormals nicht marktlich gesteuerter Bereiche ermöglicht, ist eine etablierte wirtschaftssoziologische Argumentationsgröße (Luxemburg 1970).

Dieses wirtschaftliche Arrangement verändert unter Globalisierungsbedingen seine Form. Finanzialisierung und Standortwettbewerb zwischen Unternehmen und Regierungen lassen die Machtfundamente des Sozialstaats erodieren (Butterwegge 2014). Sinkende Wachstumsraten und den Kern- und dynamische wirtschaftliche Entwicklung in den Schwellenländern bedingen eine Verringerung der Ungleichheit zwischen den Ländern bei gleichzeitig zunehmender Ungleichheit in ihrem Innern (Deppe 2013; Weiß 2017). Gleichzeitig finden die Arbeitsbedingungen der Peripherie Eingang in die Wirtschaftspraxis der Kernländer.Footnote 5 Die Ausweitung des Niedriglohnsektors durch das ‚Bündnis für Arbeit‘ auf mittlerweile fast ein Viertel aller Beschäftigten hat zur Erhöhung der Armutsquote auf 15,7 % (d. h. fast 13 Mio. Einwohner) im Jahr 2016 beigetragen. Die so begründete Zunahme sozialer Ungleichheit bedingt den Rückzug sozial schlechter Gestellter aus der politischen Kultur (Schäfer 2015) und erhöht Abstiegsängste als Ursache rechter Orientierungen (Nachtwey 2016). Auf lebensweltlicher Ebene verändern sich – im Zuge eines umfassenden kulturellen Wandels – weiterhin die Alltagspraktiken (Schimank/Volkmann 2008) und Subjektivierungsformen (Bröckling 2006). Im Zuge dieser Prozesse verlieren auch traditionelle hierarchisch-bürokratische Organisationen gesellschaftlicher Steuerung und Integration wie Gewerkschaften, die katholische Kirche oder private Vereine an Einfluss (Beck 1985). Wie schon bei Habermas (1990: 21) vollzieht sich der Strukturwandel der Öffentlichkeit damit „eingebettet in die Transformation von Staat und Ökonomie.“.

Dem Strukturwandel unterliegen mit den MassenmedienFootnote 6 auch die „nichtöffentlichen Produktionsstrukturen von Öffentlichkeit“ (Weßler/Wingert 2007: 22). Die Finanzialisierung der Branche und eine zunehmende Relevanz von Skaleneffekten in der Medienproduktion erhöhen den Wachstumsdruck auf Medienunternehmen. Verschärfte Konkurrenz um Aufmerksamkeit bedingt hier die zunehmende Verbreitung von Boulevard- und Infotainmentformaten. Schließlich wirkt sich auch der Wandel der Beschäftigungsformen und Medienformate auf eine Transformation journalistischer Tätigkeiten aus. Die Rolle der Qualitätspresse als „Leitmedium“ (Habermas 2008: 134) öffentlicher Debatten verliert im Zuge dessen weiter an Bedeutung.

Folgende Leitfragen könnten weitere Forschungen zum Strukturwandel der Öffentlichkeit behandeln:

  • Welche Auswirkungen hat die zunehmende Erschöpfung staatlicher Handlungskapazitäten mit Blick auf die Präsenz sozialer Bewegungen, Stiftungen oder Unternehmen in der Herstellung und Aushandlung von Öffentlichkeit?

  • (Wie) Korrespondieren neue Subjektivierungsformen mit individuellen und kollektiven Ansprüchen an das Mediensystem und Rezeptionsformen?

  • Auf welcher Basis lassen sich Zugänge zu Öffentlichkeit als Arena der Willensbildung und Gemeinwohlermittlung bei zunehmender Marginalisierung prekarisierter Bevölkerungsgruppen erhalten?

  • Lässt sich Bindung an Staat und Gesellschaft auch ohne soziale und wirtschaftliche Teilhabe am Gemeinwohl aufrechterhalten? Welche Alternativen Bindungsformen können sich durch Ideologie und auf die Zukunft gerichtete Versprechen in stark flexibilisierten und ökonomisierten Gesellschaften entwickeln?

5.3 Digitalisierung

Mit der Verbreitung digitaler Kommunikationstechnologien treten wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein in die „vierte Medienepoche der Menschheitsgeschichte“ (Baecker 2018: 10). Nachdem bereits die Erfindung der Schrift vor 3000 und die Einführung des Buchdrucks vor 1500 Jahren neben den Mustern menschlicher Kommunikation in raumzeitlicher Hinsicht auch die Produktionsweise und der gesellschaftliche Überbau verändert hat, sind im Zuge der Digitalisierung der Kommunikation ähnliche epochale Veränderungen zu erwarten: Für die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens treten in jedem der vier Übergänge (Oralisierung, Skriptographisierung, Typografisierung, Digitalisierung) spezifische neue Lösungen für spezifische neue Probleme auf.

Im engeren Sinne lässt sich unter Digitalisierung die Verbreitung digitaler Formate (und entsprechender Lesegeräte) verstehen. Der Entwicklung medialer Verbreitungstechnologien kommt im Strukturwandel der Öffentlichkeit eine grundlegende Bedeutung zu. Zum einen bedingt die Entstehung des Internet (und hier besonders des sog. ‚Web 2.0‘) nicht nur Möglichkeiten translokaler Kommunikation in Bezug auf Inhalte der Mainstreammedien. Weiterhin folgt aus der prinzipiellen Möglichkeit für alternative Anbieter, eigene Neuigkeitsmeldungen online verfügbar zu machen, eine Diversifizierung des Angebotes – und dies häufig auch mit spezifischen politischen Tendenzen. Soziale Bewegungen, so schließt etwa Winter (2010), können sich durch die Digitalisierung erstens besser koordinieren und zweitens eine größere Öffentlichkeit erreichen. Vor diesem Hintergrund gelangen optimistische Analysen zu der Einschätzung, „that the Internet will somehow have a positive impact on democracy and help to alleviate its ills“ (Dahlgren 2006: 59) and „enhance the democratic procedures of the political system“ (Albrecht 2006: 79).Footnote 7

In der Konsequenz entsteht – und hierin liegt womöglich die weitaus wichtigere Bedeutung der Digitalisierung – die Möglichkeit, der „Erarbeitung und Erprobung abzählbarer und berechenbarer Daten im Medium analoger Widersprüchlichkeit für die Zwecke der Kommunikation von und mit Maschinen“ (Baecker 2018: 59). Unter dem Begriff ‚Big Data‘ wird hier die Tatsache behandelt, dass es mit neuen Methoden der Datenverarbeitung nun möglich ist, große Mengen heterogener Informationen in kurzer Zeit unter spezifischen Aspekten zu speichern und auszuwerten.

In diesem Zusammenhang folgt für den Strukturwandel der Öffentlichkeit ein weiterer Aspekt in Bezug auf die gesellschaftliche Sphäre der Privatheit. Während etwa Konzerne wie Google User-Daten über Konsum- und Freizeitverhalten sammeln, verschärfen sich auch die Mittel staatlich-exekutiver Machtausübung und der Datenschutz als bürgerrechtliche Selbstverständlichkeit gerät zunehmend unter Druck. Aufseiten des Publikums droht damit die „Kolonisierung der Lebenswelt“ durch Staat und Kapital, die privaten Voraussetzungen souverän-bürgerschaftlichen Engagements in der politischen Öffentlichkeit zu unterminieren.

Die Digitalisierung macht es daher erforderlich, neue Muster öffentlicher Kommunikation in Rechnung zu stellen. Neben einer allgemeinen Vervielfältigung des Informationsangebots ergibt sich eine wesentliche Transformation in diesem Zusammenhang aus der Aufwertung der Konsumentenrolle (nicht zuletzt im Wege der Verbreitung digitaler Endgeräte). Während Habermas in seinen Arbeiten noch „vom Bild eines passiven Empfängers der Medienbotschaft, der sich ihr völlig unterordnet“ (Kriesi 1994: 239) ausgeht, „konstituiert die Botschaft der Medien“ tatsächlich „ein Instrument, welches das Publikum bei der Konstruktion des Sinns, den es dem politischen Geschehen gibt, auf aktive Weise benutzt.“

Medienhandeln in Plattformen wie Google oder Facebook zielt hierbei nicht nur in zunehmendem Maße auf individuelle Anerkennung, sondern ist aufgrund der Flexibilität des Angebots stärker durch persönliches Interesse bestimmt. Subjektive Nutzungsmuster bestätigen daher tendenziell die Bedürfnisse und Sichtweisen der User und bedingen daher möglicherweise eine fortschreitende Fragmentierung von Öffentlichkeit. Als Triebfeder des digitalen Strukturwandels erhöht die zunehmende Bedeutung derartiger Plattformen Facebook nicht nur den Konkurrenzdruck auf etablierte Medienformen, sondern fördert möglicherweise auch die De-Institutionalisierung des professionellen Journalismus. Indem konkurrierende Angebote aus diesem Bereich den Druck auf etablierte Medienproduzenten erhöhen, akkurat und sachgemäß zu berichten, und so aus Sicht der Bürger die Transparenz des politischen Systems erhöhen, ermöglicht ein alternatives Agenda-Setting neuer Anbieter die Berücksichtigung vormals vernachlässigter Schwerpunkte durch das Publikum. Gleichzeitig bieten die Digitalisierung damit auch die Chance einer Erweiterung öffentlicher Resonanz- und Artikulationspotenziale, wie wir sie etwa im Rahmen politischen Bottom-Up Dynamiken wie dem Arabischen Frühling, Occupy oder auch der Alt-Right-Bewegung erkennen.

Gleichzeitig besteht aber auch Grund zu der Annahme, dass die Erweiterung des Medienangebots einer Fragmentierung der öffentlichen Sphäre in thematisch gegliederte Teilöffentlichkeiten Vorschub leistet. Die Aufsplittung der öffentlichen Sphäre in sog. „cyber ghettos“ (Dahlgren 2006: 65) drohte dann, die integrative Kraft öffentlicher Kommunikation zu unterminieren. Und selbst wenn Publikumsakteure angesichts eines erweiterten Angebots etablierter und alternativer Medienquellen das Ziel einer umfassenden und ausgewogenen Nutzung verfolgen wollen, erschwert die Menge an Angeboten die Unterscheidung relevanter und irrelevanter Informationen. Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten sind die Folgen dieser neuen Selektionszwänge somit als ambivalent zu beurteilen.

Die Untersuchung des Strukturwandels der Öffentlichkeit lässt sich schließlich auch in diesem Bereich unter Bezug auf eine Reihe von Leitfragen führen, zu denen auch die folgenden gehören:

  • (Wie) Verändert die Digitalisierung der Kommunikation Zugangsvoraussetzungen und die Möglichkeit, über Öffentlichkeit Allgemeinwohl zu ermitteln?

  • Was ist der Unterschied zwischen pluralistischer und fragmentierter Öffentlichkeit? Welche Typen von Öffentlichkeit lassen sich bei zunehmend digitalisierter Kommunikation ausmachen?

  • Welche Konsequenzen ergeben sich aus der zunehmenden Algorithmensteuerung für die Legitimation demokratischen Regierens?

  • Bedeutet die Digitalisierung eine Erweiterung der Sphäre der Willensbildung (z. B. Twitter und Facebook) und damit ihre qualitative Aufwertung?

  • Wie reagieren staatliche Institutionen auf digitale Repräsentation und Willensbildungs-prozesse, die den klassischen Politikzyklus beschleunigen und verändern?

6 Ein neuer Strukturwandel? Fazit und Ausblick

Der vorliegende Text hat die Krise der liberalen Demokratie als eine Krise von Öffentlichkeit zu interpretieren versucht. Dysfunktionen im demokratischen Prozess folgen, so die Argumentation, aus einer institutionellen Entwicklung, welche wir anschließend an Jürgen Habermas als Strukturwandel der Öffentlichkeit identifiziert haben. Als zentrale Entwicklungspfade haben wir hierbei gesellschaftliche Transformationserscheinungen gefunden, die wir unter den Begriffen der Globalisierung, Ökonomisierung und Digitalisierung behandelt haben.

Die bis hierhin getroffenen Ausführungen möchte ich nun abschließend mit einer Reihe von Thesen zur Konstitution und Entwicklung von Öffentlichkeit abschließen, welche möglicherweise als Ausgangspunkte weiterer Untersuchungen dienen können.

These 1:

Eine anhaltende Fragmentierung von Öffentlichkeit überträgt sich in eine fortschreitende Tribalisierung der Sozialstruktur

Wie wir bereits aus der Kritik von Fraser (2007), Kluge und Negt (1972) und anderen wissen, war die bürgerliche Öffentlichkeit niemals die Öffentlichkeit, sondern schon damals nur eine unter vielen Teilöffentlichkeiten (Öffentlichkeit weiblicher Eliten, nationalistische Öffentlichkeiten, proletarische Öffentlichkeit, etc.). Gegenwärtig, so die erste zu untersuchende These, haben wir es mit einer fortschreitenden Fragmentierung des Kontinuums öffentlicher Kommunikation zu tun, welches in Verbindung mit einer Entwicklung gesellschaftlicher Desintegration steht, die unterschiedliche Segmente immer weiter voneinander entfernt. Die Herausbildung neuer Teilöffentlichkeiten vollzieht sich hierbei nicht zuletzt im Zuge sozialstruktureller Differenzierungen wie einer Exklusion von Eliten (Hartmann 2006), sowie entlang ethnischer Linien (Schiffauer 2011) oder gegenüber prekären Existenzen (Moser 2014). Gleichzeitig werden alternative Sozialisationseffekte durch die individualisierte Feedbacklogik der neuen Medien zwar nicht verunmöglicht, jedoch zumindest begrenzt.

These 2:

Öffentlichkeit reagiert auf die Internationalisierung von Vergesellschaftung in ambivalenter Hinsicht

Mit Blick auf die Internationalisierung von Vergesellschaftung lassen sich beim Strukturwandel der Öffentlichkeit höchst ambivalente Entwicklungstrends erkennen. Während beispielsweise der Klimawandel oder die (Krise der) europäische(n) Integration (Glassner/Pernicka 2014; Vobruba/Preunkert 2015) die Entstehung themenzentrierter Teilöffentlichkeiten bedingt haben, oder auch kulturindustrielle Inszenierungen wie der Superbowl oder die Live Aid-Konzerte ein Publikum im globalen Maßstab erreichen, lassen sich auf nationaler Ebene gleichzeitig gegenteilige Effekte verzeichnen. So lässt sich der zunehmende Erfolg rechtsautoritärer Parteien im internationalen Maßstab als Tendenz einer repulsiven Globalisierung interpretieren, im Zuge derer die Re-Nationalisierung von (oftmals völkisch gerahmten) Solidargemeinschaften auch mit einer (oftmals populistisch getragenen) Aufwertung des nationalen Kommunikationsraum einhergeht. In Verbindung mit der ersten These lassen sich diese Entwicklungen möglicherweise auf die Diagnose einer doppelten Fragmentierung von Öffentlichkeit hin zuspitzen. Während die zunehmende Virulenz bestimmter (zumeist ökologischer) Probleme die Entstehung einer Risikogemeinschaft (Beck 1998) im globalen Maßstab bedingt (Fragmentierung nach oben), ziehen Prozesse gesellschaftlicher Differenzierung sowie neue Muster der Mediennutzung die Emergenz immer speziellerer Teilöffentlichkeiten nach sich, in denen eine produktive Irritation durch Dissens immer unwahrscheinlicher erscheint (Fragmentierung nach unten).

These 3:

Es lässt sich eine (tendenzielle) Trivialisierung der Formate und Inhalte verzeichnen

Während in klassischen (oder: politikwissenschaftlichen) Modellen von Öffentlichkeit vor allem die zwischen Staat und Zivilgesellschaft vermittelnde Wirkung dieser Sphäre im Zentrum des Interesses gestanden hat, haben kulturtheoretische (und v. a. auch kulturkritische) Beiträge die identitäts- und zerstreuungsstiftende Dimension öffentlicher Kommunikation behandelt (most prominently: Horkheimer/Adorno 1980). Mit Blick auf die Entwicklung gängiger TV-Formate oder des Print-Medien Marktes lässt sich hier eine qualitative Verflachung diagnostizieren. So werden nicht nur immer mehr Themen in immer kürzerer Zeit behandelt. Die aufmerksamkeitsökonomische Konkurrenz unter den privaten Medienanbietern bewegt diese zur sukzessiven Reduktion qualitativer Standards sachgemäßer Berichterstattung zugunsten von Attraktivität und Unterhaltsamkeit. Politische Kommunikation in der Form, dass Parteien die Öffentlichkeit nutzen, um ihre inhaltlichen Programmatiken zur Diskussion und Disposition zu stellen, wird unter diesen Bedingungen immer schwieriger. Weiterhin befördern diese Entwicklungen – gemeinsam mit der Digitalisierung öffentlicher Kommunikation – auch die Verbreitung populistischer Agitationsformen.

These 4:

Wir haben es in der Öffentlichkeit mit einer neuen Bedeutung von Gewalt zu tun

Schließlich erscheint es auffällig, dass in der öffentlichen Kommunikation gewaltförmigen Äußerungen eine wachsende Bedeutung zu Teil wird. Während wir hier – nicht zuletzt unter dem Eindruck des Rechtsrucks – eine Verrohung der Diskurse (sowohl bedingt durch die Medien als auch die Nutzer der sozialen Netzwerke) erkennen, lässt sich eine verstärkte Auseinandersetzung mit rassistischer (Staats-)Gewalt auch in öffentlichen Kampagnen wie ‚Black lives Matter‘ oder der Initiative zur Aufklärung des mutmaßlichen Mordes an dem Dessauer Asylbewerber Oury Jalloh verzeichnen. Eine ähnliche Ausprägung nimmt die kritische Thematisierung sexualisierter Gewalt im Zuge der #metoo-Kampagne an. Eine Gemeinsamkeit entsprechender Initiativen liegt in ihrem zivilgesellschaftlichen Bottom-Up-Charakter. Doch auch die unmittelbare Auseinandersetzung divergierender politischer Interessen im öffentlichen Raum nimmt – wie die G-20 Proteste oder die Pogrome in Chemnitz aus dem Sommer 2018 – zeigen eine neue Qualität der Gewalttätigkeit auf.Footnote 8 Komplementiert werden diese Entwicklungen durch eine Exekutive, die ihre Kompetenzen – wie im Falle des bayerischen Polizeigesetzes – sukzessive auszuweiten versucht.

Diese – und sicherlich auch weitere – Überlegungen könnten eine zukünftige Auseinandersetzung mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit weiter anleiten.