Egon Bahrs Idee vom Wandel durch Annäherung ist nicht tot

Egon Bahrs Idee vom Wandel durch Annäherung ist nicht tot

Seit Putins Überfall auf die Ukraine ist das Konzept der Entspannungspolitik in Verruf gekommen –  vorübergehend. Bahrs strategisches Denken bleibt vorbildhaft.

Egon Bahr
Egon Bahrpicture alliance / dpa

Berlin-Wandel durch Annäherung – jahrzehntelang hat das politische Konzept funktioniert. Alle Regierungen seit 50 Jahren, von Brandt bis Merkel, betrieben Ostpolitik auf der Grundlage des 1963 erstmals von Egon Bahr vorgestellten Ideengebäudes. Der Sozialdemokrat beriet damals als Pressesprecher Willy Brandt, den Regierenden Bürgermeister von Berlin. Im Angesicht der Mauer entwickelte Bahr Antworten auf die Frage, wie dem Gegner seine „durchaus berechtigten Sorgen“ graduell so weit genommen werden könnten, „dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist“. In typischer Prägnanz fasste er zusammen: „Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung.“

Als beide deutsche Staaten 1972 den Grundlagenvertrag über gutnachbarliche Zusammenarbeit unterschrieben, sprach Egon Bahr einen jener dialektischen Sätze, für die er berühmt wurde: „Bisher hatten wir keine Beziehungen. Jetzt werden wir schlechte Beziehungen haben. Und das ist der Fortschritt.“

An diesem Freitag wäre Egon Bahr 100 Jahre alt geworden. Sein Konzept wird gerade wie Strahlenmüll entsorgt. Er kann sich nicht mehr äußern, wenn Entspannungspolitiker nun mit Blick auf Russland erklären: „Wir haben uns geirrt.“ Als er 2015 starb, regierte die CDU-Kanzlerin Angela Merkel nach den Grundsätzen der Neuen Ostpolitik wie zuvor auch Helmut Kohl. Das galt der großen Mehrheit als weise und vernünftig.

Egon Bahr, links, am 4. September 1981 bei DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker. Bahr reiste, nunmehr als Bundestagsabgeordneter und SPD-Rüstungsexperte, nach Ost-Berlin, um über Abrüstung und Sicherheit zu sprechen. Rechts SED-Politbüromitglied Hermann Axen.
Egon Bahr, links, am 4. September 1981 bei DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker. Bahr reiste, nunmehr als Bundestagsabgeordneter und SPD-Rüstungsexperte, nach Ost-Berlin, um über Abrüstung und Sicherheit zu sprechen. Rechts SED-Politbüromitglied Hermann Axen.dpa

Seit dem 24. Februar leiden die Anhänger von Bahrs Ideen wie die Hunde: Sozialdemokraten, Sozialisten, Christdemokraten, Liberale bekennen: „Wir waren zu naiv, zu gutgläubig.“ Mit seinem Überfall auf die Ukraine machte der russische Präsident Wladimir Putin Überzeugungen zunichte, mit denen Deutsche und Europäer 60 Jahre lang gut und weithin friedlich gelebt hatten: Mithilfe wirtschaftlicher und vertraglicher Bindungen war ein Klima des Vertrauens entstanden, das für beide Seiten Vorteile erbrachte. Auch diesen Fortschritt haben russische Truppen, Tanks und Raketen ruiniert.

Das Leiden der „Putin-Versteher“

Matthias Platzeck verteidigte als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums jahrelang den Dialog. Der Begriff „Putin-Versteher“ wurde einst für ihn erfunden. Nun nennt er Putins Krieg einen Völkerrechts- und Kulturbruch und sagt, ihm habe es sämtliche Kraft aus den Knochen gezogen. Damit beschreibt er, was Hunderttausende „Putin-Versteher“ empfinden – vor allem im Osten Deutschlands, aber nicht nur dort. Allenthalben heißt es: „Wir hätten es klarer sehen können, klarer sehen müssen.“

Klaus von Dohnanyi, 93, eine sozialdemokratische Eminenz, sagte dem Spiegel: „Es gibt kein zweites Ereignis in dieser ganzen Zeit, das mich so ins Mark getroffen hat, wie der russische Einmarsch in die Ukraine. Alles hat sich verändert seit dem 24. Februar.“

Angela Merkel hat zwar immer den Wandel Russlands zur Autokratie kritisiert, hielt aber am Dialog fest. Das von Obama regierte Amerika überließ ihr die Führerschaft in der Russlandpolitik. Sie hat sich noch nicht hörbar zum Krieg in der Ukraine geäußert.

Auch in der Linkspartei fühlte man den Boden unter den Füßen schwinden. Dort haben sie es gleich noch mit einer neuen parteiinternen Front zu tun: Hier Gregor Gysi und die beiden Parteivorsitzenden, die scharfe Sanktionen gegen Russland mittragen, da Sahra Wagenknecht und Unterstützer, die lieber mit dem Finger Richtung Nato zeigen.

Egon Bahr wäre sicherlich verzweifelt angesichts der unter ukrainischen Trümmern verschütteten Russlandpolitik. Aber es ist ja nicht die Neue Ostpolitik gescheitert, jedenfalls nicht die Idee vom Wandel durch Annäherung. Wie eine Alternative dazu aussehen könnte, führte Donald Trump am Montag vor: Putin sei doch „nicht der einzige mit Atomwaffen“. Die USA sollten direkt mit Atomwaffen drohen.

Deutsche Einheit dank Bahrs Ideen

Es ist und bleibt ein Glück, dass die friedliche Wiederherstellung der deutschen Einheit, eingebettet in ein demokratisches Europa gelang – als Ergebnis der Logik Brandts und Bahrs. Etliche Ostblockstaaten und ehemalige Sowjetrepubliken entschieden sich für die Nato oder gingen zumindest deutlich auf Distanz zu Moskau. Sie konnten es, weil die 1975 unterzeichnete Schlussakte von Helsinki als Fundament für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa über das Ende der Systemkonfrontation hinaus trug. Bahr kommentierte seinerzeit die deutsche Einheit so: „Jetzt haben wir endlich die Probleme, die wir uns 40 Jahre lang gewünscht haben.“

Wer allerdings glaubte, es werde auch einen demokratischen Wandel im Inneren Russlands geben, lag tatsächlich schief. Das war ebenso naiv wie der Glaube, die arabische Welt werde nach der US-Invasion im Irak mit Hurra „westliche Werte“ übernehmen. George Bush junior, hatte sich einen solchen Dominoeffekt vorgestellt: Nach dem gewaltsamen Eingreifen in einem Staat würden alle anderen des Nahen Ostens zu Demokratien. Er erlebte, was Putin jetzt in der Ukraine erlebt: entschiedenen Widerstand.

Heute gibt es keinen Egon Bahr

Die Naivität hinsichtlich der politischen Entwicklung in Russland brachte allen Deutschen große Vorteile: billige Energie, billige Nahrungsmittel, billige Arbeitskräfte. Der wachsende Volkswohlstand hierzulande gründete sich auf kolonialistischer Ausbeutung: Die Ukraine und Russland waren seit 1990 geworden, was Hitler im Generalplan Ost vorgesehen hatte: der „wirtschaftliche Ergänzungsraum“ für das deutsche Volk. Das heute umkämpfte Gebiet gehörte als „Gotengau“ dazu: Die Krim und das Gebiet um Cherson sollten germanisiert, also mit Volksdeutschen besiedelt werden – nach Vertreibung der Russen, Ukrainer und anderer „für die Eindeutschung Ungeeigneten“. Die multiethnische Rote Armee stoppte die Wehrmacht und die imperialen deutschen Pläne.

Russland und die Ukraine haben sich als kapitalistische Oligarchenstaaten zu Dienstleistern überregionaler kapitalistischer Interessenverbände entwickelt. Immerhin bildete die Ukraine demokratische Verhältnisse aus. Oligarchengeld mag Präsident Wolodymir Selenskyjs Wahl gestützt haben, aber er gewann das freie Votum klar mit 73 Prozent. Gerhard Schröder ist als Akteur des russischen Kapitalismus eher in eigener Sache unterwegs. Einen Politiker wie Egon Bahr, der sich geschickt, flexibel, listenreich und mit Vorstellungen vom Erreichbaren zwischen den Welten bewegt, hat Deutschland heute nicht zu bieten.

Bahrs Anfänge bei der Berliner Zeitung

Seinen Berufsweg begann der gebürtige Thüringer bei der Berliner Zeitung. Zum ersten Mal tauchte sein Name am 31. Mai 1945 unter einem Artikel auf. Auf einer ganzen Seite ging es unter der Überschrift „Berlin geht an die Arbeit“ um eine große Trümmerräumaktion. Jungreporter Bahr berichtete aus Weißensee vom Beseitigen der Straßensperren, vom Entladen der Lebensmittelwaggons, von den „Pgs“ (ehemalige NSDAP-Mitglieder), die zu besonders schweren Arbeiten eingeteilt wurden. Schon in seinem ersten Text zeigt Bahr den klaren Blick für wichtige Details.

Von 1950 bis 1960 verbreitete er als Chefkommentator des Rias Kalte-Kriegs-Rhetorik. Immerhin lernte er 1959 als Regionalbeauftragter für das Berlin-Programm der Bundesregierung in der deutschen Botschaft in Ghana ein paar Monate lang, dass es noch andere Fragen als die deutsche gibt.

Späte Freundschaft mit DDR-Schauspieler

Kontakte in den Osten Deutschlands pflegte er die ganze Zeit als Außenpolitiker an der Seite Willy Brandts – mit dem politischen Spitzenpersonal der DDR, aber auch privat. Einem privaten Kontakt, der erst Jahre nach der Wende entstand, verdankt sich ein dieser Tage im Verlag edition ost erschienenes Buch mit dem Titel „Annäherung durch Wandel – Kalter Krieg und späte Freundschaft“.

Der Autor Lutz Riemann lernte Bahr im Jahr 2000 bei einer von Peter-Michael Diestel organisierten Party kennen. Bei gemeinsamen Zeesboot-Touren auf der Ostsee wurde das Verhältnis intensiver. Riemann war in der DDR ein bekannter Schauspieler, das Westsystem hatte ihn aussortiert, doch er machte sich mit Investigativjournalismus auch in der neuen Zeit einen Namen. In dem Buch veröffentlicht er einen kurzen eigenen Text, Briefe, späte Niederschriften Egon Bahrs („Selbstzeugnisse“) und Texte verschiedener Autoren über den Ausnahmepolitiker Bahr. Es ist ein persönliches Buch mit interessanten bilanzierenden Sätzen.

Bahrs Kapitalismus-Kritik

Am 3. Februar 2005 antwortete Bahr auf einen bitteren Brief Riemanns. Der Norddeutsche Rundfunk hatte diesen gerade vor die Tür gesetzt. Kurz zuvor war in Dresden die NPD mit 9,2 Prozent in den Sächsischen Landtag eingezogen. Bahr erzählt in dem Brief von seinen Gefühlen, als er von der Entlassung von 6200 Mitarbeitern der Deutschen Bank, begleitet von steigenden Dividenden und Gewinnen hörte. Sein Kommentar: „Willy Brandt hat gesagt: Je älter er werde, umso linker werde er. Mir geht es nicht anders.“ Der Sozialismus habe wenigstens einen ernsthaften Herausforderer gehabt, den Kapitalismus. Für den Kapitalismus sehe er keinen solchen ernsthaften Herausforderer: „Ohne die Kraft, sich selbst zu reformieren, gehen wir wundervollen Zeiten entgegen.“

Ironie beiseite: Allein mit Blick auf den Klimawandel zeigt sich hier neuerlich die Weitsicht, die Bahr immer auszeichnete. Hinsichtlich des Verhältnisses zu Russland ist die Zeit der Entspannung vorerst vorbei. Allerdings bleibt es dabei: Europa und Russland sind aneinander gebunden. Man wird sich irgendwann wieder arrangieren müssen – und sich Egon Bahrs erinnern.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.