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Deutschland †93

Egon Bahr – Tod einer deutschen Jahrhundertfigur

Egon Bahr mit 93 Jahren gestorben

Im Alter von 93 ist der ehemalige Bundesminister gestorben. Egon Bahr gilt als einer der Wegbereiter der neuen deutschen Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt in den 1970er Jahren.

Quelle: N24

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In der Ära Brandt war Egon Bahr (1922-2015) Architekt der Bonner Ostpolitik: Der „Wandel durch Annäherung“ schuf deutsch-deutsche Kontakte. Seinen scharfen Intellekt behielt er bis ins hohe Alter.

Offen trug er sein weißes Hemd, darüber leger ein Sakko. So trat Egon Bahr in seinen letzten Lebensjahren oft auf; die Krawatte ließ er daheim. Er war so frei. Sein Alter sahen ihm nur diejenigen an, die ihn nicht hörten. Sein Wort war seine Macht, bis zuletzt, das Wort hielt ihn wach und rege.

Hinter dem Schreibtisch im Willy-Brandt-Haus versank Bahr fast in seinem Sessel, das deutete auf sein hohes Alter. Bahrs Augen aber funkelten, vor allem bei den ihm wichtigen Themen, und daran mangelte es eigentlich nie: Außenpolitik, vor allem Russland, Geschichte, Sozialdemokratie, Arbeiterbewegung. Manchmal, um im Disput einen Punkt zu machen, hämmerte er die rechte Faust auf den Tisch. Das garnierte er dann mit einer seiner knappen, pointierten Bemerkungen. Noch vor wenigen Monaten rief er prompt zurück, geistig hellwach: „Was wollen Sie wissen?“

Egon Bahr, geboren 1922 in Treffurt an der Werra, war eine Jahrhundertgestalt. Im thüringischen Treffurt und im sächsischen Torgau wuchs Bahr auf, in der St. Marien zu Torgau sang der junge Bahr begeistert Sopran-Soli. Die Orte seiner Kindheit und Jugend wurden gewissermaßen Bahrs Lebensthema. Sie lagen nach dem Zweiten Weltkrieg beide in der Sowjetischen Besatzungszone, im Osten – während Bahr im Westen lebte. In Berlin legte Bahr im Jahre 1940 sein Abitur ab, die Nazis verboten ein Studium unter Hinweis auf eine jüdische Großmutter. Mit dieser Begründung wurde er später auch aus der Wehrmacht entlassen. „Als Soldat hatte ich Schwein“, sagte er einmal.

Mit seiner Ostpolitik machte Bahr politische Karriere, arbeitete an der Seite von und neben Willy Brandt, errang jedenfalls irgendwann den Titel des „Architekten der Ostpolitik“. Die zwei, drei Jahrzehnte nach 1945 waren Bahrs große Zeit. Er wurde Journalist, unter anderem beim Berliner „Tagesspiegel“, vor allem aber als Bonner Korrespondent des Rundfunks im amerikanischen Sektor (RIAS). Im Jahre 1956 trat Bahr der SPD bei. Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt holte Bahr dann in die Politik. „Wollen Sie das Presseamt bei mir übernehmen?“, fragte Brandt telefonisch an einem Morgen des Jahres 1960 – und Bahr antwortete: „Ja.“ Barockes Gerede oder substanzloses Palaver waren ihm stets ein Gräuel.

Bahr aber war mehr als nur ein Senatssprecher. Er beriet, und er tat das, was er liebte und beherrschte: formulieren, Papiere schreiben. In dieser Hinsicht blieb Bahr bis in sein hohes Alter Journalist. Seine Sätze, ob gesprochen oder geschrieben, waren knapp, prägnant, zuweilen mit einer einprägsamen Metapher versehen. Der „Wandel durch Annäherung“, von Bahr am 15. Juli 1963 in Tutzing präsentiert, wurde zum Motto und Mittelpunkt der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik.

Arbeit wie ein Geheim-Diplomat zwischen den Welten

Man müsse, argumentierte Bahr (nur zwei Jahre nach Mauerbau), den Status quo anerkennen, um ihn zu verändern, also: vordergründig die DDR stützen, um sie somit zu beeinflussen. Mit dieser Politik wurde nichts weniger als der Kalte Krieg beendet. Es folgten das Berliner Passierschein-Abkommen, Häftlingsfreikauf, der Ausbau der deutsch-deutschen Kontakte. Das war eine große Zeit in Berlin (West), die SPD fuhr sensationelle Wahlergebnisse ein. Brandt galt als der Mann der Zukunft, diente als Gegenspieler des alternden Konrad Adenauer. Mit Bahr, Klaus Schütz und Heinrich Albertz hielt sich Brandt ein kreatives, kluges „Umfeld“. So wurde er, angelehnt an den amerikanischen Wahlkampf, zum ersten „Kanzlerkandidaten“ in Deutschland, wenn auch zunächst (1961 und 1965) erfolglos.

Im Jahre 1966, mit der Bildung der ersten Großen Koalition, holte der neue Außenminister Brandt Bahr als Staatssekretär zu sich nach Bonn. Brandt, seit 1969 Bundeskanzler, machte ihn zum Staatssekretär im Kanzleramt. Hier bereitete Bahr die Vertragspolitik mit der DDR, Polen und der Sowjetunion vor. Die Beziehungen zu Ost-Berlin und nach Moskau waren Bahrs Ding. Er konstruierte seine „back channels“, reiste, konferierte, kungelte.

Bahr agierte dabei wie ein Geheimdiplomat, meistens im Verborgenen, stets misstrauisch – und misstrauisch beäugt. Der Blick nach Osten ging einher mit einem frappierenden Desinteresse und einer zuweilen unverhohlenen Ignoranz gegenüber dem Westen. Die USA blieben ihm stets fremd, für den katholisch-karolingischen Teil Europas galt das in abgeschwächter Weise.

Ich war blind für die Situation, als sie unvermutet eintrat
Egon Bahr (SPD), über die Wende

Die eigentliche Schwäche Bahrs aber bestand darin, bei seiner Ost-Politik allein auf die Regierungen, also die kommunistischen Staatsparteien, zu blicken. Gesellschaftliche Prozesse und Bewegungen interessierten ihn nicht. Dieses „gouvernementale Zusammenwirken“ geschah auf Kosten von Bürgerrechtlern und Bürgerrechten (eine fest geformte „Opposition“, da hatte Bahr recht, gab es in den Diktaturen Mittel- und Osteuropas natürlich nicht).

Die Friedens- und Umweltaktivisten hielt er für naiv

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Bahr also dachte allein in Staaten, in der Staatenwelt des 20. oder gar des 19. Jahrhunderts. „Metternich“ – so titulierte Brandt seinen Berater Bahr deshalb zuweilen spöttisch. Mit dieser Haltung schlitterte Bahr auch in den Umbruch von 1989/90, den er nicht nur nicht sah, sondern den er lange ignorierte.

Bahr hielt es für falsch, dass einzelne SPD-Politiker Kontakte zu den aufblühenden Friedens-, Umwelt- und Bürgerrechtsgruppen knüpften. Er hielt deren Protagonisten für naiv, teilweise durchaus zu Recht, zog aber daraus die Konsequenz, weiter allein an der „Dialogpolitik“ mit der SED festzuhalten. Die Naivität des Politbüros mochte er nicht recht erkennen. So intensivierten die SPD und Bahr nach der Bildung der Regierung Kohl/Genscher ihre „Nebenaußen- und Deutschlandpolitik“.

Bahr gehörte damals, 1989/90, dem Bundestag und dem Präsidium der SPD an, nach einigen Jahren als deren Bundesgeschäftsführer (heute: Generalsekretär). Er war also schon fast ein Elder Statesman, konzentrierte sich vor allem auf die Deutschland- und Außenpolitik. Während Brandt mit den Revolutionen 1989 politisch aufblühte, sie begrüßte, permanent die neuen sozialdemokratischen „Freunde“ (nicht: Genossen!) in der DDR aufsuchte, blieb Bahr zurückhaltend. „Ich war blind für die Situation, als sie unvermutet eintrat“, schrieb er später in seinen Memoiren („Zu meiner Zeit“).

Egon Bahr (l.) mit Hans-Jochen Vogel auf dem Bundesparteitag 1988
Egon Bahr (l.) mit Hans-Jochen Vogel auf dem Bundesparteitag 1988
Quelle: picture alliance / Klaus Rose

Seine durchaus nationale Ader zeigte Bahr immer wieder, nicht nur in der steten Distanz zur Nato. „Offen gesagt finde ich es ermutigend, dass Deutschland die verklemmende Angst überwindet, die sich aus der Fixierung aus seiner Vergangenheit ergibt, und seinen Blick in die Zukunft richtet, in der es, unabweisbar, einen deutschen Weg geben wird“, schrieb er 2003 im Vorwort seines Buches.

„Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal“ hieß dieses Werk, und der Tenor verstörte manchen in der SPD. Ein deutscher Weg? Gewiss, Bahrs Kritik am Irak-Krieg war in seiner Partei Konsens. Aber hatte die rot-grüne Bundesregierung nicht eben erst bewiesen, dass sie – Balkan-Krieg, Einsatz in Afghanistan – eben multilateral agierte, im Verbund mit den benachbarten Staaten?

Egon Bahr war, bei alledem, ein Mann, der sein Publikum beeindruckte. Im Gespräch, Schlag auf Schlag, konnte er dabei seine rhetorische Kunst besser ausspielen als in Reden. Wortwitz, Ironie und Spott blitzten oft durch. Es war eine intellektuelle Freude, ihm zuzuhören.

Mit seinem letzten Interview (übrigens erschienen im „Neuen Deutschland“) präsentierte er diese Ironie. Es ging, wie so oft, um die Bonner Ostpolitik, und Bahr lobte deren Fortsetzung nach 1982. „Helmut Kohl ist ein Beispiel dafür, dass ältere Herren recht haben können“, sagte Bahr vor wenigen Wochen, gewissermaßen für die Ewigkeit: „Genauso wie Kissinger, genauso wie Gorbatschow. Und, wenn ich mich einbeziehen darf ...“

Egon Bahr ist, 93 Jahre alt, in der Nacht zu Donnerstag gestorben.

Egon Bahr war der „Architekt der Ostpolitik“

Im Alter von 93 Jahre alt ist Egon Bahr gestorben. Sichtlich bewegt, spricht SPD-Chef Sigmar Gabriel über einen großen Mann der Politik. Ohne ihn wäre es nicht zur Deutschen Einheit gekommen.

Quelle: N24

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