Das Prinzip „good guy“ und „bad guy“ funktioniert nicht nur im Polizeiverhör. Auch in Demokratien kann die ziemlich durchsichtige Rollenverteilung helfen, eine Wirkung zu erzielen. Nahezu mustergültig führten das Mitte Juli 1963 West-Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt (SPD) und sein Pressechef und Berater Egon Bahr vor. Allerdings ist unklar, ob bewusst oder unbewusst.
Im Hinblick auf die 1965 anstehende zweite Kanzlerkandidatur des „deutschen John F. Kennedy“ – so eine bei Brandts Bewunderern seinerzeit beliebte Beschreibung – hatte die Evangelische Akademie in Tutzing Brandt und Bahr gemeinsam zu einer Tagung an den Starnberger See geladen. Die Institution versammelte immer wieder hochkarätige Redner, sie galt in jenen Jahren als eines der wichtigsten Foren deutscher Politik.
Angesichts der erheblichen Wahrscheinlichkeit, dass Brandt künftig Bundeskanzler werden könnte, bat der Politische Club der Akademie ihn, seine Vorstellungen zur Außen- und Sicherheitspolitik darzulegen. Das Manuskript für die Rede bearbeiteten Brandt und Bahr gemeinsam, offenbar mit großer Sorgfalt: „Es ging mehrfach hin und her“, schrieb Bahr in seinen „Erinnerungen an Willy Brandt“, die 2013 erschienen.
„Währenddessen rief mich der Direktor der Akademie, Roland-Friedrich Messner, an und bat mich, einen Diskussionsbeitrag vorzubereiten“, fuhr Bahr fort: „Ich zögerte, weil mein Kopf inzwischen leer war. Nach langem Zureden entschloss ich mich, einen Punkt aus der Brandt-Rede zu nehmen und an ihn zu exemplifizieren, was unsere außenpolitischen Konzepte für das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten bedeuteten.“ Das war, so jedenfalls Bahrs Darstellung, entscheidend: „Nach dieser Idee konnte ich das Manuskript in eineinhalb Stunden herunter diktieren.“
Bahr berichtet, dass ein Kollege die Formulierung „Wandel durch Annäherung“ als Überschrift über den Text setzte. „Auf dem Weg nach München gab ich das Manuskript Brandt“, erinnerte er sich weiter: „Er las es, brummte, gab es zurück und sagte ,Okay’.“
So kam es zu einem Doppelschlag, der die Außenpolitik der Bundesrepublik für die kommenden Jahrzehnte stark beeinflusste. In der SPD galt die Botschaft von Tutzing 1963 mindestens bis zum 24. Februar 2022 als sakrosankt, bei manchen Sozialdemokraten wohl immer noch.
Denn während Brandt eine staatstragende, aber im Wesentlichen erwartbare Rede im Stile vorhergehender Aussagen seit 1961 hielt, wagte sich sein Mitarbeiter Bahr erheblich weiter aus der Deckung. „Good guy“ und „bad guy“ eben – wobei beide rückblickend bestritten, derlei beabsichtigt zu haben. So zeigte sich Brandt „unverhohlen“ verärgert, dass seine „große Rede nicht die gebührende Beachtung fand“, während Bahrs Diskussionsbeitrag zu großem Aufsehen führte. Ob diese Darstellung der beiden Vertrauten stimmte oder nicht, lässt sich mangels anderer Zeugnisse nicht zuverlässig entscheiden.
Bahr begann mit der Anerkennung der Situation: „Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjetunion zu schaffen. Sie sind nicht in Ost-Berlin zu bekommen, nicht gegen die Sowjetunion, nicht ohne sie.“ Die Wiedervereinigung sei ein außenpolitisches Problem. Auch wenn es paradox klinge, so müsse doch der Status quo überwunden werde, indem man den Status quo zunächst anerkenne.
„Die Frage ist, ob es innerhalb dieser Konzeption eine spezielle deutsche Aufgabe gibt“, leitete Bahr dann zum Hauptteil seines Beitrages über. „Jede Politik zum direkten Sturz des Regimes drüben“ sei „aussichtslos“; die „Politik des Alles oder Nichts“ scheide aus. Im Gegenteil seien „Änderungen und Veränderungen nur ausgehend von dem zurzeit dort herrschenden verhassten Regime erreichbar“.
Auch das Ziel der westlichen Politik müsse verändert werden. „Uns hat es zunächst um die Menschen zu gehen und um die Ausschöpfung jedes denkbar und verantwortbaren Versuchs, die Situation zu erleichtern“, betonte Bahr: „Eine materielle Verbesserung müsste eine entspannende Wirkung in der Zone haben“ – so lautete seine Erwartung. Einen „praktikablen Weg über den Sturz des Regimes“ zur Wiedervereinigung hingegen gebe es nicht.
Seine Ausführungen fasste Egon Bahr abschließend in jenen Worten zusammen, die sein Kollege als Überschrift ausgewählt hatte und die tatsächlich den Inhalt des knapp 2200 Wörter langen Textes treffend zusammenfasste. „Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Selbstbewusstsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen.“
Während der in Tutzing anwesende WELT-Korrespondent in seinem unmittelbaren Bericht die Brandt-Rede lediglich referierte und Bahrs Beitrag unerwähnt ließ, reagierte die CDU in Bonn erheblich schärfer. Der geschäftsführende Parteivorsitzende Josef Hermann Dufhues (in etwa das, was man heute als Generalsekretär bezeichnet) kritisierte, Brandt habe sich „in geradezu anbiedernder Form an Adenauer angehängt“, während Bahr einen „Plan aus der Schublade gezogen“ habe, der aus „den besten Zeiten sozialdemokratischer Agitation gegen die Außenpolitik Adenauers“ stamme.
West-Berlins CDU-Landeschef Franz Amrehn sprach sogar von einem „Scheinlob Brandts für den Bundeskanzler“. In seinen Ausführungen lasse sich nicht ein einziger greifbarer Vorschlag entdecken, bemerkte Amrehn spitz, aber durchaus treffend. Hingegen könne „die von Bahr ausgesprochene Formel“, also: „Wandel durch Annäherung“, nicht anders „als eine westliche Spielart der Konföderationspläne der Zone“ verstanden werden.
Beide CDU-Vertreter benutzten also nicht die Begriff „good guy“ und „bad guy“, meinten aber offensichtlich ähnliches. Die Resonanz fiel auch in der SPD ähnlich kritisch aus: So sprach der geläuterte Ex-Stalinist Herbert Wehner süffisant von „bahrem Unsinn“ – und die West-Berliner SPD ließ verlauten, Egon Bahr habe für sich gesprochen, aber „weder für die SPD noch für irgendeinen anderen“. Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ wiederum bilanzierte, für seine Formel „Wandel durch Annäherung“ stehe der Senatspressechef „im Feuer der Kritik“.
Brandt selbst hatte zwar den Vorstoß seines Beraters nicht öffentlich aufgegriffen, sich aber ebenso wenig distanziert. Tatsächlich hatte der Senatspressechef lediglich die Gedanken weitergesponnen, die in Brandts Umkreis schon seit Mitte 1962 angedeutet wurden, unter anderem von Brandts Stellvertreter Heinrich Albertz.
In den folgenden Jahren verselbstständigte sich die eindringliche Formel immer stärker, löste sich von den Einschränkungen, die Bahr in seinem Tutzinger Beitrag noch gemacht hatte. Als nach dem Machtwechsel in Bonn im September 1969 die erste sozialliberale Bundesregierung ihre neue Ostpolitik begann, war „Wandel durch Annäherung“ zum vermeintlichen Patentrezept geronnen.
Daran hat sich bis zum Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine nichts geändert. Erst jetzt beginnen auch bei der SPD Erkenntnisprozesse, ob Egon Bahrs berühmte Formel sich in der Gegenwart nicht als Irrweg erweist.
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