Deutschlandpolitik 1963: Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“ - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Geschichte
  3. Deutschlandpolitik 1963: Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“

Geschichte Deutschlandpolitik 1963

Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“ – und die Folgen

Eigentlich sollte es nur ein „Diskussionsbeitrag“ nach Willy Brandts Rede zur künftigen Außen- und Sicherheitspolitik sein. Doch die Formel, die Egon Bahr am 15. Juli 1963 in Tutzing prägte, verselbstständigte sich und bestimmte die SPD-Ostpolitik seither.
Leitender Redakteur Geschichte
Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, begrüßte am 17.12.1963 auf einer Pressenkonferenz im Rathaus Schöneberg die mit Vertretern der Sowjetzone getroffene Regelung in der Passierscheinfrage. Die Verwandtenbesuche in Ostberlin werden vom 19.12.1963 bis zum 05.01.1964 möglich sein. Das Bild zeigt während der Pressekonferenz rechts Willy Brandt und links Senatspressechef Egon Bahr. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, begrüßte am 17.12.1963 auf einer Pressenkonferenz im Rathaus Schöneberg die mit Vertretern der Sowjetzone getroffene Regelung in der Passierscheinfrage. Die Verwandtenbesuche in Ostberlin werden vom 19.12.1963 bis zum 05.01.1964 möglich sein. Das Bild zeigt während der Pressekonferenz rechts Willy Brandt und links Senatspressechef Egon Bahr.
Egon Bahr und Willy Brandt 1963 auf einer Pressekonferenz. Bahr war eher Vertrauter als "nur" Pressesprecher
Quelle: picture alliance / dpa

Das Prinzip „good guy“ und „bad guy“ funktioniert nicht nur im Polizeiverhör. Auch in Demokratien kann die ziemlich durchsichtige Rollenverteilung helfen, eine Wirkung zu erzielen. Nahezu mustergültig führten das Mitte Juli 1963 West-Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt (SPD) und sein Pressechef und Berater Egon Bahr vor. Allerdings ist unklar, ob bewusst oder unbewusst.

Im Hinblick auf die 1965 anstehende zweite Kanzlerkandidatur des „deutschen John F. Kennedy“ – so eine bei Brandts Bewunderern seinerzeit beliebte Beschreibung – hatte die Evangelische Akademie in Tutzing Brandt und Bahr gemeinsam zu einer Tagung an den Starnberger See geladen. Die Institution versammelte immer wieder hochkarätige Redner, sie galt in jenen Jahren als eines der wichtigsten Foren deutscher Politik.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, am 11.01.1963 bei einem Besuch in der Bundeshauptstadt Bonn.
Willy Brandt 1963 bei einem Besuch in der Bundeshauptstadt Bonn
Quelle: picture alliance / Marianne Rohwedder-Flink

Angesichts der erheblichen Wahrscheinlichkeit, dass Brandt künftig Bundeskanzler werden könnte, bat der Politische Club der Akademie ihn, seine Vorstellungen zur Außen- und Sicherheitspolitik darzulegen. Das Manuskript für die Rede bearbeiteten Brandt und Bahr gemeinsam, offenbar mit großer Sorgfalt: „Es ging mehrfach hin und her“, schrieb Bahr in seinen „Erinnerungen an Willy Brandt“, die 2013 erschienen.

„Währenddessen rief mich der Direktor der Akademie, Roland-Friedrich Messner, an und bat mich, einen Diskussionsbeitrag vorzubereiten“, fuhr Bahr fort: „Ich zögerte, weil mein Kopf inzwischen leer war. Nach langem Zureden entschloss ich mich, einen Punkt aus der Brandt-Rede zu nehmen und an ihn zu exemplifizieren, was unsere außenpolitischen Konzepte für das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten bedeuteten.“ Das war, so jedenfalls Bahrs Darstellung, entscheidend: „Nach dieser Idee konnte ich das Manuskript in eineinhalb Stunden herunter diktieren.“

Lesen Sie auch

Bahr berichtet, dass ein Kollege die Formulierung „Wandel durch Annäherung“ als Überschrift über den Text setzte. „Auf dem Weg nach München gab ich das Manuskript Brandt“, erinnerte er sich weiter: „Er las es, brummte, gab es zurück und sagte ,Okay’.“

So kam es zu einem Doppelschlag, der die Außenpolitik der Bundesrepublik für die kommenden Jahrzehnte stark beeinflusste. In der SPD galt die Botschaft von Tutzing 1963 mindestens bis zum 24. Februar 2022 als sakrosankt, bei manchen Sozialdemokraten wohl immer noch.

Aufzeichnung über Bahrs Rede
Diese Aufzeichnung über Bahrs Rede entstand kurz nach dem gesprochenen Beitrag als Vorbereitung für den Druck - es ist aber nicht das eigentliche Redemanuskript
Quelle: Archiv für soziale Demokratie / FES

Denn während Brandt eine staatstragende, aber im Wesentlichen erwartbare Rede im Stile vorhergehender Aussagen seit 1961 hielt, wagte sich sein Mitarbeiter Bahr erheblich weiter aus der Deckung. „Good guy“ und „bad guy“ eben – wobei beide rückblickend bestritten, derlei beabsichtigt zu haben. So zeigte sich Brandt „unverhohlen“ verärgert, dass seine „große Rede nicht die gebührende Beachtung fand“, während Bahrs Diskussionsbeitrag zu großem Aufsehen führte. Ob diese Darstellung der beiden Vertrauten stimmte oder nicht, lässt sich mangels anderer Zeugnisse nicht zuverlässig entscheiden.

Bahr begann mit der Anerkennung der Situation: „Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjetunion zu schaffen. Sie sind nicht in Ost-Berlin zu bekommen, nicht gegen die Sowjetunion, nicht ohne sie.“ Die Wiedervereinigung sei ein außenpolitisches Problem. Auch wenn es paradox klinge, so müsse doch der Status quo überwunden werde, indem man den Status quo zunächst anerkenne.

Lesen Sie auch

„Die Frage ist, ob es innerhalb dieser Konzeption eine spezielle deutsche Aufgabe gibt“, leitete Bahr dann zum Hauptteil seines Beitrages über. „Jede Politik zum direkten Sturz des Regimes drüben“ sei „aussichtslos“; die „Politik des Alles oder Nichts“ scheide aus. Im Gegenteil seien „Änderungen und Veränderungen nur ausgehend von dem zurzeit dort herrschenden verhassten Regime erreichbar“.

Anzeige

Auch das Ziel der westlichen Politik müsse verändert werden. „Uns hat es zunächst um die Menschen zu gehen und um die Ausschöpfung jedes denkbar und verantwortbaren Versuchs, die Situation zu erleichtern“, betonte Bahr: „Eine materielle Verbesserung müsste eine entspannende Wirkung in der Zone haben“ – so lautete seine Erwartung. Einen „praktikablen Weg über den Sturz des Regimes“ zur Wiedervereinigung hingegen gebe es nicht.

Lesen Sie auch

Seine Ausführungen fasste Egon Bahr abschließend in jenen Worten zusammen, die sein Kollege als Überschrift ausgewählt hatte und die tatsächlich den Inhalt des knapp 2200 Wörter langen Textes treffend zusammenfasste. „Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Selbstbewusstsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen.“

Während der in Tutzing anwesende WELT-Korrespondent in seinem unmittelbaren Bericht die Brandt-Rede lediglich referierte und Bahrs Beitrag unerwähnt ließ, reagierte die CDU in Bonn erheblich schärfer. Der geschäftsführende Parteivorsitzende Josef Hermann Dufhues (in etwa das, was man heute als Generalsekretär bezeichnet) kritisierte, Brandt habe sich „in geradezu anbiedernder Form an Adenauer angehängt“, während Bahr einen „Plan aus der Schublade gezogen“ habe, der aus „den besten Zeiten sozialdemokratischer Agitation gegen die Außenpolitik Adenauers“ stamme.

Der zum vierten Mal gewählte Bundeskanzler Konrad Adenauer (r) im Gespräch mit dem Berliner Bürgermeister Willy Brandt (l) am 06.12.1961 in Bonn. Konrad Adenauer war von 1949 bis 1963 der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und von 1951 bis 1955 zugleich Bundesaußenminister. Als Mitbegründer und langjähriger Parteichef der CDU stand seine Politik vor allem für soziale Marktwirtschaft, die Einigung Europas und Antikommunismus. [dpabilderarchiv]
Zwei Generationen: Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein unterlegener Herausforderer Willy Brandt 1961 im Bundestag
Quelle: picture alliance / Kurt Rohwedder

West-Berlins CDU-Landeschef Franz Amrehn sprach sogar von einem „Scheinlob Brandts für den Bundeskanzler“. In seinen Ausführungen lasse sich nicht ein einziger greifbarer Vorschlag entdecken, bemerkte Amrehn spitz, aber durchaus treffend. Hingegen könne „die von Bahr ausgesprochene Formel“, also: „Wandel durch Annäherung“, nicht anders „als eine westliche Spielart der Konföderationspläne der Zone“ verstanden werden.

Beide CDU-Vertreter benutzten also nicht die Begriff „good guy“ und „bad guy“, meinten aber offensichtlich ähnliches. Die Resonanz fiel auch in der SPD ähnlich kritisch aus: So sprach der geläuterte Ex-Stalinist Herbert Wehner süffisant von „bahrem Unsinn“ – und die West-Berliner SPD ließ verlauten, Egon Bahr habe für sich gesprochen, aber „weder für die SPD noch für irgendeinen anderen“. Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ wiederum bilanzierte, für seine Formel „Wandel durch Annäherung“ stehe der Senatspressechef „im Feuer der Kritik“.

Brandt selbst hatte zwar den Vorstoß seines Beraters nicht öffentlich aufgegriffen, sich aber ebenso wenig distanziert. Tatsächlich hatte der Senatspressechef lediglich die Gedanken weitergesponnen, die in Brandts Umkreis schon seit Mitte 1962 angedeutet wurden, unter anderem von Brandts Stellvertreter Heinrich Albertz.

Der am 11.03.1963 vom Abgeordnetenhaus neu gewählte Senat der Stadt Berlin trat am 12.03.1963 im Rathaus Schöneberg zu seiner ersten Sitzung zusammen. In der Mitte der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (SPD). Auf der rechten Seite am Ende des Tisches Heinrich Alberts (Bürgermeister), ganz rechts Adolf Arndt (Kunst und Wissenschaft) und Egon Bahr (Leiter des Presse- und Informationsamtes). An der linken Tischseite (l-r) Wolfgang Kirsch (Justiz), Kurt Neubauer (Jugend und Sport), Kurt Exner (Arbeit und Soziales), Rolf Schwedler (Bau) und Karl Schiller (Wirtschaft). +++(c) dpa - Report+++ [dpabilderarchiv]
Der Senat von West-Berlin 1963 im Rathaus Schöneberg. In der Mitte Willy Brandt, vorne rechts Egon Bahr
Quelle: picture-alliance/ dpa

In den folgenden Jahren verselbstständigte sich die eindringliche Formel immer stärker, löste sich von den Einschränkungen, die Bahr in seinem Tutzinger Beitrag noch gemacht hatte. Als nach dem Machtwechsel in Bonn im September 1969 die erste sozialliberale Bundesregierung ihre neue Ostpolitik begann, war „Wandel durch Annäherung“ zum vermeintlichen Patentrezept geronnen.

Anzeige

Daran hat sich bis zum Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine nichts geändert. Erst jetzt beginnen auch bei der SPD Erkenntnisprozesse, ob Egon Bahrs berühmte Formel sich in der Gegenwart nicht als Irrweg erweist.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

„Aha! History – Zehn Minuten Geschichte“ ist der History-Podcast von WELT. Immer montags und donnerstags gehen wir auf Zeitreise und geben Antworten auf die Fragen der Geschichte.

Abonnieren Sie den Podcast unter anderem bei Spotify, Apple Podcasts, Deezer, Amazon Music oder direkt per RSS-Feed.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema