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Dornröschen ist ein Märchen (ATU 410). Es steht in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ab der 1. Auflage von 1812 an Stelle 50 (KHM 50) und geht durch mündliche Weitergabe über Marie Hassenpflug auf Charles Perraults La belle au bois dormant (‚Die schlafende Schöne im Wald‘) zurück. Bei Perrault erschien es 1697 in Contes de ma Mère l’Oye und vorher 1696. Ludwig Bechstein übernahm das Märchen in sein Deutsches Märchenbuch als Das Dornröschen (1845 Nr. 63, 1853 Nr. 52).
Nach langem Warten bekommt ein König endlich eine Tochter. Aus Freude darüber lädt er seine Untertanen zu einem Fest, darunter auch zwölf weise Frauen (Feen). Die dreizehnte, die aus Mangel an Geschirr nicht zur Taufe der neugeborenen Königstochter eingeladen worden war, belegt das Mädchen mit einem Fluch, dass es sich an seinem fünfzehnten Geburtstag an einer Spindel stechen und daran sterben solle. Eine der zwölf übrigen Feen, die an dem Fest teilnehmen durften, wandelt den Todesfluch in einen hundertjährigen Schlaf um, woraufhin der König alle Spindeln im Königreich verbrennen lässt.
Am fünfzehnten Geburtstag des Mädchens erkundet sie ein Turmzimmer, in dem sie eine alte Frau beim Spinnen trifft. Die Prinzessin will es auch einmal versuchen und sticht sich mit der Spindel in den Finger. Sie fällt gemeinsam mit dem gesamten Hofstaat in einen tiefen Schlaf. Das Schloss wird mit einer undurchdringlichen Dornenhecke umringt, aus der nach hundert Jahren Rosen wachsen. Erst an diesem Tag gelingt es einem Prinzen, in den Turm zu gelangen, wo er die Königstochter wachküsst, woraufhin auch der Schlaf des Hofstaats beendet ist. Dornröschen und der Prinz heiraten.
Jacob Grimm notierte Dornröschen in der handschriftlichen Urfassung von Grimms Märchen (1810) nach Marie Hassenpflug. Wilhelm Grimm glich die Druckfassungen nach und nach an Perraults La belle au bois dormant (1697) an. Ihre Anmerkung erwähnt noch Basiles Version (die ihnen Clemens Brentano nahebrachte) und Brünhild. Zum Schlaf vergleichen sie Schneewittchen. Den Schluss der französischen und der italienischen Fassung fanden sie andernorts als Bruchstück Die Schwiegermutter wieder.
Der Stoff begegnet in seiner schriftlichen Fassung auch in zwei Werken des 14. Jahrhunderts, dem Roman de Perceforest (um 1330, altfranzösisch) und der Novelle Frayre de Joy e Sor de Plaser (um 1350, katalanisch), in denen das schlafende Mädchen geschwängert wird. Giambattista Basile nimmt in seinem Märchen Sonne, Mond und Talia (Pentameron, V,5) das vollständige Thema auf (s. a. II,8 Die kleine Sklavin), während bei Perrault die Schwangerschaft nicht mehr auftaucht. Vgl. auch Die Geschichte der messingnen Stadt in Tausendundeine Nacht.
Ein verwunschenes Schloss kommt auch in den „Kinder- und Hausmärchen“ KHM 62 Die Bienenkönigin, KHM 137 De drei schwatten Prinzessinnen, KHM 197 Die Kristallkugel, KHM 130a Der Soldat und der Schreiner, das Erwecken der Schlafenden in KHM 163 Der gläserne Sarg, KHM 82a Die drei Schwestern vor. Das Spinnen – als typisch weibliche Kunstfertigkeit – spielt in vielen Märchen eine Rolle (KHM 9, 14, 24, 49, 55, 65, 67, 79, 128, 156, 181, 179, 188).
„Dornröschen“ gilt manchen Forschern als eine entmythisierte Fassung der Figur der Brünhild (vergleiche die Nibelungensage). Zu beachten sind hier folgende Topoi: Das herangewachsene Mädchen wird im altnordischen Sigrdrífomál von Wotan mit dem „Schlafdorn“ (vergleiche die Spindel) gestochen und dadurch in einen langen Schlaf versetzt. Ihre Burg wird von einem Feuerkranz (der „Waberlohe“ – vergleiche die rote Rosenhecke) gegen Zugang gesichert. Siegfried (vergleiche ‚ein Prinz‘) durchdringt sie dennoch und erweckt die Schlafende (vergleiche den andeutenden „Kuss“). Joachim Fernau interpretiert Dornröschen als die entschärfte und der sittlichen Moral der Zeit angepasste Fassung der Sage.
Ausführliche und wichtige psychologische Deutungen finden sich bei Bruno Bettelheim (Kinder brauchen Märchen, 1975), Marie-Louise von Franz (Das Weibliche im Märchen, 1977) oder Eugen Drewermann (Dornröschen). Laut Bruno Bettelheim ist das zentrale Thema aller Fassungen von Dornröschen, dass Eltern das sexuelle Erwachen ihrer Kinder nicht verhindern können – die hinausgeschobene Erfüllung ist nicht weniger schön. Was so passiv scheint, ist nicht wirklich der Tod. Mit 15 setzte früher die Regel ein, 13 sind die Mondmonate des Jahres, der Rhythmus der Menstruation. Eine Wendeltreppe bedeute ein Träumen sexueller Erlebnisse, die kleine Kammer die Vagina, der Schlüssel den Akt („Was ist das für ein Ding...“), worauf sie in Schlaf sinkt. In der Bibel sei die Menstruation „der Fluch“, von Frau zu Frau weitergegeben. Der dornbewehrte Todesschlaf sei eine Warnung vor verfrühter Sexualisierung, aber auch narzisstischer Isolation. Erst innere Harmonie gewähre erfüllte Sexualität auch mit anderen, schenke Leben, und alle erwachen.
Bettelheim interpretiert den Dornröschenschlaf als typisches Adoleszenz-Phänomen bei Mädchen und Jungen:
Laut Wilhelm Salber geht es bei Dornröschen um ein spielerisches Herausfordern geheimnisvoller Mächte. Um der Verlockung willen experimentiert man mit Unerhörtem, das man dann in einem Zwischenzustand halten will. Er vergleicht damit die Lebensgeschichte eines jungen Mädchens, das neugierig auch anrüchigen Anregungen nachgeht. Zwar entwickeln sich blühende Geschichten, doch bleibt sie vor der Verwirklichung stets im Drumherum stehen und erfährt immer ähnliche Verletzungen.
Viele Parodien drehen die angehaltene Zeit mit modernen Bezügen ins Groteske. In Wolfgang Mieder (Hrsg.): Grimmige Märchen. Prosatexte von Ilse Aichinger bis Martin Walser. (Fischer Verlag, Frankfurt (Main) 1986) finden sich dafür zahlreiche Beispiele:
Erich Kästners Gedicht Die scheintote Prinzessin von 1932 zielt auf eine rückwärtsgewandte deutsche Öffentlichkeit, die nicht wirklich erwachen will. Michael Eisig zeigt das rudimentär-verflachte Märchenverständnis eines Managers, der sich mal beim Beeren pflücken in den Finger sticht. Erich Ödipus lässt alle segensvoll einschlafen und wieder aufwachen. Erno Scheidegg parodiert die Nachkriegszeit als Ende eines 12-jährigen Dornröschenschlafes. Günter Kunert stellt sich vor, wie der Prinz hinter Dornenlabyrinthen statt zeitloser Utopie ein gealtertes Dornröschen trifft. Bei Irmela Brender stritten Koch und Küchenjunge grade übers Zwiebelschneiden, und versöhnen sich nach dem Aufwachen. Auch Franz Fühmann sinniert über zu früh und zu spät gekommene Prinzen. Martin Walser sieht ein Märchen von Unterdrückten für Unterdrückte: Wie beim Lotto gewinne nicht Gemeinschaft, sondern einer in hundert Jahren, und alle laufen in die Dornenhecke. Wolfram Siebecks Prinz schneidet sich den Weg mit der Motorsäge frei, wovon alle aufwachen. Er trägt Armbanduhr und Sonnenbrille, Dornröschen verblasst neben Illustriertenstars, und die Ehe wird bald geschieden.
Weitere Beispiele wurden gesammelt in: Johannes Barth (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. Grimms Märchen – modern. Prosa, Gedichte, Karikaturen. Reclam, Stuttgart 2011:
Josef Redings Mädchen, pfeif auf den Prinzen von 1974 mahnt zur Emanzipation („…es bringt dich auch kein Königssohn / vom Kochtopf auf den Herrscherthron…“). Ruth Schweizers Auferweckung von 1980 resigniert über heimliches Wünschen. Günter Grass kehrt, ähnlich wie Kästner, den Erlösungskuss zum Unheilsbringer („…die freigelassen zum Fürchten wären.“). Imre Töröks Aliens in Dornrösia (1994) verschlafen gern Äonen in Erwartung neuester Moden, bis alle pennen, weil der Märchenprinz keinen Bock hat. Auch Robert Coovers Prinz hat zuletzt keine Lust und hüpft zurück in die Dornenhecke.
Das Märchen wurde für zahllose Märchenbücher des 19. und 20. Jahrhunderts illustriert. Zur historischen Allegorie wurde es in den Wandbildern des Kaisersaals in Goslar von Hermann Wislicenus (um 1880). Der mehrteilige Dornröschenzyklus steht dort für den langen „Schlaf“ und die Wiedererweckung des deutschen Reichs. Dornröschen kommt auch in Kaori Yukis Manga Ludwig Revolution vor.
Siehe auch den Spielfilm Der Tiger und der Schnee, 2005.