1 Industrialisierung, Wohlfahrtsstaat und Geschlechterverhältnisse

Der Beginn einer staatlichen Sozialpolitik ist in Deutschland und anderen Ländern untrennbar mit der Industrialisierung und der damit einhergehenden umfassenden Etablierung von kapitalistischer Produktionsweise und Marktökonomie verbunden. Der tiefgreifende ökonomisch-soziale Strukturwandel führte im 19. Jahrhundert dazu, dass immer größere Bevölkerungsteile in das System lohnabhängiger Erwerbsarbeit eingeschlossen wurden und zu den Produktionsstätten in die Städte zogen. Die mit der Industrialisierung eng verknüpften sozialen Problemlagen – gesundheitsgefährdende und unfallträchtige Arbeitsbedingungen, Ausbeutung, Armut, schlechte Wohnbedingungen, schwierige hygienische Verhältnisse – kumulierten in einer breiten Verelendung der Massen, die als Pauperismus bezeichnet wird. Die bis dahin verbreiteten Unterstützungssysteme wie Familie, kommunale Armenfürsorge und ständische Sicherungseinrichtungen der Zünfte verloren relativ rasch ihre ökonomischen und sozialen Grundlagen oder waren angesichts von Qualität und Quantität des Elends weithin überfordert. Es waren dann vor allem die Arbeiterbewegung und ihre Gewerkschaften und Parteien, die diese Missstände offensiv thematisierten und politisierten und teils revolutionäre Perspektiven einnahmen. In Deutschland reagierte der Staat in doppelter Art und Weise: neben weitreichenden Repressionen und dem Verbot der sozialistischen Organisationen („Sozialistengesetze“) wurde ab den 1880er Jahre eine Befriedigungspolitik eingeleitet, die ihren Kern in der Bismarck’schen Sozialversicherungspolitik fand. Die wesentlichen Risiken rund um die Arbeit (etwa Krankheit, Unfälle, Alter) wurden durch die schrittweise eingeführten beitragsfinanzierten Sozialversicherungen in einem gewissen Maße abgesichert. Flankierend kamen regulierende Eingriffe in den Produktionsprozess durch Beschränkungen (etwa Verbot der Kinderarbeit, Arbeitszeiten) und Arbeitsschutzvorschriften hinzu (Bäcker et al. 2020, S. 17).

Die historische Bedeutung dieser Entwicklung ist weitreichend: in ihr ist nicht nur die grundlegende und bis heute wirksame Systematik des stark auf Sozialversicherungen basierenden und damit am Faktor Arbeit orientierten deutschen Sozialsystems angelegt – es wurde auch eine grundlegende Verhältnisbestimmung von produktiver und reproduktiver Arbeit mit weitreichenden Folgen für die Geschlechterverhältnisse vorgenommen.

In der Neuzeit stellten zunächst die Familienhaushalte mit einer engen Kooperation aller Haushaltsangehörigen die zentrale ökonomische wie soziale Basis dar, über die sowohl die wesentlichen wirtschaftlichen Prozesse wie Landwirtschaft, Gewerbe und Handel als auch soziale Absicherung organisiert wurden. Im Zuge der Industrialisierung wurden diese Strukturen rasch relativiert und zunehmend obsolet. Die sich rasant verbreitende familienferne Tätigkeit des Mannes ging mit der Zuständigkeit der bürgerlichen Frau für Haus und Familie einher. Obgleich insbesondere Arbeiterfamilien aufgrund der ökonomischen Not auf die Erwerbstätigkeit aller Familienmitglieder angewiesen blieben, setzte sich die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in die (dem Mann zugeordnete) Sphäre der Produktion und die (der Frau zugeordnete) Sphäre der Reproduktion letztlich als gesellschaftliches Leitbild und Ordnungsprinzip durch. Umfänglich gesellschaftlich realisiert wurde dieses Modell spätestens seit den 1950er Jahren. Und obwohl die im Bereich der Reproduktion, also in Haushalt und Familie geleistete Arbeit als Voraussetzung für das Funktionieren der kapitalistischen Ökonomie unverzichtbar ist, fokussierten Sozialpolitik und soziale Sicherung lange Zeit fast ausschließlich die Erwerbsarbeit im Produktionsprozess (Scheele 2019, S. 755). Becker-Schmidt (2001) spricht vor diesem Hintergrund von einer „doppelten Relationalität der Geschlechterverhältnisse“, die aus der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bewertung von Produktions- und Reproduktionsarbeit bei gleichzeitiger geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung resultiert: so wird der männlich konnotierten Produktionsarbeit ein höherer Wert zugemessen. Sie steht in der ihr zugeschriebenen gesellschaftlichen Bedeutung über der weiblich konnotierten Reproduktionsarbeit, die häufig kaum thematisiert wird und gewissermaßen „unsichtbar“ in Haushalt und Familie erbracht wird (S. 47 ff.).

2 Feministische Wohlfahrtsstaatskritik

Feministische Kritik an der skizzierten geschlechtsspezifischen Teilung gesellschaftlicher Arbeit in Produktion und Reproduktion und der damit verbundenen Verteilung von Status, Machtpositionen, Rechten und Privilegien zwischen den Geschlechtern nimmt insbesondere auch den Wohlfahrtsstaat in den Blick.Footnote 1 Problematisiert wird insbesondere die Orientierung wohlfahrtsstaatlicher Politik am so genannten Normalarbeitsverhältnis. Zwar hat sich das deutsche Sozialsystem in seiner bald 150-jährigen Geschichte verändert und weiterentwickelt. So wurden zunehmend allgemeine Lebensrisiken jenseits von typischen Arbeitsrisiken in Politik und soziale Sicherung einbezogen. Kern des Systems war und ist jedoch – so die feministische Kritik – die Orientierung am männlichen Erwerbstätigen, der in Vollzeit und idealerweise in einem tariflich abgesicherten und unbefristeten Arbeitsverhältnis das Familieneinkommen erzielt. Diese Idee ist eng mit dem Ernährer-Modell verknüpft, welches im Zuge des fordistischen „Wirtschaftswunders“ der Nachkriegszeit noch einmal gestärkt und in der gesellschaftlichen Breite zur „Normalität“ wurde und so die Zuständigkeit von Frauen für Haushalte und Familie abermals unterstrich.

Dieses gesellschaftliche Arrangement wird strukturell bis in die Gegenwart durch den Wohlfahrtsstaat befördert und abgesichert, wie Scheele anschaulich darlegt: „Die starke Erwerbsorientierung der sozialen Sicherungssysteme wird von einer finanziellen (und ideologischen) Förderung der modernisierten Hausfrauenehe begleitet und (re-)produziert die geschlechtszuschreibende Arbeitsteilung in Familien. Das Steuersystem, insbesondere das Ehegattensplitting, belohnt die Nicht- bzw. nur geringfügige Erwerbsarbeit von Frauen, das geringe Angebot an öffentlicher Kinderbetreuung erschwert die Erwerbstätigkeit von Müttern und die abgeleitete Kranken- und Rentenversicherung erhöht die Abhängigkeit vom Ehemann.“ (Scheele 2019, S. 758) Zwar sind in der jüngeren Vergangenheit durchaus sozialpolitische Reformen erkennbar, die beispielsweise auf den Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder die Anerkennung von Erziehungszeiten zielen; grundlegende geschlechtsbezogene Strukturprinzipien bleiben jedoch bestehen und sind ein wichtiges Thema der feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung. Dies gilt umso mehr, da sozialpolitische Reformen insbesondere seit den 2000er Jahren weniger an Zielen der Geschlechtergerechtigkeit als am ökonomischen Interesse einer besseren Nutzung des „Humankapitals“ durch den Einbezug von Frauen in den Erwerbsprozess orientiert sind (Pfau-Effinger 2022, S. 648). Ein zentraler Aspekt bleibt vor diesem Hintergrund die Frage, wie Arbeit gesellschaftlich definiert, bewertet und organisiert wird – hieran knüpft die Care-Debatte an (vgl. hierzu auch den Beitrag von Blank in diesem Band).

3 Wohlfahrtsstaat und Care

Der englische Begriff Care („Sorge, Pflege, Umsicht“) verweist auf professionelle, familiale und private Sorgetätigkeiten, die überwiegend von Frauen erbracht werden. Der Care-Diskurs schließt an Überlegungen zur Reproduktionsarbeit an, erweitert jedoch die Perspektive um weitere Aspekte des Sorgens (jenseits von Familie und Haushalt) und ist zudem an neuere gesellschaftliche Entwicklungen (Globalisierung, Krise der Arbeitsgesellschaft, Klimakrise) anschlussfähig und besitzt hier ein großes kritisch-analytisches Potenzial. Care umfasst demnach „den gesamten Bereich familialer und institutionalisierter pflegender, erziehender und betreuender Sorgetätigkeiten im Lebenszyklus (Kinder, pflegebedürftige und alte Menschen) sowie personenbezogener Hilfen in besonderen Lebenslagen.“ (Brückner 2018, S. 212) Damit werden universelle Tatsachen menschlicher Abhängigkeit, Verletzlichkeit und Endlichkeit in den Blick genommen, die alle Menschen zumindest in Phasen ihres Lebens betreffen. Menschen sind dabei nicht nur Empfänger*innen von Sorge, sondern grundsätzlich zu Fürsorglichkeit in der Lage und selbst Sorgende. Care wird somit zu einer grundlegenden Kategorie, die untrennbar mit dem Menschsein und menschlichen Beziehungen verbunden ist. Gleichwohl stellt Brückner fest: „Diese philosophisch-ethische Annahme einer grundlegenden zwischenmenschlichen Interdependenz steht dem vorherrschenden Ideal der Autonomie entgegen und ist daher negativ besetzt.“ (ebd.) Es kommt hinzu, dass das Sorgen weiblich konnotiert ist und als Gegensatz zum vorherrschenden „männlichen“ Ideal der Unabhängigkeit und Autonomie konstruiert wird. Die damit verbundene Abwertung von Care führt dazu, dass entsprechende Tätigkeiten im professionellen oder privaten Bereich wenig anerkannt und kaum in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gewürdigt werden. In einem erweiterten Begriffsverständnis bezieht sich Care zudem nicht nur auf zwischenmenschliche Beziehungen und Verhältnisse sondern auch auf die Selbstsorge und die Sorge für die ökologischen Lebensgrundlagen und Systeme (Gottschlich/Hackfort 2022, S. 307 f.; Klus/Schramkowski 2022, S. 229 ff.)

Wohlfahrtsstaaten bieten grundsätzlich einen Rahmen und Anreize für die gesellschaftliche Aufteilung von Care-Arbeit zwischen Staat, Markt, Familie und Zivilgesellschaft sowie für die bezahlte oder unbezahlte Erbringungen dieser Tätigkeiten. Damit verbunden sind modernisierende oder (re-)traditionalisierende Effekte in Bezug auf Familienkonzepte und Geschlechterverhältnisse. Zwar orientieren sich Menschen auch an vorherrschenden kulturellen Normen und Leitbildern, doch werden diese von wohlfahrtsstaatlichen Strukturen und Politiken gerahmt und somit beeinflusst (Pfau-Effinger 2022, S. 648). Um entsprechende Wirkungen besser verstehen und einordnen zu können, lohnt sich zunächst eine Auseinandersetzung mit der klassischen Wohlfahrtsstaatstypologie nach Esping-Andersen.

Wissensbaustein: Wohlfahrtsregime

Der dänische Wohlfahrtsstaatsforscher Esping-Andersen (1990) hat drei Kriterien vorgeschlagen, anhand derer Wohlfahrtsstaaten beschrieben und voneinander unterschieden werden können. Hierbei wird der Blick zunächst auf das Mischungsverhältnis von öffentlicher bzw. staatlicher, familiärer oder marktförmiger Wohlfahrtsproduktion gelenkt. So kann beispielsweise Kinderbetreuung oder Altenpflege in der Familie geleistet, staatlich organisiert oder auf dem Markt bei einem privaten Anbieter eingekauft werden. Dieses Verhältnis wird auch als welfare-mix, bezeichnet, wobei ein Einbezug der Zivilgesellschaft in die Betrachtung geboten scheint. Des Weiteren ist von Interesse, wie hoch der Grad marktunabhängiger Existenzsicherung ist, wie stark soziale Sicherheit also von der Stellung auf dem Arbeitsmarkt abhängt. Hierfür ist es bedeutend, wie umfassend sozialstaatliche Leistungen ausgebaut sind und wie stark sie entkoppelt vom Faktor Arbeit gewährt werden. Schließlich wird betrachtet, wie stark sozialstaatliche Leistungen einen Einfluss auf Sozialstruktur und soziale Ungleichheiten in einer Gesellschaft haben. Sozialsysteme können in der Finanzierung beispielsweise derart gestaltet werden, dass sie eine (sekundäre) Umverteilung von Einkommen in einer Gesellschaft vornehmen, etwa in dem Bürger*innen mit höheren Einkommen stärker über Steuerzahlungen zur Finanzierung beitragen, obwohl sie vielleicht weniger oder gar keine Leistungen in Anspruch nehmen.

Ausgehend von den skizzierten drei Kriterien hat Esping-Andersen eine Typologie von Wohlfahrtsstaaten entwickelt, in deren Rahmen drei Wohlfahrtsregime grundsätzlich unterschieden werden.

Der liberale Typ strebt eine hohe Marktkonformität in der Organisation und Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und Programme an. Dabei wird die Eigenverantwortung des Einzelnen betont. Die Leistungen sind eher gering und werden subsidiär, also erst nach einer Bedürftigkeitsprüfung gewährt. Das Maß der sozialen Ungleichheit ist relativ hoch und soll nicht durch sozialpolitische Interventionen beeinflusst werden.

Der konservative Typ basiert wesentlich auf beitragsfinanzierten Sozialversicherungen. Daher sind Leistungen stark von der Position auf dem Arbeitsmarkt abhängig. Beispielsweise wird die Höhe der Rente aus dem im Erwerbsleben erzielten Einkommen berechnet. Darüber hinaus spielt die (traditionelle) Familie eine große Rolle. Es ist vorgesehen, dass sie einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Sicherung, Betreuung und Erziehung leistet. Dies intendiert eher klassische Geschlechterrollen. Insgesamt ist die soziale Sicherung stark an beruflichen Erfolg und Klassenzugehörigkeit gekoppelt.

Der sozialdemokratische Typ sieht eine umfassende Wohlfahrtsverantwortung des Staates. Die soziale Sicherung wird eher öffentlich und marktfern sowie statusunabhängig organisiert. Als Anspruchsgrundlage gelten allgemeine (soziale) Bürgerrechte. Eine eigenständige Absicherung von Frauen über die Förderung ihrer Erwerbsbeteiligung wird angestrebt. Das Niveau der Leistungen ist vergleichsweise hoch. Sozialpolitik zielt zudem auch auf eine Verringerung von Einkommensunterschieden und sozialen Ungleichheiten (Bäcker et al. 2020, S. 14 ff.).

Bei den drei von Esping-Andersen beschriebenen Wohlfahrtsregimen handelt es sich um Idealtypen, die nicht in ihrer Reinform auftreten. Vielmehr finden sich in vielen Ländern Mischformen und eigene Akzentsetzungen. Zudem ist die Typologie nicht geeignet, um Entwicklungen in allen Ländern zu betrachten, da diese zum Teil anderen Logiken folgen. Trotz dieser Einschränkungen sind Esping-Andersens Überlegungen aber hilfreich, um wohlfahrtsstaatliche Strukturen und Entwicklungen einordnen zu können.

Eine feministische Kritik an Esping-Andersens Typologie von Wohlfahrtsstaaten lautet, dass sie letztlich wiederum stark auf den Faktor Erwerbsarbeit fokussiert und nur unzureichend die verschiedenen Facetten von Care-Arbeit und die damit verbundenen Geschlechterverhältnisse und -hierarchien reflektiert (Henninger 2019, S. 1273). Um genau diese Zusammenhänge sichtbar zu machen, hat Margrit Brückner (2018) in Analogie zu Esping-Andersen drei Care-Regime beschrieben, die in der folgenden Tabelle dargestellt werden (Tab. 1).

Tab. 1 Care-Regime. (Darstellung auf Grundlage von Brückner 2018, S. 215)

Allen drei Modellen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass sowohl häusliche als auch professionelle Care-Tätigkeiten überwiegend von Frauen erbracht werden, jedoch eine erhebliche Differenzierung anhand von Klassenzugehörigkeit oder Migrationshintergründen zu beobachten ist. Brückner macht somit darauf aufmerksam, dass eine intersektionale Betrachtung von Care- und Geschlechterverhältnissen unbedingt geboten ist (vgl. dazu auch den einleitenden Beitrag im Band). Dies wird insbesondere beim Dienstbotenmodell deutlich, wo eine starke soziale Polarisierung von Frauen zu beobachten ist. Die hohe Erwerbstätigkeit von Frauen der Mittel- und Oberschicht geht mit einem ausgeprägten Niedriglohnsektor einher, in dem wiederum vor allem Frauen mit Migrationsgeschichte unter prekären Bedingungen soziale Dienstleistungen erbringen. Die häufig illegalisierte Sorgearbeit von Migrantinnen in Privathaushalten trägt dabei wesentlich zum Funktionieren der Care-Arrangements in westlichen Wohlfahrtsstaaten bei, führt jedoch im Gegenzug zu einem erheblichen Sorgemangel in den Herkunftsländern der Frauen (Brückner, a.a.O. und grundlegend Lutz 2018). In unterschiedlichen Ausprägungen und Abstufungen ist dieses Phänomen in allen Modellen zu beobachten, obgleich im Familien-Mix-Modell weniger soziale Dienstleistungen im Niedriglohnbereich erbracht werden, da diese stärker über Familienstrukturen organisiert werden. Hinzu kommt ein gewisses Maß an professionellen sozialen Dienstleistungen, weshalb insgesamt von einem Mix gesprochen wird. Im Dienstleistungsmodell sind die öffentlichen sozialen Dienstleitungen, etwa in der Kinderbetreuung stark ausgebaut, was eine hohe Frauenbeschäftigung bei vergleichsweise geringer sozialer Differenzierung ermöglicht. Zu beachten ist, dass auch die öffentlichen sozialen Dienste meist von Frauen geleistet werden.

Ein zentraler Aspekt bei der Betrachtung von Care-Regimen ist der Grad der Familialisierung. Hier geht es um die Frage, wie und in welchem Umfang Care-Arbeit marktförmig, öffentlich oder eben familiär (Familialismus) organisiert und geleistet wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein hoher Grad der De-Familialisierung (etwa durch eine ausgebaute öffentliche Kinderbetreuung) eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer ermöglicht. Vor diesem Hintergrund werden gesellschaftliche Care-Arrangements und ihre Wirkungen untersucht.

Beispiel: Familienpolitik im europäischen Vergleich

In einer vergleichenden Untersuchung von europäischen Wohlfahrtsstaaten haben Pfau-Effinger und Saxonberg (2015) diese anhand der Kriterien „Grad der Generosität von Elternzeitregelungen“ und „Grad der Generosität von Politiken zur Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahren“ analysiert und miteinander verglichen. Entscheidende Faktoren waren hier der mögliche Umfang von Elternzeiten und damit verbundene Einkommensersatzleistungen sowie ein Rechtsanspruch auf bzw. die großzügige Förderung von Kinderbetreuung unter drei Jahren. Ihre Analyse ergab das folgende Bild (Tab. 2):

Tab. 2 Regelungen zu Elternzeit und Kinderbetreuung unter drei Jahren (Darstellung auf Grundlage von Pfau-Effinger/Saxonberg 2015)

Auf Grundlage ihrer Analyse erkennen und beschreiben Pfau-Effinger/Saxonberg zwei grundlegende Typen europäischer Familienpolitik: im Modell der „multi-optionalen Familienpolitiken“ werden sowohl großzügige Leistungen zur Kinderbetreuung wie auch großzügige Leistungen zur Elternzeit verwirklicht. Dies ermöglicht eine gewisse Wahlfreiheit und verschiedene Gestaltungsoptionen. Ihrer Ansicht nach wird hiermit auf einen kulturellen Widerspruch reagiert, da gesellschaftlich sowohl die Gleichstellung auf Grundlage von Erwerbsarbeit als auch die temporäre Betreuung der Kinder zuhause positiv bewertet werden. Demgegenüber stehen Länder, in denen weder Kinderbetreuung noch Elternzeitregelungen besonders generös ausgebaut sind. Hieraus resultieren (re-)traditionalisierende Effekte für die Geschlechterverhältnisse. Nur wenige Länder wie Frankreich und Portugal lassen sich nicht in diese Dichotomie einordnen. Diese setzen (gewissermaßen widerspruchsfrei) vor allem auf eine gut ausgebaute Kinderbetreuung (Pfau-Effinger/Saxonberg 2015, S. 94 ff.).

Das Beispiel macht deutlich, inwiefern wohlfahrtsstaatliche Politiken Einfluss auf Care-Arrangements und damit Geschlechterverhältnisse nehmen können. Dabei wirken diese Politiken und damit verbundene strukturelle Bedingungen jedoch nicht determinierend, da kulturelle Normen und Orientierungen ebenso eine wichtige Bedeutung haben. Nicht selten kommt es auch zu Widersprüchen zwischen gesellschaftlichen Leitbildern und wohlfahrtsstaatlichen Politiken (Pfau-Effinger 2022, S. 648). Scheele (2019) macht zudem auf eine weitere Paradoxie aufmerksam: die Teilnahme von Frauen am Erwerbsleben ist in Deutschland sowohl von einer zunehmenden Gleichstellung als auch von einer fortgesetzten Ungleichheit geprägt, die sich nach wie vor auch bei der Übernahme von Care-Aufgaben zeigt (S. 759 f.).

Wissensbaustein: Gender Care Gap

Der Unterschied zwischen der von Frauen und Männern geleisteten Care-Arbeit wird als Gender Care Cap bezeichnet. So werden gesellschaftlich notwendige Care-Aufgaben sowohl im privaten (unbezahlten) als auch im professionellen (bezahlten) Bereich wie der Sozialen Arbeit nach wie vor überwiegend von Frauen verantwortet und geleistet. Im familiären Kontext übernehmen sie noch immer den weitaus größeren Teil der Care-Arbeit. Dies gilt insbesondere für die Zeit, bis ein Kind drei Jahre alt ist (Bücker 2020, S. 7). Zwar steigt die Erwerbsbeteiligung von Frauen seit Jahren an, aber das insgesamt von ihnen geleistete Arbeitszeitvolumen im Bereich der Erwerbsarbeit stagniert. Dies bedeutet, dass eine Umverteilung von Erwerbsarbeit vor allem unter Frauen stattfindet. Diese sind überwiegend in Teilzeit beschäftigt und leisten darüber hinaus weiterhin deutlich mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer, welche somit freier von Care-Arbeit und damit freier für Erwerbsarbeit sind. Zudem sind Frauen häufiger in prekären und atypischen Verhältnissen beschäftigt. Der Gender Care-Gap ist somit eng mit dem Gender Pay Gap (Einkommenslücke) und dem Gender Pension Gap (Rentenlücke) verwoben (Scheele 2019, S. 758 f.; Gärtner/Scambor 2020, S. 22). Dieser Umstand wird beispielsweise daran deutlich, dass Frauen pro Arbeitsstunde rund 21 % weniger verdienen als Männer. Die Rentenlücke beträgt (bezogen auf das Jahr 2015) sogar 53 % (WSI 2020, S. 20). Diese Lücken korrelieren offenkundig mit dem Gender Care Gap: „Laut Mikrozensus 2016 steigen knapp 30 % der Mütter dauerhaft aus einem bezahlten Beruf aus. (…) In den Familien, in denen beide Partner*innen einem Beruf nachgehen, arbeiten in 70 % der Konstellationen die Mütter in Teilzeit und die Väter in Vollzeit. Dass beide Elternteile in Teilzeit-Jobs arbeiten, ist nach wie vor eine Rarität: Gerade einmal drei Prozent der Paare wählen diese Option.“ (Bücker 2020, S. 7).

Die skizzierten Ungleichheitsverhältnisse verweisen auf die Notwendigkeit, Care und die gesellschaftliche Verteilung von Care-Aufgaben kritisch zu hinterfragen, neu zu denken und zu bewerten.

4 Perspektiven

Der Care-Mix einer Gesellschaft wird durch wohlfahrtsstaatliche Politiken ebenso beeinflusst wie durch Wertorientierungen, gesellschaftliche Leitbilder und Diskurse, an denen sich Menschen orientieren. Die Übernahme von Care-Aufgaben ist dabei eng mit der Gestaltung von Geschlechterverhältnissen verbunden. Wenn „Care als Herzstück des Sozialen“ (Brückner 2022, S. 103) weiter gedacht wird und neben Fürsorge auch Selbstsorge und die Sorge um die planetaren Lebensgrundlagen in den Blick genommen werden, stellen sich grundlegende gesellschaftliche Fragen. Brückner (2022) verweist vor diesem Hintergrund auf die Notwendigkeit eines sozial gerechteren Welfare-Mix, in dessen Rahmen eine Kultur des Sorgens etabliert wird. Zentrale Care-Aufgaben müssten von öffentlichen Institutionen übernommen werden, zugleich aber auch Frauen und Männer durch neue Arbeitszeitmodelle in die Lage versetzt werden, Care im privaten Kontext und im Rahmen zivilgesellschaftlichen Engagements zu realisieren. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei der Etablierung und Dursetzung sozialer Bürgerrechte für alle Sorgeleistenden, insbesondere für die oftmals unter prekären Bedingungen in reichen Ländern sorgeleistenden Migrantinnen. Eine quantitativ und qualitativ gut ausgebaute öffentliche Daseinsvorsorge, in denen die Beschäftigten unter guten Bedingungen arbeiten, sind ebenso eine bedeutsame Säule eines solchen Care-Mix wie zivilgesellschaftliche Initiativen (S. 102 f.).

Beispiel: Caring Communities

Der zivilgesellschaftliche Sektor war lange keine relevante Größe für wohlfahrtsstaatliche Politiken und Perspektiven und spielt beispielsweise auch in den Überlegungen von Esping-Andersen keine wesentliche Rolle. Welches Potenzial hier jedoch liegt, macht das Beispiel lokaler Verantwortungs- und Sorgestrukturen deutlich, welche als Caring Communities bezeichnet werden. Hier geht es darum, jenseits von familialen Verpflichtungen Sorgebeziehungen und -netzwerke in lokalen Gemeinwesen zu etablieren. Diese sind häufig auf Zeit angelegt und bieten einen Ansatzpunkt, um Care-Aufgaben unabhängig von traditionellen Geschlechterzuweisungen neu zu verteilen. Die Ausgestaltung der „sorgenden Gemeinde“ kann dabei sehr unterschiedlich sein und Projekte wie Mehr-Generationen-Häuser, Gemeinschaftsgärten, Betreuungsnetzwerke oder nachbarschaftliche Unterstützungsmodelle („Wohnverwandtschaften“) umfassen. Caring Community-Ansätze spielen in der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit eine bedeutende Rolle (Thiessen 2019, S. 91).

Um einen neuen Care-Mix zu etablieren und damit Care insgesamt einen anderen Stellenwert zu geben, braucht es auch einen anderen Umgang mit Zeit. Wohlfahrtsstaatliche Politik mit dem Ziel, Care auf unterschiedlichen Ebenen in ein neues Verhältnis zu setzen und zu gestalten, ist somit vor allem auch Zeitpolitik. Wer wie viel Zeit für welche Form von Arbeit und unter welchen Bedingungen zur Verfügung hat, ist eine zentrale Machtfrage, die erheblichen Einfluss auf Geschlechterverhältnisse hat (Bücker 2020, S. 8 f.) Diese Erkenntnis bewog Nancy Fraser bereits in den 1990er Jahren ein „Modell der universellen Betreuungsarbeit“ vorzuschlagen, welches durch eine allgemeine Verkürzung der Wochenarbeitszeit Frauen und Männer gleichberechtigt in die Lage versetzen soll, sowohl am Erwerbsleben wie am zivilgesellschaftlichen Leben teilzunehmen und Sorgearbeit zu leisten (Fraser 1996, zitiert nach Scheele 2019, S. 760). Ob und in welchem Ausmaß Care in diesem Sinne neu gedacht werden kann, ist eine offene Frage und Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte in einem Feld, in welchem widerstreitende politische und ökonomische Interessen aufeinanderstoßen.

Fazit

Wohlfahrtsstaatliche Politiken und Strukturen können sowohl (re-)traditionalisierende als auch modernisierende Effekte auf Geschlechterverhältnisse haben. Wie Care-Arbeit in einer Gesellschaft verstanden, bewertet und organisiert wird, ist dabei von zentraler Bedeutung, da diese bislang überwiegend von Frauen geleistet wird. Durch Sozialpolitik wird ein Rahmen für den Care-Mix, also die Verteilung von Care-Aufgaben zwischen Staat, Markt, Familie und Zivilgesellschaft, gesetzt. Je nach Ausgestaltung der Politik kann dieses Verhältnis verschoben, verändert und auch qualitativ beeinflusst werden. Ein Care-Mix, der stärker auf soziale und Geschlechtergerechtigkeit fokussiert, setzt entsprechende wohlfahrtsstaatliche Arrangements voraus. Ein anderer Umgang mit Zeit ist hierbei Voraussetzung für erweiterte sozial-ökologische Care-Perspektiven, welche neben Selbst- und Fürsorge auch das Engagement für den Erhalt von ökologischen Systemen und Lebensgrundlagen umfassen und die verschiedenen Dimensionen in ihrer Aufeinanderbezogenheit anerkennen.

Für die Soziale Arbeit ist die Beschäftigung mit derlei Fragen in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: als professionelle Care-Arbeit ist sie ebenso wie ihre Adressat*innen in wohlfahrtsstaatliche Strukturen eingebunden und in ihren Möglichkeiten und Perspektiven von den damit verbundenen Begrenzungen betroffen. Vor diesem Hintergrund kann sie an der Erweiterung von Spielräumen für sich und ihre Adressat*innen arbeiten, etwa durch das Mitwirken an neuen Care-Arrangements jenseits traditioneller Geschlechtszuschreibungen. Genauso kann sie aber auch selbst Geschlechterverhältnisse reproduzieren und Gestaltungsmöglichkeiten von Menschen einschränken. In jedem Fall bleibt sie in den gesellschaftlichen Verhältnissen verstrickt, weshalb eine kritische Reflexion dieser und der eigenen Rolle eine zentrale professionelle Kompetenz darstellt.

Reflexionsfragen

  1. 1.

    Welche Arrangements der Aufteilung von Erwerbsarbeit und Care-Arbeit erleben Sie in ihrem Alltag, beispielsweise im Familien- und Freundeskreis? Welche Rolle spielen (sozial-) politische Programme und Leistungen für die gelebte Aufteilung?

  2. 2.

    Es wurde ein kultureller Widerspruch zwischen der Gleichstellung der Geschlechter auf der Grundlage von Erwerbsarbeit und der (für einen gewissen Zeitraum) positiv bewerteten Betreuung von Kindern zuhause beschrieben. Können Sie diese Einschätzung nachvollziehen? Welche Ihrer Alltagsbeobachtungen und -erfahrungen stützt diese These? Welche Konflikte resultieren womöglich aus diesem Widerspruch?

  3. 3.

    Ein Gedankenexperiment: einmal angenommen, die reguläre wöchentliche Arbeitszeit würde verkürzt und nur noch 25 oder 30 h bei einer Vollzeitbeschäftigung umfassen. Wie würden Sie die gewonnene Zeit nutzen? Inwiefern würden Sie Care Aufgaben (für sich, für andere, für die Gesellschaft und den Planeten…) neu oder anders in Ihr Leben integrieren?