Der Vorleser

Redaktionskritik

Haut wie Alabaster, Augen wie ein tiefer Bergsee: Jeder Mann kann sofort verstehen, dass der fünfzehnjährige Michael (David Kross) der sinnlichen Hanna (Kate Winslet) verfällt. Ihre heimliche Liebe im prüden Nachkriegsdeutschland ist für den Jungen wie eine Offenbarung. Regelmäßig besucht er die Mittdreißigerin in ihrer kargen Wohnung, wo sie ihn erst in die Badewanne steckt und dann nach allen Regeln der Kunst verführt. In den Erholungspausen lässt sie sich von ihm etwas vorlesen – schöner kann eine Affäre nicht sein. Doch dann ist Hanna plötzlich verschwunden. Erst Jahre später sieht Michael sie wieder. Als Jurastudent verfolgt er eine Gerichtsverhandlung gegen ehemalige KZ-Aufseherinnen, die Hauptangeklagte ist Hanna. Sie soll erklären, warum sie mehr als 300 Menschen in den Tod geschickt hat. Während der Verhandlung verweigert sie eine Schriftprobe, weil sie nicht zugeben will, dass sie Analphabetin ist. Stattdessen akzeptiert sie schnell das Urteil von zwanzig Jahren Gefängnis ohne weitere Argumentation. Wie Michael, der nach wie vor an seiner Jugendliebe hängt, steht man auch als Zuschauer unter Schock: Diese begehrenswerte Frau ist eine Massenmörderin? War die Täterin nicht auch Opfer der Umstände im Naziregime? Und würde das ihre Grausamkeit relativieren? Regisseur Stephen Daldry tut vermutlich das einzig Richtige: Er moralisiert nicht, sondern konzentriert sich auf die (Liebes-)Geschichte, die wie sein Meisterwerk „The Hours“ auf drei Zeitebenen spielt. Dabei reflektiert er den Naziterror in der Zerrissenheit seiner Hauptfigur Hanna, bewundernswert gespielt von Kate Winslet. So wird sein Film zu einer verstörend faszinierenden Erfahrung.