THOMAS MANN, DER KLEINE HERR FRIEDEMANN
Walter Schönau
Vortrag Psychoanalytisches Institut Berlin, 16.11.1998, Neufassung Vortrag Oldenburg
9.2.1999
Ein literarischer Tod
Von den frühen Geschichten bis zu den letzten Romanen steht Thomas Manns Werk im
Zeichen des Todes, der Todesfurcht und der Todessehnsucht. Das erste veröffentlichte
Jugendgedicht des Autors, der meinte, "es würde wohl schwerlich gedichtet werden auf Erden
ohne den Tod", hieß "Dichters Tod" (Wysling/Schmidlin 1994, 61). Manns Weltanschauung
steht bekanntlich im Zeichen des "Dreigestirns" Schopenhauer, Nietzsche und Wagner. Die
Lehrschule, welche die Lektüre der beiden Philosophen des 19. Jahrhunderts für den jungen
Thomas Mann bedeutete, war in erster Linie eine Einführung in das Denken über den Tod.
Von Schopenhauer lernten er und sein alter ego Thomas Buddenbrook, daß der Tod eine
Erlösung aus dem Wahn des principium individuationis bedeutet. Der Tod sei nicht nur
Befreiung vom Leben und also vom Leiden, sondern auch Rückkehr in den Urgrund, der sich
in immer wieder neuen Individuationen reproduziert. In Wagners Opern genoß er, wenn auch
nie ohne inneren Vorbehalt und ambivalente Skepsis, die Romantisierung dieser Todesmetaphysik, die er in seinem eigenen Werk, zum Beispiel in der Novelle Tristan, thematisierte und
zugleich ironisierte. Von Nietzsche lernte er, nicht im Pessimismus und in der Lebensverneinung zu verweilen, sondern diese Einsichten in seinem literarischen Oeuvre zu verarbeiten,
indem er zwar an der Antinomie von Wille und Vorstellung festhielt, aber in der literarischen
Ironie eine Form impliziter Lebensbejahung schuf (vgl. Kristiansen 1990).
Die erste künstlerische Verarbeitung der Grundgedanken beider Philosophen finden wir
in den sechs Erzählungen der Sammlung, die vor einem Jahrhundert, im Jahre 1898, unter
dem Titel Der kleine Herr Friedemann als Buch publiziert wurde. Er war damals 23 Jahre alt.
Es war sein erstes Buch und es bewirkte seinen Durchbruch in die Welt der Literatur. Über
den Fortschritt in der Beherrschung des literarischen Handwerks, den er gemacht hatte, war er
sich im klaren. In einem Brief an den Jugendfreund Otto Grautoff vom 6. April 1897 schrieb
er aus Rom, mit dieser Novelle, der Titelgeschichte der Sammlung, habe er "die diskreten
Formen und Masken" gefunden, in denen er nun mit seinen Erfahrungen "unter die Leute gehen" konnte (Briefe an Grautoff 1975, 90).
Die traurige Geschichte des kleinen Herrn Friedemann, deren Handlungsverlauf vom
Autor selbst und von den Kennern seines Werkes als ein Modell für die weiteren Werke
erkannt wurde (vgl. Heftrich 1982, 15), handelt wie die unmittelbar sich anschließende, die
kurz und bündig Der Tod heißt, von Friedemanns Tod. Vom ersten Satz an wird uns eine
Lebensgeschichte erzählt, die nur fatal enden kann. Der Erzähler bereitet uns langsam auf das
tragische Ende dieses Lebenslaufs vor, ein Ende, das die aufgestaute Spannung in einer erschütternden Schlußszene gipfeln und sich lösen läßt. Das ganze Geschehen, in 15 kurzen
Kapiteln dargestellt, wird — so scheint es — um dieses katastrophalen Schlusses willen erzählt. Gerhard Kluge (1967) hat darauf hingewiesen, daß diese Novelle, ähnlich wie übrigens
Hauptmanns in derselben Zeit entstandene novellistische Studie Bahnwärter Thiel, geschrieben scheint, um den Leser verstehen zu lassen, wie es zu diesem tragischen Tod kommen
1
konnte. In beiden Novellen ist, wie in einer kriminalistischen oder psychiatrischen Fallgeschichte, das Erzählen in erster Linie ätiologisch motiviert.
Die Hauptperson in Manns Novelle, Johannes Friedemann, ist als Säugling durch die
Unachtsamkeit einer trunksüchtigen Amme vom Wickeltisch gefallen und hat dadurch einen
Buckel bekommen. Er wächst in einer norddeutschen Provinzstadt, deren Topographie offensichtlich diejenige Lübecks ist, auf mit seinen drei Schwestern, die unverheiratet bleiben, und
mit seiner Mutter, die stirbt, als er 21 Jahre alt ist. Sein Vater war schon kurz nach seiner Geburt gestorben. Mit 16 Jahren verliebt er sich in ein Mädchen. Als er einmal zufällig sieht, wie
sie einen anderen Jungen küßt, sieht er ein, daß ihm ein Leben ohne Liebe und Erotik beschieden ist: "Er verzichtete, verzichtete auf immer" (VIII, 80). Er tritt als Kaufmann in ein Holzgeschäft ein und führt das ruhige Dasein eines Menschen, der sich ein biedermeierliches
Glück im Winkel erobert hat und in der Kunst, in Musik, Theater und Dichtung eine Kompensation gefunden zu haben meint für dasjenige, was ihm durch seinen verwachsenen Körper
vorenthalten bleibt. Sein Selbstbild ist das eines Epikureers. An seinem 30. Geburtstag (im
Juni, wie demjenigen Thomas Manns, und in einem Alter, in dem die Krise des Helden sich in
vielen Romanen manifestiert1) sehen wir ihn mit seinen Schwestern im Garten, in der Erwartung, daß er sich seinen durch Resignation erworbenen Seelenfrieden für den Rest seines Lebens behalten kann. Friedemann hofft zuversichtlich, ein Mann des Friedens bleiben zu können, aber sein Leben wäre nicht erzählenswert, wenn sich diese Hoffnung nicht als Illusion erweisen würde.
Der Frieden wird gestört durch die Ankunft des Ehepaars von Rinnlingen, von dem die
Frau, Gerda, durch ihre äußere Erscheinung, ihre maskulinen Züge und durch ihr emanzipiertunkonventionelles Verhalten einiges Aufsehen sowohl bei den Frauen wie bei den Männern
des Städtchens erregt. Wenn sie erfährt, daß Friedemann Violine spielt, lädt sie ihn ein, zusammen mit ihr zu musizieren2 und deutet an, daß sie sich als eine Seelenverwandte von ihm
betrachtet: "Auch ich bin viel krank", gesteht sie, "aber niemand merkt es. Ich bin nervös und
kenne die merkwürdigsten Zustände" (VIII, 95).
Friedemann verliebt sich hoffnungslos in diese Frau und ist ihr schon ganz verfallen, als
er bei einer Aufführung von Wagners Lohengrin zufällig neben ihr gesessen hat und von ihrem betörenden Duft bezaubert worden ist. Vergeblich versucht er sich gegen diesen heftigen
Gefühlssturm zu wehren. Während eines Empfangs im Hause der Rinnlingens für die Honoratioren der Stadt und ihre Damen lädt Gerda Johannes Friedemann zu einem Spaziergang
durch ihren Garten ein, der am Fluß liegt. Auf einer Sitzbank mit Blick auf das Wasser fragt
sie ihn recht unvermittelt, seit wann er sein Gebrechen habe und ob er sich denn glücklich
fühle. Er gesteht ihr in dieser Stunde der wahren Empfindung, daß sein Versuch, ein bescheidenes Glück in einem zurückgezogenen, der Kunst gewidmeten Dasein zu finden, "Lüge und
Einbildung" (VIII, 104) war. Wieder gibt sie sich als eine verständnisvolle Leidensgenossin
zu erkennen: "Ich verstehe mich ein wenig auf das Unglück". Als er ihr dann stammelnd seine
1
Vgl. Theodore Ziolkowski: `Der Roman des Dreißigjährigen'. In: T.Z.: Strukturen des
modernen Romans. Deutsche Beispiele und europäische Zusammenhänge. München: List
1972, 225-248.
2
Das gemeinsame Musizieren hat bei Thomas Mann fast immer eine erotische
Nebenbedeutung. Es ist ein zentrales Motiv in Tristan, spielt aber auch eine wichtige Rolle in
Buddenbrooks.
1
Liebe erklären will und vor ihr niederkniet,3 schleudert sie ihn plötzlich mit einem verächtlichen Lachen von sich und geht weg. Er ist zu Boden gefallen; nachdem er sich kurz aufgerichtet hat, fällt er wieder hin, schiebt sich auf dem Bauch ins Wasser und bewegt sich nicht
mehr. Die Grillen sind für einen Augenblick verstummt, dann "setzte ihr Zirpen wieder ein,
der Park rauschte leise auf, und durch die lange Allee herunter klang gedämpftes Lachen"
(VIII, 105).
Der 'gute' und der 'häßliche' Tod
Wie Gustav von Aschenbachs Tod in Venedig ist Friedemanns Tod in Lübeck zunächst einmal schockierend. Sein Zusammenbruch und seine Entwürdigung durch den Verlust der Contenance kontrastieren scharf mit der Kultur der Selbstbeherrschung und der gepflegten Sitten,
in der sich die Geschichte abspielt. Der Schockeffekt bekommt durch seinen Stellenwert, am
Ende des Textes, noch zusätzlichen Nachdruck. Kein Epilog mildert diese Erschütterung.
Nicht nur Gerda lacht Friedemann aus und entlarvt damit die von ihr gezeigte Sympathie mit
dem verwachsenen Freund als Eigennutz oder als Machtwillen. Das gedämpfte Lachen der
Gäste weckt den Eindruck, als ob 'man' über den Toten und sein grausames Lebensende lachen würde. Es erinnert an Manns eigene Definition seines Lieblingsthemas, des sein Werk
charakterisierenden Phantasmas: die Heimsuchung des apollinischen Menschen durch die
vital-destruktiven Mächte der dionysischen Leidenschaft, die blinden Mächte "des den treuen
Kunstbau lachend hinfegenden Lebens" (XIII, 135). Das "Grundmotiv" der Heimsuchung: das
ist in Schopenhauers Begriffen die Korrektur des Irrtums, die Welt sei nur Vorstellung, durch
den Willen, und in Nietzsches Begriffen der Triumph des Dionysischen über das Apollinische. Es scheint, als wolle der Autor sein Publikum mit diesem peinlichen Schluß brüskieren,
nicht anders als beim Schluß von Tobias Mindernickel mit dem Tod des Hündchens, beim
Schluß von Tristan mit dem Tod der Gabriele und dem herausfordernden Lachen des Säuglings oder von Luischen mit dem lächerlichen und beschämenden Tod des Anwalts Jacoby,
der im rotseidenen Babykleid als Chanteuse verkleidet auf der Bühne stirbt. Die Begegnung
mit Eros-Thanatos bringt den Figuren Thomas Manns die äußerste Beschämung, den endgültigen Verlust der Würde, eine unüberwindliche Kränkung des Selbstgefühls. Das Dionysische
ist vor allem zerstörerisch, das Sterben banal und beschämend.
Solch ein häßlicher Tod kam in der Literatur um 1900 häufiger vor, wie Philippe Ariès
(1980), Thomas Anz (1983) und Joachim Pfeiffer (1997) mit vielen Beispielen deutlich gemacht haben. Dieses damals relativ neue Motiv war ohne Zweifel ein Symptom des Krisenbewußtseins der Jahrhundertwende. Die neuzeitliche Geschichte des literarischen Diskurses
über den Tod ließe sich so zusammenfassen, daß man sich zur Zeit der Aufklärung und der
Klassik von dem religiös motivierten memento mori des Barock distanzierte und, vor allem in
der Nachfolge von Lessing und seiner Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet (1769),
den Tod vorzugsweise nicht mehr furchterregend — also als Gerippe mit Sense und Stundenglas — , sondern als einen Jüngling, der seine Fackel senkt, vorstellte. Diese beruhigende
Personifikation weist übrigens wohl nicht auf ein Nachlassen der Todesfurcht, sondern gerade
auf ihr Anwachsen, wahrscheinlich motiviert durch den Verlust der Glaubenssicherheit
infolge der fortschreitenden Rationalisierung. Der schöne oder gute Tod, wie dieser in der
3
Auch Spinell sinkt in ähnlicher Weise vor Gabriele Klöterjahn in die Knie nach dem
Spielen von Tristans Liebestod.
1
Dichtung des vorigen Jahrhunderts oft beschrieben wird, ist also eine kontrafobische Vorstellung, welche im Fin de siècle zunehmend der Kritik unterworfen wird.4 Wir sehen in der
Dichtung von damals oft eine Kontrastierung des 'guten', harmonischen, sinnvollen, trostreichen Todes mit dem 'schlechten', banalen, sinnlosen oder häßlichen Tod. Die Buddenbrooks
(1901) illustrieren diese fortschreitende Desillusionierung und Problematisierung des Lebensendes in der Folge der zahlreichen Sterbeszenen. Schnitzlers Novelle Sterben (1894), BeerHofmanns Roman Der Tod Georgs (1900), Rilkes Roman Malte Laurids Brigge (1910) und
Benns Gedichtzyklus Morgue (1912) sind ebenso viele Beispiele dafür, wie die modernistische Entzauberung des Sterbens in der Dichtung Gestalt annimmt.
Thomas Mann steht in dieser Hinsicht also nicht allein, scheint eher typisch zu sein für
seine Epoche und wie diese "den Tod gebildet" hat. Das Bild des kleinen Buckligen, der sich
auf dem Bauch liegend ins Wasser schiebt, provoziert den gebildeten Leser aber noch auf
ganz andere Weise.
Intertextuelle Aspekte
Im 9. Kapitel der Geschichte wird erzählt, wie Friedemann im Theater eine Aufführung von
Wagners Lohengrin (1847) besucht. Das Schicksal gibt ihm einen Sitzplatz in Loge Nr. 13
neben Gerda von Rinnlingen. Sie läßt ihren Fächer fallen, was wohl als eine Fehlleistung zu
deuten ist und also eine unbewußte Absicht verrät, beide bücken sich gleichzeitig um ihn aufzuheben. Friedemann ist einen Augenblick ganz in ihrem Dunstkreis, was ihm fast den Atem
benimmt. Er flieht aus dem Theater, noch ehe die Oper zu Ende ist (VIII, 89). Es kann kein
Zufall sein, daß an diesem Abend Lohengrin auf dem Spielplan steht, die Lieblingsoper von
Thomas Mann. In der Forschungsliteratur hat man mit Recht darauf hingewiesen, daß die
Friedemann-Novelle die erste einer ganzen Reihe ist, in denen Mann, nach einem Vorschlag
von Nietzsche, die Mythen von Wagners Opern in ein zeitgenössisches bürgerliches Milieu
transponierte: "Nichts unterhaltender", so Nietzsche, "als sich Wagnern in verjüngten Proportionen zu erzählen" (zit. nach Northcote-Bade 1975, 10). Genau das geschieht ganz explizit in
Tristan und in Wälsungenblut. Ist unsere Geschichte schon ein erster Versuch in der Reihe der
Wagner-Parodien?
In den Interpretationen der Novelle, welche die Lohengrin-Sage als eine Art Präfiguration betrachten, wird versucht plausibel zu machen, daß die Handlung und die Figuren des
Schwanritter-Stoffes Modelle für die Geschichte des kleinen Buckligen waren. Am weitesten
geht darin James Northcote-Bade (1975), der zahlreiche Parallelen und Analogien, auch in
Wortwahl und Formulierungen, aufzählt, die aber nicht alle gleich überzeugend sind. Vor
allem seine These, daß Lohengrin von Gerda und Elsa von Brabant von Friedemann repräsentiert werden, befremdet und scheint recht gezwungen. Um daraufhin aber, wie Vaget
(1975/1984, 113) und Heftrich (1982, 15) es tun, die Möglichkeit einer intertextuellen Beziehung zwischen beiden Werken überhaupt nicht mehr in Betracht zu ziehen, geht mir aber
4
Die geräuschlose und unauffällige Art und Weise, mit der in Tristan und in Der
Zauberberg die gestorbenen Kranken in der Nacht aus dem Sanatorium entfernt werden,
illustriert die Neigung zur Verdrängung der Todesangst und kritisiert sie zugleich implizit.
Katja Grote sieht in der Dichtung um 1900, in Übereinstimmung mit Anz und Pfeiffer, eine
Zunahme der Todesthematik und eine stärkere Problematisierung des Sterbens (Grote 1996,
14).
1
auch wieder zu weit. Das für den Lohengrin-Stoff konstitutive Motiv des Frageverbots - Elsa
darf nie nach der Herkunft von Lohengrin fragen, sie verletzt das Gebot, worauf der Ritter mit
dem Schwan sie verlassen muß - , dieses zentrale Motiv spiegelt sich meines Erachtens ganz
deutlich in der Schlußszene unserer Erzählung, wenn auch, wie üblich bei Mann, als eine parodistische Kontrafaktur der mythischen Vorlage. Gerda stellt Herrn Friedemann ja ganz direkt die Frage nach der Herkunft seines Gebrechens. Damit zwingt sie ihn zum Eingestehen
seiner Lebenslüge, worauf der zarte Bau seines auf Ersatzbefriedigung gegründeten Daseins
völlig zusammenbricht. Die versteckte Analogie ist phantasmatischer Art: Wie sein geheimes
Rollenmodell Lohengrin, der Sohn des Parzifal, mit dem er sich als Theaterliebhaber in seinen
Tagträumen kompensatorisch identifiziert haben mag, muß er nach Elsas = Gerdas Übertretung des Frageverbots seine Geliebte verlassen, indem er ins Wasser geht, allerdings ohne daß
der legendarische Schwan ihn abholt. Die Lohengrin-Rolle als eine kompensatorische Größenphantasie des kleinen Verwachsenen, zwingt ihn gleichsam zum Tod im Wasser. Daß
Friedemann der Schwanritter 'ist', erscheint nicht weniger ironisch und burlesk als daß Detlev
Spinell Tristan 'ist' oder die Magistratsrätin Spatz die Brangäne darstellt.
Die Lohengrin-Sage ist übrigens ein typisches Beispiel einer männlichen ödipalen Rettungsphantasie, wie Freud sie beschrieben hat (GW VIII, 70). Die Liebeswahl nach diesem
Muster setzt voraus, daß die Frau schon gebunden, ihr Mann der geschädigte Dritte ist und in
den Augen des edlen Retters ihren Bedränger darstellt. Der Gralritter rettet die edle Elsa, die
von Telramund belästigt wird. Diese Dreieckskonstellation scheint sich auf den ersten Blick
in den Beziehungen zwischen Gerda, ihrem Ehemann und Friedemann nicht zu wiederholen.
Aber — warum lehnt Gerda ihren Mann so demonstrativ ab? Weshalb behandelt sie ihn so
kühl von oben herab? Wenn dieses Verhalten Friedemann nicht entgangen ist, so könnte es
die Phantasie mitveranlaßt haben: 'ich werde diese Frau aus den Händen ihres Verfolgers retten'. Gerda suggeriert in ihren Worten und Blicken, daß sie ihren Mann verachtet und scheint
auf der Suche nach einem Vertrauten, der sie und ihre "nervösen Zustände" versteht. Wenn
das Drama, das sich zwischen Gerda und Johannes abspielt, tatsächlich mythisch präfiguriert
ist, macht dies das tragische Ende unvermeidlich, weil beide "in Spuren gehen". Friedemann
ist sich jedenfalls früh des Schicksalszwangs bewußt: "sie mußte kommen" (VIII, 99), heißt
es. In den meisten Interpretationen wird denn auch mit Recht konstatiert, daß er nicht an ihr
zugrunde geht, sondern an ihm selbst, weil er — so könnte man jetzt hinzufügen — in seiner
unbewußten Phantasie in Lohengrins Spuren geht. Bei aller entzaubernden Banalisierung, die
hier dem romantischen Vorbild zuteil wird, weisen beide Texte doch genügend Analogien
auf, um tatsächlich von einer ersten Wagner-Travestie sprechen zu können, welche die explizite und kunstvollere der Tristan-Novelle schon ankündigt.
Aber der kleine Herr Friedemann hat nicht nur ein mythisches, sondern auch ein literarisches Vorbild. Daß er nämlich auch die Kontrafaktur einer Figur aus Fontanes Roman Effi
Briest (1895) darstellt, hat Hans Rudolf Vaget nachgewiesen (1975). Der bucklige Apotheker
Alonzo Gieshübler, der kunstliebende, sympathische alternde Junggeselle, weiß seine Liebe
für die verheiratete Effi jedoch zu beherrschen und als galante Verehrung zu stilisieren. Das
körperliche Gebrechen der beiden Junggesellen ist das sichtbare Zeichen für die Unmöglichkeit der Liebe. Es paßt völlig zu der modernistischen Radikalisierung dieses Gefühlskonfliktes in der Nachfolge Nietzsches, daß Friedemann an seiner Liebesleidenschaft zugrunde geht,
während es Gieshübler noch vergönnt war, seine Gefühle für Effi in der Rolle des Hausfreundes zu sublimieren. Fontanes "heiteres Darüberstehen" wird nun als "Lüge und Einbildung"
durchschaut. Gieshübler weiß seinen Triebverzicht psychisch zu bewältigen, Friedemann
1
überschreitet in seiner "kraft- und willenlose[n] Hingabe" (VIII, 102) die Grenze zwischen
dem normalen und dem krankhaften Seelenleben. Nicht ohne Grund nannte Mann seine Geschichte einer Entsublimierung denn auch "eine gänzlich psychopathische Novelle" (zit. nach
Vaget 1984, 55), eine Bezeichnung, die für Tobias Mindernickel oder Luischen übrigens genauso passen würde. Das Psychopathische ist in allen drei Novellen sado-masochistischer Art.
Masochistisch ist Friedemann, weil zweimal von "wollüstige[m] Haß" die Rede ist (VIII, 91,
105), der auch als "ohnmächtige, süßlich peinigende Wut" (VIII, 96) erscheint, weil er denkt:
"Sie will mich quälen und verhöhnen!" (VIII, 94) und er sich von Gerda behandelt fühlt "wie
ein Hund" (VIII, 105).
Der literarisch-intertextuelle Charakter von Friedemanns Schicksal wird vielleicht noch
durch einen möglichen anderen Bezug verstärkt, der meines Wissens in der Thomas-MannForschung noch nicht erwähnt wurde. Im Jahre 1894, dem Jahr, in dem der Autor sich bereits
mit diesem Stoff beschäftigte, was in einer nicht veröffentlichten und verlorengegangenen
ersten Fassung mit dem Titel Der kleine Professor resultierte, fand die Uraufführung von
Ibsens Schauspiel Klein Eyolf statt. In diesem Stück sehen wir das Ehepaar Allmers mit dem
verwachsenen neunjährigen Sohn Eyolf, der seine Verkrüppelung einem Sturz vom Wickeltisch verdankt und der unter dem Einfluß einer dämonischen Frau, der Rattenmamsell, ertrinkt. Die mysteriöse hexenhafte Frau hat den Jungen eigentlich ins Wasser gelockt. Bei
Ibsen ist der verhängnisvolle Sturz des Säuglings nicht die Schuld einer Amme, sondern beider Eltern, die sich, von sexueller Begierde überfallen, der Liebe hingegeben und dabei das
Kind vergessen hatten.
Thomas Mann kannte das Oeuvre von Ibsen sehr gut. Als Student in München spielte er
in einer Liebhaberaufführung eine Rolle in der Wildente (Wysling/Schmidlin 1994, 75). Es ist
immerhin denkbar, daß er sich für das Motiv des fatalen Sturzes mit lebenslänglichen Folgen
von Klein Eyolf hat inspirieren lassen, weil auch das Lebensende der beiden Buckligen, die
beide ausdrücklich im Titel schon 'klein' genannt werden, ähnlich ist.
Thomas Mann beherrschte jedoch nicht nur die Kunst des beziehungsreichen Zitierens
und der literarischen Montage, er verfügte auch über die Fähigkeit, in den Handlungen seiner
Romane und Erzählungen archetypische Strukturen von Mythen, Märchen, Sagen oder Legenden zu variieren. Dies ist ein ganz anderes Formprinzip als die bewußte Entlehnung mit
der Funktion einer intertextuellen Verweisung. In welchem Ausmaß etwa die Märchen von
Andersen, die er schon früh als Kind kennenlernte, die Grundstruktur seiner Romane modelliert haben, ist kürzlich von Michael Maar nachgewiesen worden (1995). Ein anderes Beispiel
dieses Prinzips der archetypischen Modellierung ist Der Zauberberg als Roman der Gralssuche. In seiner Princetoner Vorrede zum Roman (1939) erwähnte Mann diese von einem
amerikanischen Germanisten vorgeschlagene Lesart und bemerkte dazu: "Hans Castorp als
Gralssucher - Sie werden das nicht gedacht haben, als Sie seine Geschichte lasen, und wenn
ich selbst es gedacht habe, so war es mehr und weniger als Denken."5 Das weist auf eine unbewußte Motivation hin.
Unbewußte Phantasien
Es ist also auch denkbar, daß die Motivanalogien zwischen Ibsens Theaterstück und Manns
5
Einführung in den Zauberberg für Studenten der Universität Princeton (1939), XI, 602617.
1
Geschichte nicht auf einer bewußten literarischen Entlehnung, sondern auf einer unbewußten
oder halbbewußten Phantasie beruhen, die beiden Werken zugrunde liegt, etwa folgenden Inhalts: 'man hat mich fallen lassen — ich bin dadurch fürs ganze Leben gezeichnet — ich räche
mich mit einem Tod im Wasser'. Die Selbsttötung im Wasser hat meist die unbewußte Bedeutung einer Rückkehr in den Mutterleib, ins weibliche Element. Es ist, als wolle man die Geburt rückgängig machen, ungeschehen machen. Friedemanns Körpersprache, wenn er nach
seinem Sturz auf dem Bauch liegen bleibt, ist sichtbarer Ausdruck dieser Regression.
Gerhard Kluges (1967) Ansicht, der Name Gerda von Rinnlingen sage nichts über ihr
Wesen aus, scheint mir denn auch anfechtbar. Kann es überhaupt nichtssagende Namen geben
in einem literarischen Werk? Gerdas Name ruft Assoziationen mit 'rinnen' hervor, mit dem
Strömen etwa des Flusses, an dem ihr Garten liegt und in dem Johannes Friedemann sein
Ende findet. Sie ist mit ihren Augen, "in denen sich der feuchte Schimmer des Wassers zu
spiegeln schien" (VIII, 104), den mythischen Wasserfrauen, den Undinen, Nixen, Sirenen,
Melusinen und Loreleys verwandt, die den Mann ins Verderben locken oder seine Todessehnsucht wecken. Wenigstens wird sie von Friedemann so erlebt. Denn eigentlich ist sie nicht kokett. Sie will ihn nicht verführen, sondern sie hofft bei ihm Verständnis für ihre Nervosität
(wir würden heute sagen: für ihre neurotischen Beschwerden) zu finden. Sie interessiert sich
für ihn, gerade weil sie von ihm Intimität ohne Erotik erwartet — und so beruht ihre Beziehung auf einem tragischen Mißverständnis, auf einer Fehleinschätzung der Bedürfnisse beider
Personen. Zur Verwirrung trägt auch die geschlechtliche Zweideutigkeit beider Gestalten bei.
Sie ist eher maskulin veranlagt. Ihr erstes Auftreten zeigt sie schon als Pferdelenkerin und mit
ihren Blicken fordert sie zum Machtkampf heraus. Er ist in seiner Passivität eher feminin zu
nennen.
Der amerikanische Germanist Parkes-Perret erwähnt in seiner Interpretation eine andere
Fassung dieses Phantasmas, wie Homer es erzählt: die Göttin Hera warf ihren verwachsenen
Sohn Hephaestus vom Olymp ins Meer um ihn loszuwerden, aber er wurde gerettet (ParkesPerret 1996, 294). Hier ist die negative Mutter-Imago als Bestandteil der Phantasie noch ganz
manifest. In unserer Novelle ist die Negativität der Mutter latent und auf die Amme verschoben. Bei Ibsen sagt Rita Allmers aber ganz explizit: "Mutter sein dem Kinde, dazu tauge ich
nun einmal nicht" und von ihrem Sohn Eyolf wünscht sie, "daß ich ihn nie geboren hätte"
(Ibsen 1895, 32). Friedemanns Mutter hatte kurz vor seiner Geburt ihren Mann verloren. Sie
wird als trauernde Witwe ihrem Sohn nicht das erwünschte Mindestmaß an Mutterliebe haben
geben können. In diesem Sinne hat sie ihn auch fallen lassen. Wenn wir die Schlüsselszenen
in Friedemanns Leben in ihrer unbewußten Bedeutung betrachten, so fällt ein merkwürdiges
Wiederholungsmuster auf. Die Amme, die Mutter, das Mädchen, in das er sich verliebt hatte,
und Gerda, alle lassen ihn fallen. Diese Kränkungen, von denen der Sturz vom Tisch die traumatische darstellt, müssen eine gewaltige narzißtische Wut verursacht haben, die unterdrückt
wird, aber an mehreren Stellen gegen Ende des Geschehens durchbricht. Für Friedemann bedeutet die brüske Ablehnung durch Gerda eine unerträgliche symbolische Wiederholung des
Ur-Traumas. Hinter der Amme steht das Bild der bösen Mutter, hinter dem Oberstleutnant das
des abwesenden Vaters, Gerda vertritt sowohl die gute wie die böse Mutter, daher die Haßliebe für sie.
Die apodiktische Erklärung "Die Amme hatte die Schuld", mit der die Erzählung, uns
gleichsam überrumpelnd, im Erzählaufbau eigentlich verfrüht, eine Schuldfrage eins für
allemal klären will, eine Schuldfrage, die wir noch gar nicht kennen, die aber offenbar strittig
ist, — ein solcher Satz ruft von selbst auch Zweifel hervor. Er lädt ungewollt zum Wider-
1
spruch ein. Der Satz weckt den Eindruck, als spreche der Erzähler hier im Namen einer Partei,
etwa Friedemanns oder seiner Familie, und als wolle er von vornherein einer Diskussion über
die Schuldfrage zuvorkommen. Der Bericht über das Unglück bietet dann doch genügend Informationen um dem Leser anzudeuten, daß die Mutter natürlich mitverantwortlich war, als
sie ihren Sohn der Obhut einer unzuverlässigen Trinkerin, die schon längst hätte entlassen
werden können, anvertraute. Auch Johannes muß dies später so empfunden, diese Empfindung jedoch verdrängt haben. Zu dem Leid, ohne Vater aufwachsen zu müssen, kommt das
Gefühl, auch von der Mutter im Stich gelassen worden zu sein. Die Wut darüber äußert sich
indirekt in der Art und Weise, wie er seine Trauer über ihren Tod kultiviert: "Er genoß ihn,
diesen Schmerz, er gab sich ihm hin, wie man sich einem großen Glück hingibt" (VIII, 81).
Auch seine heftigen Empfindungen für Gerda bestehen zum Teil aus "irrsinnige[r] Wut"
(VIII, 105), die wohl nicht nur aus ihren erniedrigenden Blicken, sondern auch aus viel älteren
Quellen gespeist wird. Die Kraft, die dieser schwächliche Mann braucht, um seinem Leben
ein Ende zu machen, steckt in der narzißtischen Wut, die Gerda entfesselt hat und die sich gegen ihn selbst wendet in dem Bedürfnis, "sich zu vernichten, sich in Stücke zu zerreißen, sich
auszulöschen..." (VIII, 105). Die Wut tritt in den Dienst seines früher gehegten Wunsches
"nach neutralem Nirwana" (Briefe an Grautoff 1975, 80), "hinunter in das stille Wasser zu
gehen, um nach einem kurzen Leiden befreit und hinübergerettet zu sein in die Ruhe" (VIII,
98).
Die Amme hatte die Schuld
Der Anfangssatz der Novelle, "Die Amme hatte die Schuld", hat es zu literarischem Ruhm
gebracht. Zum Gedenken an die Veröffentlichung dieser Geschichte vor hundert Jahren,
zunächst in der Neuen Deutschen Rundschau, ein Jahr später dann in der Buchausgabe im S.
Fischer Verlag, erschien 1997 ein Taschenbuch unter diesem Titel mit dem Untertitel "Ein
literarischer Staffellauf mit dem kleinen Herrn Friedemann". Es enthält, neben dem Text der
Erzählung, vier ihre Handlung variierende oder fortsetzende Geschichten, die wie bei einem
Staffellauf jeweils von vier oder fünf (überwiegend jungen) deutschen Schriftstellern geschrieben sind. Alle vier Geschichten fangen mit dem bewußten Satz an, entfernen sich dann
aber rasch von ihrer Vorlage. Leider muß man feststellen, daß viele Chancen einer treffenden
Parodie oder einer geistreichen Pastiche versäumt werden. Die Texte sind aber interessant als
Dokumente einer produktiven Rezeption, als Zeugnisse der Gegenübertragung auf das im
Text enthaltene Phantasiematerial. Das Weiterspinnen der Szenen einer Dichtung ist eigentlich eine ganz normale und übliche Form der literarischen Rezeption, die aber fast nie im
germanistischen Blickfeld erscheint. Dieses Buch gibt uns einen Einblick in solche Formen
des Weiterphantasierens als Fortsetzung der Lektüre. Dazu gehören etwa verschiedene Konjekturalbiographien der Gerda von Rinnlingen nach dem Tode Friedemanns, burleske Fortsetzungen, die Manns Text demselben parodistischen Verfahren unterwerfen, mit dem Thomas Mann die Wagneropern ironisierte. Oder statt Fortsetzungen werden Alternativ-Entwürfe
der Handlung ausgedacht.
So läßt Dieter Forte den armen Friedemann vom Gastgeber, Oberstleutnant von Rinnlingen, aus dem Wasser retten. Das Opfer schlägt, kaum wieder zum Bewußtsein gekommen,
seinen Retter kräftig mit einem Stock auf den Kopf, ruft laut, daß dessen Frau "sich ihm am
Fluß schamlos genähert" (170) habe und reist, durch den Schock plötzlich äußerst vital und
lebenslustig geworden, zusammen mit Gerda nach Hamburg, wo sie gemeinsam im Hafen-
1
viertel ein Bordell eröffnen...
Ulrich Woelk, ein anderer Teilnehmer am Staffellauf, gibt der Geschichte eine gleich
unerwartete Wendung und spricht beiläufig, unsere Deutung bestätigend, über "jene Dichtung, in der die Amme an allem die Schuld hatte und Gerda von Rinnlingen in gewissem Sinne nur die Vollenderin des fahrlässigen Ammenwerkes war" (179). Auch er läßt den Helden
nicht sterben: "wie Fußspuren belegten, war er irgendwann aufgestanden und einfach von
dannen gegangen" (183/4).
Das Fragment, das Robert Gernhardt beigetragen hat, ist in meinen Augen bei weitem
das gelungenste. Es ist das einzige, das wirkliche Kenntnisse von Manns Werk verrät und
souverän damit zu spielen weiß, das einzige auch, das Manns Prosastil überzeugend nachzuahmen versteht. Gernhardt unterzieht sich einer Aufgabe, die der Autor hat liegen lassen, der
Schilderung des Begräbnisses unseres Selbstmörders. Er beginnt seine Persiflage mit dem
Satz "Die Rinnlingen hatte die Schuld" (116), introduziert dann aber eine neue Figur, die als
einzige in der Stadt nichts von Gerdas Schuld wissen will und die Meinung vertritt, man könne genauso gut behaupten, 'das Leben' hätte die Schuld. Diese Figur, die "der junge Mann" (!)
genannt wird, besucht das Begräbnis, dessen Verlauf er sorgfältig beobachtet und in einem
Notizbuch unter der Überschrift "Trauerfeier Friedemann" dokumentiert. Alle Personen, die
die Trauerkapelle betreten und sich in das Kondolenzbuch eintragen, erweisen sich — für den
kundigen Leser — als Figuren aus den Erzählungen Thomas Manns. Wir erkennen Tobias
Mindernickel, Rechtsanwalt Jacoby, Gottlob Piepsam, Herrn Klöterjahn und viele andere wieder... Alle Besucher, die rechts Platz nehmen, gehören zu den kränkelnden, schwachen und
sensiblen Künstlertypen. Auf der linken Seite sitzen alle vitalen gesunden Menschen: "Hie
Bürger — hie Künstler, hie Gesunder, hie Kranker, hie Körper, hie Geist" (124), eine schöne
Verspottung der endlosen Dichotomien in Manns Werk, wie sie im Deutschunterricht zu Tode
geritten werden. Der junge Mann schleicht von dannen, wenn die Orgel zu spielen beginnt.
Genug erlebt, denkt er, "jetzt wird geschrieben!" (124) Und mit dem Gedanken, daß er aus
diesem Stoff mindestens zehn Novellen machen könne, geht er guter Laune zwischen den
Gräbern des Friedhofs hauswärts.
Mythische Aspekte
Aber nach diesem Abstecher nun zurück zu dem Text, der dieses Spiel veranlaßte. Wir hatten
uns der Meinung angeschlossen, daß die für Thomas Mann so kennzeichnende Verbindung
einer realistisch-naturalistischen Erzählweise mit einer latenten Mythisierung des Geschehens
auch unsere Geschichte schon bestimmt, hier also noch vor dem Tod in Venedig auftritt, wo
dieses Verfahren mit Meisterschaft angewandt wird (vgl. Werner Frizen 1980 und Ford B.
Parkes-Perret 1996). Die Argumente für diese These werden manchmal nicht nur in der Plausibilität einer mythologischen Deutung der Personen und der Handlung, sondern auch in dem
Nachweis möglicher Quellen, wie etwa der Mythologiebücher des jungen Thomas Mann gesucht. So wird zum Beispiel Gerda als Artemis (Frizen 1980, 58), als Helena (Heftrich 1982,
28), als Sphinx (Heftrich 1982, 39) oder als Aphrodite (Parkes-Perret 1996, 278) interpretiert.
Allein schon die Tatsache, daß es möglich erscheint, ein und dieselbe Figur auf so verschiedene Weisen, meist nur auf Grund einer Einzelheit, einer Eigenschaft, eines Attributs oder gar
nur einer Farbe mythisch zu deuten, gibt Anlaß zur Skepsis in bezug auf solche Versuche einer philologischen Begründung. Parkes-Perret hat die Dreieckskonstellation Oberstleutnant
von Rinnlingen, Gerda und Johannes Friedemann mit dem Mythus von Hephaestus, Aphro-
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dite und Ares in Beziehung gebracht (1996, 278). Außerdem glaubt er in Euripides' Hippolytos ein mythisches Textmodell gefunden zu haben, ohne die Möglichkeit, daß in beiden Texten eine sich immer wiederholende typische ödipale Dreiecksstruktur dargestellt ist, erwogen
zu haben. Es gibt doch toposhafte Kombinationen von Konfliktsituationen mit Personenkonstellationen in Mythus und Dichtung, ohne daß immer von gegenseitigem Einfluß die Rede zu
sein braucht und ohne die Notwendigkeit, sie auf eine bestimmte konkrete Quelle zurückführen zu müssen.
Narzißmus und latente Grandiosität
In unserer Geschichte können wir feststellen, daß durch die Lohengrin-Episode ein mythischer Bezug vom Autor selbst bewußt hergestellt worden ist. Wir haben zu deuten versucht,
welche Folgen diese Mythisierung für die Psychologie der Hauptperson hat. Wie beeinflußt
sie aber die Rezeption des Textes durch den Leser? Für meine Antwort darauf wende ich mich
zunächst zum Tod in Venedig, um dann auf unsere Geschichte zurückzukommen. Beide Texte
behandeln, in Manns eigenen Worten, "die Idee der Heimsuchung, des Einbruchs trunken zerstörender und vernichtender Mächte in ein gefaßtes und mit allen seinen Hoffnungen auf
Würde und ein bedingtes Glück der Fassung verschworenes Leben" (XIII, 136). Die konsequente Mythisierung aller Ereignisse, die zum Tode von Aschenbach führen, ebenso wie aller
Personen, denen er auf seiner Reise und in Venedig begegnet, setzt zwingend voraus, daß dieses ganze Geschehen von einer höheren Macht, eigentlich von den Göttern des Olymp, arrangiert und inszeniert wird. Außerdem bedeutet dieses Verfahren, daß - mit Ausnahme des Protagonisten - die Personen keine autonomen Figuren mit einem eigenen Existenzgrund sind,
sondern nur auftreten in ihrer Funktion für den Schicksalsweg der Hauptperson.6 Das mythische Substrat, das von Anfang an die ganze Handlung trägt, impliziert, daß die ganze Welt um
Aschenbach nur im Dienste der Aufgabe steht, seine letzten Tage zu gestalten und für sein
Lebensende eine passende Inszenierung zu bieten, kurzum daß alle Figuren und Ereignisse
nur dazu da sind, ihn nach einem vorgegebenen mythischen Muster auf seiner Reise ins Totenreich zu begleiten. Die Welt, die so entsteht, beherrscht ein literarisch evozierter virtueller
Beziehungswahn, in dem es keinen Zufall gibt und alles sich nur auf "Seine Majestät das Ich"
der Hauptperson bezieht, es ist eine magische Welt ohne Kontingenz. Dieses grandiose mythische Weltbild kontrastiert nun allerdings scharf mit den äußeren Umständen, unter denen
Aschenbach dem Tode verfällt. Mir scheint daher, daß das Mythisierungsverfahren eine heimliche Grandiosität voraussetzt und hervorruft und daß der Leser durch Identifizierung und
Empathie daran teilnimmt. Das Grandiose dieser göttlichen Inszenierung übt eine kompensatorische Funktion aus im Hinblick auf den naturalistisch beschriebenen Verlust der Würde
und des Anstands, der Aschenbachs Schicksal so peinlich macht. Der als Jüngling geschminkte alte Päderast im Strandkorb auf dem Lido ist ja zugleich der Götterliebling, der von Hermes
Psychopompos begleitet in den Orkus hinabfährt.
Dieses narzißtische Grandiositätsphantasma (nach dem Motto "Lebt man denn, wenn
andere leben?") muß dem Autor intim vertraut gewesen sein. Hans Wysling hat es eingehend
analysiert und auf seinen Zusammenhang mit der Welt des Märchens aufmerksam gemacht,
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In bezug auf Gerda hat Gerhard Kluge diese Funktionalisierung ausführlich behandelt, sei
es in einem anderen Rahmen, nämlich als Indiz für ihre allegorische Bedeutung als Repräsentantin des Lebens (1967, 504).
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das ebenfalls durch dieses 'egozentrische Denken' gekennzeichnet ist. Auch im Märchen stehen alle Ereignisse und alle Handlungsträger im Dienste des Helden und seiner Fahrt ins
Glück (Wysling 1982, 187). Diese noch nicht entzauberte magische Welt ohne Kontingenz
wird von Thomas Mann jedoch nicht naiv, wie im Märchen, quasi real dargestellt. Sie wird
nur durch Implikation suggeriert, sie ist nur im Substrat gegeben, allerlei Strategien des Erzählens lenken die Aufmerksamkeit auf anderes. Dennoch bietet diese partielle Regression in
den primären Narzißmus der Kindheit, bei Mann etwa auch verbunden mit dem Phantasma
des Sonntagskindes, des Götterlieblings, eine gewisse Lust, die sich dem Leser mitteilt und
vielleicht auch etwas zum dauernden Erfolg seines Werkes in breiten Kreisen beiträgt. In Felix Krull wird mit diesem magischen Narzißmus des Glückskinds gespielt und an einer Stelle,
wo man das nicht vermuten würde, bringt der Autor einmal diesen kindlichen Wahn, daß alles
um mich herum um meinentwillen geschieht, selbst zur Sprache. In seiner anekdotischen
Kurzgeschichte Das Eisenbahnunglück (1909) lesen wir in den Anfangszeilen:
Ich weiß ganz gut, daß der Nachtzug nach Dresden gewohnheitsmäßig jeden Abend
vom Münchener Hauptbahnhof abfährt und jeden Morgen in Dresden ist. Aber wenn ich
selber mitfahre und mein bedeutsames Schicksal mit dem seinen verbinde, so ist das
eben doch eine große Sache. Ich kann mich dann der Vorstellung nicht entschlagen, als
führe er einzig heute und meinetwegen, und dieser unvernünftige Irrtum hat natürlich
eine stille, tiefe Erregung zur Folge, [...]. (VIII, 416f.)
Die "stille, tiefe Erregung" ist vielleicht eng verwandt mit dem Gefühl "souveräner Getragenheit" (XI, 124), das Thomas Mann beim Schreiben des Tod in Venedig nach eigenem Sagen
erfuhr und das wohl auch viele Leser der Novelle bezaubert. Es ist die Erregung der virtuellen
Rückkehr in jene frühe Phase der psychischen Entwicklung, in der die kränkende Erfahrung
des Dezentriertseins uns noch nicht beunruhigt hat. Sie ist vielleicht eine der Lustquellen, die
das Medium Literatur gegen die fortschreitende Entzauberung der Welt im Lichte des Sekundärprozesses bereit hält.
In ähnlicher Weise, so scheint mir, erleben wir unbewußt auch die Geschichte von Friedemanns Tod, in der die Erregung sich auch im häufigen Motiv des Zitterns bekundet. Einerseits lesen wir die realistisch beschriebene Szene mit der Kränkung, dem Zu-Boden-Schleudern, dem Sturz und dem banal-unheroischen Selbstmord des kleinen Herrn. Durch die Mythisierung erleben wir andererseits aber auch eine unbewußte Phantasie, die eine Kompensation der Kränkung bedeutet. In der mythischen Spiegelwelt ist Friedemann der strahlende
tragische Held Lohengrin, der seine Geliebte Elsa verlassen muß. An ihm vollzieht sich ein
von einer höheren Schicksalsmacht verfügtes bedeutsames großartiges Schauspiel. So wie
Aschenbachs Tod am Ufer des Meeres das peinliche und beschämende Ende eines allgemein
bewunderten Schriftstellers bedeutet, zugleich aber eine mythische Szene evoziert, in der er
von keinem Geringeren als Hermes persönlich zum Totenreich geführt wird, so hat auch Friedemanns Tod, wenigstens im Ansatz, diese doppelte Bedeutung naturalistischer Peinlichkeit
und mythischer Größe.
Daß Thomas Mann selbst auch in dieser antinomischen Art und Weise über den Tod
dachte, bestätigt die kleine Novelle Der Tod (1897), die in derselben Sammlung aufgenommen und kurz nach unserer Novelle entstanden ist. Hierin lesen wir die Tagebuchnotizen
eines vierzigjährigen Witwers, der sich mit seiner 12 Jahre alten Tochter in einen dänischen
Küstenort zurückgezogen hat, um sich auf seinen Tod vorzubereiten, den er an einem ganz
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bestimmten Tag, dem 12. Oktober, erwartet. Die erzählerische Pointe der Geschichte besteht
nun darin, daß am Vorabend des erwarteten Todestages seine Tochter völlig unerwartet stirbt.
Der Vater fühlt sich für ihren Tod verantwortlich. Er hat ja den Tod zwanzig Jahre lang magisch herbeigezogen, so wie Faust den Erdgeist beschworen hat: "Du kannst mit deinem Willen und deiner Überzeugung an seiner Sphäre saugen, du kannst ihn herbeiziehen, [...]". Aber
das hintergründige Thema der Geschichte ist der Gegensatz zwischen dem grandiosen Tod,
auf den er gehofft hat ("ich denke ihn mir groß und schön und von einer wilden Majestät!"
[VIII, 74]) — und dem banalen Tod, den er fürchtet und von dem er geträumt hat: "So nüchtern, so langweilig, so bürgerlich!" (VIII, 75) In seinem Traum sagt der Tod zu ihm, wie ein
Zahnarzt: "Es ist am besten, wenn wir es gleich abmachen!" (VIII, 74, 76). Dieser banale Satz
enthält die kränkende Wahrheit über das Sterben, die er wird akzeptieren müssen.
Die Mythisierung von Aschenbachs und Friedemanns Tod rettet gleichsam die Vorstellung eines grandiosen Sterbens in einer vordergründig als banal gezeichneten Szene. Was in
der Geschichte Der Tod noch unverbunden nebeneinander steht, wird bei Friedemann in einer
Art Synthese zweier Schichten aufgenommen.
Man kann es sowohl mythologisch als psychologisch erklären, daß bei Thomas Mann
die Begegnung mit dem Eros von Friedemann bis zu der Betrogenen (mit Ausnahme von Felix Krull) auch die mit Thanatos bedeutete. Seit der Veröffentlichung der Tagebücher ist die
Ansicht ziemlich allgemein akzeptiert, daß seine verleugnete Homosexualität den tieferen
Grund der in seinem Werk immer vertretenen Überzeugung darstellte, daß die leidenschaftliche Liebe eine "Heimsuchung" sei. Die "Niederlage der Zivilisation", der "heulende Triumph der unterdrückten Triebwelt" (XIII, 136), von Freud als die Wiederkehr des Verdrängten beschrieben und als eine der Gesetzmäßigkeiten des psychischen Prozesses diagnostiziert,
von den Römern im Sprichwort Naturam expellas furca, tamen usque recurret metaphorisch
zusammengefaßt, war vielleicht auch deshalb Manns "Grundmotiv", weil für ihn, den respektierten Großschriftsteller und pater familias, der sich früh eine "Verfassung" gegeben hatte,
Verliebtheit nur homosexuelle Liebe bedeutete und deshalb in seinem subjektiven und historisch bedingten Erleben die Gefahr einer Degradierung mit sich brachte, wie sie Aschenbach
stellvertretend erfahren mußte. Friedemann ist — wie sein Name und die Lübecker Schauplätze andeuten — auch in dem Sinne ein alter ego, als dieser sich durch Willenskraft ein
falsches Selbst aufgebaut hat, das auf einer Verleugnung seines wahren Begehrens basiert.
Wie der Leistungsethiker Aschenbach sein Leben, das auf Selbstbeherrschung und
Askese gebaut war, von den Dämonen des Dionysischen zerstört sieht, so sieht der Epikureer
Friedemann sein Leben, das auf Resignation und bescheidenes Glück, auf das apollinische
Genießen der Kunst ausgerichtet war, den tödlichen Triebmächten von Eros-Thanatos ausgeliefert. Das apollinische Glück der Verselbstung wird dem größeren dionysischen Glück der
Entselbstung geopfert. Er eröffnet die Reihe der literarischen Doppelgänger, die der Autor auf
seinem Lebenswege als Opfer für den mächtigen Gott Dionysos zurückließ, um selbst als
apollinischer Künstler psychisch überleben zu können.
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1
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