Herbert Marcuse
Der eindimensionale Mensch
„Im Brennpunkt meiner Analyse stehen Tendenzen in
den höchstentwickelten gegenwärtigen Gesellschaften.
Es gibt weite Bereiche innerhalb und außerhalb dieser
Gesellschaften, wo die beschriebenen Tendenzen nicht
herrschen - ich würde sagen: noch nicht herrschen. Ich
entwerfe diese Tendenzen und biete einige Hypothesen,
nichts weiter“.
Marcuse entwirft einen lückenlosen Zusammenhang
von Manipulation und Konformismus, der das in sich
widerspruchsvolle kapitalistische Gesellschaftssystem
stabilisiert und nur noch Randgruppen, Außenseiter,
Unterprivilegierte und Intellektuelle zu subversivem
Bewußtsein kommen läßt. Ihr Protest bleibt unwirksam,
mag er sich auch zur Provokation und Revolte steigern.
Marcuse hat nicht nur die Fibel der Großen Weigerung
dieser verzweifelt ausbrechenden Minderheiten
geschrieben. Auch die Alternative, die sozialistische
Aufklärung der ausgebeuteten und manipulierten
Klassen dennoch zu organisieren, ist selten illusions-
loser verdeutlicht worden. Es gibt nur wenige Bücher,
die so theoretisch wie dieses Werk konzipiert sind,
ohne an unmittelbarer Verständlichkeit zu verlieren.
Herbert Marcuse hat tiefsten Einfluß auf das kritische
Bewußtsein einer ganzen Generation der westlichen
Welt gewonnen.
Herbert Marcuse
Der eindimensionale Mensch
Sammlung Luchterhand 4
Luchterhand Verlag GmbH 1970 - ISBN: n/v
ebook 2003 by BOOKZ 'R' US
Dieses Ebook ist nicht zum Verkauf bestimmt!
Herbert Marcuse
Der eindimensionale Mensch
Studien zur Ideologie der
fortgeschrittenen
Industriegesellschaft
Luchterhand
Ungekürzte Sonderausgabe SOZIOLOGISCHE TEXTE Bd. 40,
herausgegeben von Heinz Maus und Friedrich Fürstenberg,
Redaktion: Frank Benseler.
Originalausgabe: The One-Dimensional Man.
Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society.
Übersetzung: Alfred Schmidt.
Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand,
September 1970.
Umschlag von Hannes Jähn.
Ausstattung von Wolfgang Stehle.
1.-12. Tausend September 1970
13.-25. Tausend September 1970
26.-38. Tausend Dezember 1970
© 1967 by Hermann Luchterhand Verlag GmbH,
Neuwied und Berlin.
© Beacon Press, Boston, Mass. 1964.
Gesamtherstellung bei Ebner, Ulm.
Vorwort der Herausgeber
Seit ihrem Beginn sucht die Soziologie zur Erkenntnis
sozialer Gegenwartsprobleme beizutragen. Die Erforschung
der gesellschaftlichen Tatsachen verlangt aber zugleich
eine ständige Überprüfung des verwendeten analytischen
Begriffsapparats. Denn die Versuchung, durch vereinfachende
Schlagworte, einseitige Verallgemeinerungen und kritiklose
Übernahme zeitbedingter Urteile sich selber in ideologisch
verfängliche Positionen hineinzuverführen, begleitet von
allem Anfang die Forschungsarbeit der Soziologie. Aber
nicht jeder Sachverhalt, auf den sie aufmerksam macht, ist
deshalb mit einer Handbewegung abzutun; nicht jede ihrer
Aussagen ist, weil sie der herrschenden Meinung widerspricht,
als vorschnelle Verallgemeinerung zu erledigen, nicht jedes
zeitbedingte Urteil unbesehen zu verwerfen. Gewiß kann
keine Untersuchungstechnik, so ausgefeilt sie sein mag,
und keine innere Anteilnahme am untersuchten Phänomen,
so glaubhaft sie sein mag, der Soziologie die ständige
Entscheidung abnehmen, daß ihre Sätze nachprüfbar, durch
die wahrnehmbare Struktur der Phänomene begründet sein
müssen. Aber die theoretischen Überlegungen der Soziologie
sind stets auch über die bloße Feststellung dessen, was ist,
hinausgegangen und haben zu einer problembewußten,
verantwortlichen Stellungnahme aufgefordert. Der Gegenstand
der Soziologie: die Gesellschaft mitsamt ihren Individuen,
Gruppen und Institutionen, der Auseinandersetzung zwischen
diesen und mit der Natur, ihre Geschichte und Kultur, ist einem
Wandel unterworfen, an dem sie selbst teilhat. Ihre Probleme
sind davon mitbetroffen: Die alten erscheinen in einem neuen
Licht und die noch ungelösten der Gegenwart sind unter
Umständen bloß die unbewältigten der Vergangenheit.
Angesichts dieser Grundsituation der Soziologie scheint
den Herausgebern der »Soziologischen Texte« zweierlei
erforderlich: daß möglichst breite Kreise von Interessierten
an die Stellen herangeführt werden, an denen soziologisches
Fragen in seiner besten Form gesellschaftlich und wissen
schaftsgeschichtlich bedeutsam wurde, und daß zweitens
gute Muster soziologischer Analyse und Argumentation
vorgelegt werden, um so zu einer gründlicheren Kenntnis
des modernen soziologischen Denkens zu verhelfen. Das Ziel
der »Texte«: Information und didaktisches Heranführen an
soziologische Interpretationsweise, soll durch den Abdruck
von Quellen und durch die Veröffentlichung umfangreicher
Monographien erreicht werden. Die Vermittlung von
Quellenmaterial erscheint insbesondere für den Studierenden
als eine dringende Notwendigkeit, damit das Urteilen
aus zweiter, ja dritter Hand, das mehr und mehr um sich
greift, und damit die Oberschätzung eines soziologischen
Epigonentums, so modisch es sich gibt, verringert werde. Die
Herausgabe bedeutsamer, bisher nicht allgemein zugänglicher
Monographien, aber auch anderer soziologisch wichtiger Texte,
soll dem Leser ermöglichen, in spezielle Problembereiche tiefer
einzudringen. So kann die abgeschlossene Sammlung später
einmal ein Panorama soziologischer Forschungsarbeit auf den
verschiedensten Gebieten vermitteln.
Heinz Maus Friedrich Fürstenberg
Für Inge
Backcover:
Herbert Marcuse wurde 1898 in Berlin geboren,
studierte Philosophie an den Universitäten Berlin
und Freiburg. Er hat sich aktiv an der - mit der
kritischen Edition der Marx‘schen Jugendschriften
verbundenen - philosophischen Neuentdeckung
des Marxismus beteiligt. 1933 emigrierte er nach
Genf, 1934 nach New York, wo er Mitglied des
Institute of Social Research an der Columbia
University wurde. 1942-1950 war er Sektionschef
im Office of Strategie Services und im Department
of State in Washington. In den folgenden Jahren war
Marcuse wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent
am Russian Institute der Columbia University
sowie am Russian Research Center der Harvard
University. 1954 wurde Marcuse Professor für
Politikwissenschaften an der Brandeis University,
Waltham (Mass). Heute wirkt er an der University
of California,
Danksagungen
Meine Frau ist zumindest teilweise verantwortlich für
die in diesem Buche ausgedrückten Ansichten. Ich bin ihr
unendlich dankbar.
Mein Freund Barrington Moore, Jr., hat mir durch
seine kritischen Bemerkungen sehr geholfen; in jahrelangen
Diskussionen hat er mich gezwungen, meine Gedanken zu
klären.
Robert S. Cohen, Arno J. Mayer, Hans J. Meyerhoff und
David Ober lasen das Manuskript auf verschiedenen Stufen
seiner Fertigstellung und boten wertvolle Anregungen.
Der American Council of Learned Societies,
die Louis M. Rabinowitz Foundation, die Rockefeller
Foundation und der Social Science Research Council haben
mir Unterstützungen gewährt, die den Abschluß dieser
Studien sehr erleichterten.
Inhalt
Vorrede
Die Paralyse der Kritik:
eine Gesellschaft ohne Opposition 9
Die eindimensionale Gesellschaft
1 Die neuen Formen der Kontrolle 22
2 Die Abriegelung des Politischen 47
3 Der Sieg über das unglückliche Bewußtsein:
repressive Entsublimierung 97
4 Die Absperrung des Universums der Rede 134
Das eindimensionale Denken
5 Negatives Denken: die besiegte Logik des Protests 184
6 Vom negativen zum positiven Denken:
technologische Rationalität und die Logik der Herrschaft 212
7 Der Triumph des positiven Denkens:
eindimensionale Philosophie 247
Die Chance der Alternativen
8 Das geschichtliche Engagement der Philosophie 289
9 Die Katastrophe der Befreiung 319
10 Beschluß 349
Namensverzeichnis 364
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Vorrede
Die Paralyse der Kritik: eine Gesellschaft ohne Opposition
Dient nicht die Bedrohung durch eine atomare Katastrophe,
die das Menschengeschlecht auslöschen könnte, ebensosehr
dazu, gerade diejenigen Kräfte zu schützen, die diese Gefahr
verewigen? Die Anstrengungen, eine solche Katastrophe zu
verhindern, überschatten die Suche nach ihren etwaigen Ursachen
in der gegenwärtigen Industriegesellschaft. Diese Ursachen
werden von der Öffentlichkeit nicht festgestellt, bloßgelegt
und angegriffen, weil sie gegenüber der nur zu offenkundigen
Bedrohung von außen zurücktreten - für den Westen vom Osten,
für den Osten vom Westen. Gleich offenkundig ist das Bedürfnis,
vorbereitet zu sein, sich am Rande des Abgrundes zu bewegen,
der Herausforderung ins Auge zu sehen. Wir unterwerfen uns
der friedlichen Produktion von Destruktionsmitteln, der zur
Perfektion getriebenen Verschwendung und dem Umstand,
daß wir zu einer Verteidigung erzogen werden, welche
gleichermaßen die Verteidiger verunstaltet wie das, was sie
verteidigen.
Wenn wir versuchen, die Ursachen der Gefahr darauf zu
beziehen, wie die Gesellschaft organisiert ist und ihre Mitglieder
organisiert, dann stehen wir sofort der Tatsache gegenüber, daß
die fortgeschrittene Industriegesellschaft reicher, größer und besser
wird, indem sie die Gefahr verewigt. Die Verteidigungsstruktur
erleichtert das Leben einer größeren Anzahl von Menschen
-9-
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
und erweitert die Herrschaft des Menschen über die Natur.
Unter diesen Umständen fällt es unseren Massenmedien nicht
schwer, partikulare Interessen als die aller einsichtigen Leute zu
verkaufen. Die politischen Bedürfnisse der Gesellschaft werden
zu industriellen Bedürfnissen und Wünschen, ihre Befriedigung
fördert das Geschäft und das Gemeinwohl, und das Ganze
erscheint als die reine Verkörperung der Vernunft.
Und doch ist diese Gesellschaft als Ganzes irrational. Ihre
Produktivität zerstört die freie Entwicklung der menschlichen
Bedürfnisse und Anlagen, ihr Friede wird durch die beständige
Kriegsdrohung aufrecht erhalten, ihr Wachstum hängt
ab von der Unterdrückung der realen Möglichkeiten, den
Kampf ums Dasein zu befrieden - individuell, national und
international. Diese Unterdrückung, höchst verschieden von
derjenigen, die für die vorangehenden, weniger entwickelten
Stufen unserer Gesellschaft charakteristisch war, macht sich
heute nicht aus einer Position natürlicher und technischer
Unreife heraus geltend, sondern aus einer Position der Stärke.
Die (geistigen und materiellen) Fähigkeiten der gegenwärtigen
Gesellschaft sind unermeßlich größer als je zuvor - was
bedeutet, daß die Reichweite der gesellschaftlichen
Herrschaft über das Individuum unermeßlich größer ist als
je zuvor. Unsere Gesellschaft ist dadurch ausgezeichnet,
daß sie die zentrifugalen Kräfte mehr auf technischem
Wege besiegt als mit Terror: auf der doppelten Basis einer
überwältigenden Leistungsfähigkeit und eines sich erhöhenden
Lebensstandards.
- 10 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Es gehört zur Absicht einer kritischen Theorie der
gegenwärtigen Gesellschaft, die Wurzeln dieser Entwicklungen
zu erforschen und ihre geschichtlichen Alternativen zu
untersuchen - einer Theorie, die die Gesellschaft analysiert im
Licht ihrer genutzten und ungenutzten oder mißbrauchten
Kapazitäten zur Verbesserung der menschlichen Lage. Was
aber sind die Maßstäbe einer solchen Kritik?
Sicher spielen Werturteile eine Rolle. Die etablierte Weise,
die Gesellschaft zu organisieren, wird an anderen möglichen
Weisen gemessen, Weisen, von denen angenommen wird, daß
sie der Erleichterung des menschlichen Kampfes ums Dasein
bessere Chancen bieten; eine bestimmte historische Praxis wird
an ihren eigenen geschichtlichen Alternativen gemessen. Von
Anbeginn steht damit jede kritische Theorie der Gesellschaft
dem Problem historischer Objektivität gegenüber, einem
Problem, das an den beiden Stellen aufkommt, an denen die
Analyse Werturteile einschließt:
1. das Urteil, daß das menschliche Leben lebenswert ist oder
vielmehr lebenswert gemacht werden kann oder sollte. Dieses
Urteil liegt aller geistigen Anstrengung zu Grunde; es ist das
Apriori der Gesellschaftstheorie, und seine Ablehnung (die
durchaus logisch ist) lehnt die Theorie selbst ab;
2. das Urteil, daß in einer gegebenen Gesellschaft spezifische
Möglichkeiten zur Verbesserung des menschlichen Lebens
bestehen sowie spezifische Mittel und Wege, diese
Möglichkeiten zu verwirklichen. Die kritische Analyse hat
die objektive Gültigkeit dieser Urteile zu beweisen, und der
Beweis muß auf empirischem Boden geführt werden. Der
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
etablierten Gesellschaft steht eine nachweisbare Quantität und
Qualität geistiger und materieller Ressourcen zur Verfügung.
Wie können diese Ressourcen für die optimale Entwicklung
und Befriedigung individueller Bedürfnisse und Anlagen bei
einem Minimum an schwerer Arbeit und Elend ausgenutzt
werden? Die Gesellschaftstheorie ist eine historische Theorie,
und die Geschichte ist das Reich der Notwendigkeit. Daher
ist zu fragen: welche unter den verschiedenen möglichen
und wirklichen Weisen, die verfügbaren Ressourcen zu
organisieren und nutzbar zu machen, bieten die größte
Chance einer optimalen Entwicklung?
Der Versuch, diese Fragen zu beantworten, erfordert
zunächst eine Reihe von Abstraktionen. Um die Möglichkeiten
einer optimalen Entwicklung anzugeben und zu bestimmen,
muß die kritische Theorie von der tatsächlichen Organisation
und Anwendung der gesellschaftlichen Ressourcen
abstrahieren sowie von den Ergebnissen dieser Organisation
und Anwendung. Eine solche Abstraktion, die sich weigert,
das gegebene Universum der Tatsachen als den endgültigen
Zusammenhang hinzunehmen, in dem etwas zwingende Kraft
erhält, eine solche »transzendierende« Analyse der Tatsachen
im Licht ihrer gehemmten und geleugneten Möglichkeiten
gehört wesentlich zur Struktur von Gesellschaftstheorie.
Sie ist aller Metaphysik entgegengesetzt aufgrund des
streng geschichtlichen Charakters der Transzendenz1. Die
l Die Ausdrücke »transzendieren« und »Transzendenz« werden durchweg im empirischen,
kritischen Sinne verwandt: sie bezeichnen Tendenzen in Theorie und Praxis, die in einer
gegebenen Gesellschaft über das etablierte Universum von Sprechen und Handeln in Richtung auf
seine geschichtlichen Alternativen (realen Möglichkeiten) »hinausschießen«.
- 12 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
»Möglichkeiten« müssen sich innerhalb der Reichweite der
jeweiligen Gesellschaft befinden; sie müssen bestimmbare
Ziele der Praxis sein. Dementsprechend muß die Abstraktion
von den bestehenden Institutionen eine tatsächliche Tendenz
ausdrücken - das heißt, ihre Veränderung muß das reale Bedürfnis
der vorhandenen Bevölkerung sein. Die Gesellschaftstheorie
hat es mit den geschichtlichen Alternativen zu tun, die in der
etablierten Gesellschaft als subversive Tendenzen und Kräfte
umgehen. Die mit den Alternativen verbundenen Werte werden
durchaus zu Tatsachen, wenn sie vermittels historischer Praxis
in Wirklichkeit übersetzt werden. Die theoretischen Begriffe
verlieren mit der gesellschaftlichen Veränderung ihre Gültigkeit.
Hier aber konfrontiert die fortgeschrittene Industrie-
gesellschaft die Kritik mit einer Lage, die sie ihrer ganzen Basis
zu berauben scheint. Ausgeweitet zu einem ganzen System von
Herrschaft und Gleichschaltung, bringt der technische Fortschritt
Lebensformen (und solche der Macht) hervor, welche die Kräfte,
die das System bekämpfen, zu besänftigen und allen Protest im
Namen der historischen Aussichten auf Freiheit von schwerer Arbeit
und Herrschaft zu besiegen oder zu widerlegen scheinen. Die ge-
genwärtige Gesellschaft scheint imstande, einen sozialen Wandel
zu unterbinden - eine qualitative Veränderung, die wesentlich
andere Institutionen durchsetzen würde, eine neue Richtung
des Produktionsprozesses, neue Weisen menschlichen Daseins.
Die Unterbindung sozialen Wandels ist vielleicht die hervorste-
chendste Leistung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft; die
allgemeine Hinnahme des »nationalen Anliegens«, das Zwei-
Parteien-System, der Niedergang des Pluralismus, das betrügeri-
sche Einverständnis von Kapital und organisierter Arbeiterschaft
- 13 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
in einem starken Staat bezeugen die Integration der Gegensätze,
die das Ergebnis wie die Vorbedingung dieser Leistung ist.
Ein kurzer Vergleich zwischen dem Stadium, in dem
die Theorie der Industriegesellschaft sich bildete, und ihrer
gegenwärtigen Lage kann zeigen helfen, wie die Grundlage
der Kritik sich gewandelt hat. Als sie in der ersten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts aufkam und die ersten Begriffe
von Alternativen ausarbeitete, gewann die kritische Theorie
der Industriegesellschaft Konkretion in einer geschichtlichen
Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, Werten und Tatsachen,
Bedürfnissen und Zielen. Diese geschichtliche Vermittlung
spielte sich ab im Bewußtsein und in der politischen Aktion
der beiden großen Klassen, die sich in der Gesellschaft
gegenüberstanden: Bourgeoisie und Proletariat. In der
kapitalistischen Welt sind sie noch immer die grundlegenden
Klassen. Die kapitalistische Entwicklung hat jedoch die
Struktur und Funktion dieser beiden Klassen derart verändert,
daß sie nicht mehr die Träger historischer Umgestaltung zu sein
scheinen. Ein sich über alles hinwegsetzendes Interesse an der
Erhaltung und Verbesserung des institutionellen Status quo
vereinigt die früheren Antagonisten in den fortgeschrittensten
Bereichen der gegenwärtigen Gesellschaft. Und in dem Maße,
wie der technische Fortschritt Wachstum und Zusammenhalt der
kommunistischen Gesellschaft gewährleistet, weicht gerade
die Idee der qualitativen Änderung den realistischen Begriffen
einer nichtexplosiven Evolution. Da es an nachweisbaren
Trägern und Triebkräften gesellschaftlichen Wandels fehlt, wird
die Kritik auf ein hohes Abstraktionsniveau zurückgeworfen.
Es gibt keinen Boden, auf dem Theorie und Praxis, Denken
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
und Handeln zusammenkommen. Selbst die empirischste
Analyse geschichtlicher Alternativen erscheint als unrealistische
Spekulation, das Eintreten für sie als eine Sache persönlichen
(oder gruppenspezifischen) Beliebens.
Und dennoch: widerlegt dieses Fehlen einer Vermittlung
die Theorie? Angesichts offenkundig widersprüchlicher
Tatsachen besteht die kritische Analyse weiterhin darauf,
daß das Bedürfnis nach qualitativer Änderung so dringend
ist wie je zuvor. Wer verlangt nach ihr? Die Antwort ist
weiterhin dieselbe: die Gesamtgesellschaft für jedes ihrer
Mitglieder. Die Vereinigung von anwachsender Produktivität
und anwachsender Zerstörung, das Hasardspiel mit der
Vernichtung, die Auslieferung des Denkens, Hoffens und
Fürchtens an die Entscheidungen der bestehenden Mächte, die
Erhaltung des Elends angesichts eines beispiellosen Reichtums
enthalten in sich die unparteiischste Anklage - auch wenn
sie nicht die raison d’être dieser Gesellschaft sind, sondern
nur ihr Nebenprodukt: ihre durchgreifende Rationalität,
die Leistungsfähigkeit und Wachstum befördert, ist selbst
irrational.
Die Tatsache, daß die große Mehrheit der Bevölkerung
diese Gesellschaft hinnimmt und dazu gebracht wird, sie
hinzunehmen, macht sie nicht weniger irrational und verwerflich.
Die Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Bewußtsein,
wirklichem und unmittelbarem Interesse ist immer noch sinnvoll.
Aber diese Unterscheidung selbst muß bestätigt werden. Die
Menschen müssen dazu gelangen, sie zu sehen, und müssen
vom falschen zum wahren Bewußtsein finden, von ihrem
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
unmittelbaren zu ihrem wirklichen Interesse. Das können sie
nur, wenn sie unter dem Bedürfnis stehen, ihre Lebensweise
zu ändern, das Positive zu verneinen, sich ihm zu verweigern.
Eben dieses Bedürfnis vermag die etablierte Gesellschaft in dem
Maße zu unterdrücken, wie sie imstande ist, »die Güter« auf
erweiterter Stufenleiter »zu liefern«, und die wissenschaftliche
Unterwerfung der Natur zur wissenschaftlichen Unterwerfung
des Menschen zu benutzen.
Gegenüber dem totalen Charakter der Errungenschaften der
fortgeschrittenen Industriegesellschaft gebricht es der kritischen
Theorie an einer rationalen Grundlage zum Transzendieren
dieser Gesellschaft. Dieses Vakuum entleert die theoretische
Struktur selbst, weil die Kategorien einer kritischen Theorie
der Gesellschaft während einer Periode entwickelt wurden, in
der sich das Bedürfnis nach Weigerung und Subversion im Handeln
wirksamer sozialer Kräfte verkörperte. Diese Kategorien waren
wesentlich negative und oppositionelle Begriffe, welche die realen
Widersprüche der europäischen Gesellschaft des neunzehnten
Jahrhunderts bestimmten. Die Kategorie »Gesellschaft« selbst
drückte den akuten Konflikt zwischen der sozialen und politischen
Sphäre aus - die Gesellschaft als antagonistisch gegenüber dem
Staat. Entsprechend bezeichneten Begriffe wie »Individuum«,
»Klasse«, »privat«, »Familie« Sphären und Kräfte, die in die
etablierten Verhältnisse noch nicht integriert waren - Sphären von
Spannung und Widerspruch. Mit der zunehmenden Integration
der Industriegesellschaft verlieren diese Kategorien ihren
kritischen Inhalt und tendieren dazu, deskriptive, trügerische
oder operationelle Termini zu werden.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Ein Versuch, die kritische Intention dieser Kategorien
wiederzuerlangen und zu verstehen, wie diese Intention durch die
gesellschaftliche Wirklichkeit entwertet wurde, erscheint von
Anbeginn als Rückfall von einer mit der geschichtlichen Praxis
verbundenen Theorie in abstraktes, spekulatives Denken: von
der Kritik der politischen Ökonomie zur Philosophie. Dieser
ideologische Charakter der Kritik ergibt sich aus der Tatsache,
daß die Analyse gezwungen ist, von einer Position »außerhalb«
der positiven wie der negativen, der produktiven wie der
destruktiven Tendenzen in der Gesellschaft auszugehen. Die
moderne Industriegesellschaft ist die durchgehende Identität
dieser Gegensätze - es geht ums Ganze. Zugleich kann die
Stellung der Theorie nicht eine bloßer Spekulation sein. Sie muß
insofern eine historische Stellung sein, als sie in den Fähigkeiten
der gegebenen Gesellschaft begründet sein muß.
Diese zweideutige Situation schließt eine noch grundlegendere
Zweideutigkeit ein. Der Eindimensionale Mensch wird
durchweg zwischen zwei einander widersprechenden Hypothesen
schwanken: 1. daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft
imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft
zu unterbinden; 2. daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind,
die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen
können. Ich glaube nicht, daß eine klare Antwort gegeben werden
kann. Beide Tendenzen bestehen nebeneinander - und sogar die
eine in der anderen. Die erste Tendenz ist die herrschende, und
alle Vorbedingungen eines Umschwungs, die es geben mag,
werden benutzt, ihn zu verhindern. Vielleicht kann ein Unglück
die Lage ändern, aber solange nicht die Anerkennung dessen, was
getan und was verhindert wird, das Bewußtsein und Verhalten
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
des Menschen umwälzt, wird nicht einmal eine Katastrophe die
Änderung herbeiführen.
Im Brennpunkt der Analyse steht die fortgeschrittene
Industriegesellschaft, in der der technische Produktions- und
Verteilungsapparat (bei einem zunehmenden automatisierten
Sektor) nicht als eine Gesamtsumme bloßer Instrumente
funktioniert, die von ihren gesellschaftlichen und politischen
Wirkungen isoliert werden können, sondern vielmehr als ein
System, von dem das Produkt des Apparats wie die Operationen,
ihn zu bedienen und zu erweitern, a priori bestimmt werden. In
dieser Gesellschaft tendiert der Produktionsapparat dazu, in dem
Maße totalitär zu werden, wie er nicht nur die gesellschaftlich
notwendigen Betätigungen, Fertigkeiten und Haltungen
bestimmt, sondern auch die individuellen Bedürfnisse
und Wünsche. Er ebnet so den Gegensatz zwischen
privater und öffentlicher Existenz, zwischen individuellen
und gesellschaftlichen Bedürfnissen ein. Die Technik dient
dazu, neue, wirksamere und angenehmere Formen sozialer
Kontrolle und sozialen Zusammenhalts einzuführen. Die
totalitäre Tendenz dieser Kontrollen scheint sich noch in
einem anderen Sinne durchzusetzen - dadurch, daß sie sich
auf die weniger entwickelten, selbst vorindustriellen Gebiete
der Welt ausbreitet und dadurch, daß sie Ähnlichkeiten
in der Entwicklung von Kapitalismus und Kommunismus
hervorbringt.
Angesichts der totalitären Züge dieser Gesellschaft läßt
sich der traditionelle Begriff der »Neutralität« der Technik
nicht mehr aufrechterhalten. Technik als solche kann nicht von
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
dem Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht wird;
die technologische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das
bereits im Begriff und Aufbau der Techniken am Werke ist.
Die Weise, in der eine Gesellschaft das Leben ihrer Mitglieder
organisiert, schließt eine ursprüngliche Wahl zwischen
geschichtlichen Alternativen ein, die vom überkommenen
Niveau der materiellen und geistigen Kultur bestimmt sind.
Die Wahl selbst ergibt sich aus dem Spiel der herrschenden
Interessen. Sie antizipiert besondere Weisen, Mensch und
Natur zu verändern und nutzbar zu machen und verwirft
andere. Sie ist ein »Entwurf« von Verwirklichung unter
anderen2. Aber ist der Entwurf einmal in den grundlegenden
Institutionen und Verhältnissen wirksam geworden, so
tendiert er dazu, exklusiv zu werden und die Entwicklung der
Gesellschaft als Ganzes zu bestimmen. Als ein technologisches
Universum ist die fortgeschrittene Industriegesellschaft ein
politisches Universum — die späteste Stufe der Verwirklichung
eines spezifischen geschichtlichen Entwurfs - nämlich die
Erfahrung, Umgestaltung und Organisation der Natur als
des bloßen Stoffs von Herrschaft.
Indem der Entwurf sich entfaltet, modelt er das gesamte
Universum von Sprache und Handeln, von geistiger und
materieller Kultur. Im Medium der Technik verschmelzen
Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System,
das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt. Produktivität
2 Der Terminus »Entwurf« (Projekt) hebt das Element von Freiheit und Verantwortung
in der geschichtlichen Determination hervor: er verknüpft Autonomie und Kontingenz.
In diesem Sinne wird er im Werk von Jean-Paul Sartre verwandt. Zur weiteren
Diskussion cf. Kapitel 8.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
und Wachstumspotential dieses Systems stabilisieren die
Gesellschaft und halten den technischen Fortschritt im Rahmen
von Herrschaft. Technologische Rationalität ist zu politischer
Rationalität geworden.
Bei der Erörterung der bekannten Tendenzen der
fortgeschrittenen industriellen Zivilisation habe ich selten
besondere Belege gegeben. Das Material ist in der umfassenden
soziologischen und psychologischen Literatur über Technik
und sozialen Wandel, wissenschaftliche Betriebsführung,
korporative Unternehmen, Veränderungen des Charakters
industrieller Arbeit und der Arbeitskraft etc. zusammengestellt
und beschrieben. Es gibt viele unideologische Analysen der
Tatsachen - wie Berle und Means, The Modern Corporation and
Private Property, die Berichte des 76. Kongresses des Temporary
National Economic Committee über Concentration of Economic
Power, die Veröffentlichungen der AFL-CIO über Automation
and Major Technological Change, aber auch die von News
and Letters und Correspondence in Detroit. Ich möchte auch die
hohe Bedeutung des Werks von C. Wright Mills und von Studien
hervorheben, die häufig wegen Vereinfachung, Übertreibung
oder journalistischer Unbekümmertheit scheel angesehen werden
- Vance Packards Bücher The Hidden Persuaders, The Status
Seekers und The Waste Makers, das Buch von William H. Whyte
The Organisation Man, das von Fred J. Cook The Warfare State
gehören zu dieser Kategorie3. Freilich bleiben in diesen Werken
3 Deutsche Ausgaben: Vance Packard, Die geheimen Verführer, Der Griff nach dem Unbewußten
in Jedermann, Econ-Verlag, Düsseldorf 1958 (Ullstein-Buch Nr. 402); Die Pyramidenkletterer,
Econ-Verlag, Düsseldorf 1963; Die große Verschwendung, Econ-Verlag, Düsseldorf 1961;
William H. Whyte, Herr und Opfer der Organisation, Düsseldorf 1958.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
mangels theoretischer Analyse die Wurzeln der beschriebenen
Verhältnisse unaufgedeckt und geschützt; aber dazu gebracht,
für sich selbst zu sprechen, reden die Verhältnisse eine deutliche
Sprache. Vielleicht verschafft man sich das durchschlagendste
Beweismaterial dadurch, daß man einfach ein paar Tage lang
jeweils eine Stunde das Fernsehprogramm verfolgt oder sich das
Programm von AM-Radio anhört, dabei die Reklamesendungen
nicht abstellt und hin und wieder den Sender wechselt.
Im Brennpunkt meiner Analyse stehen Tendenzen in den
höchstentwickelten gegenwärtigen Gesellschaften. Es gibt weite
Bereiche innerhalb und außerhalb dieser Gesellschaften, wo die
beschriebenen Tendenzen nicht herrschen - ich würde sagen: noch
nicht herrschen. Ich entwerfe diese Tendenzen und biete einige
Hypothesen, nichts weiter.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Die eindimensionale Gesellschaft
1 Die neuen Formen der Kontrolle
Eine komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische
Unfreiheit herrscht in der fortgeschrittenen industriellen
Zivilisation, ein Zeichen technischen Fortschritts. In der Tat, was
könnte rationaler sein als die Unterdrückung der Individualität
bei der Mechanisierung gesellschaftlich notwendiger, aber
mühevoller Veranstaltungen; die Konzentration individueller
Unternehmen zu wirksameren, produktiveren Verbänden; die
Regulierung der freien Konkurrenz zwischen verschieden gut
ausgestatteten ökonomischen Subjekten; die Beschneidung
von Prärogativen und nationalen Hoheitsrechten, welche
die internationale Organisation der Ressourcen behindern.
Daß diese technische Ordnung eine politische und geistige
Gleichschaltung mit sich bringt, mag eine bedauerliche und doch
vielversprechende Entwicklung sein.
Die Rechte und Freiheiten, die zu Beginn und auf früheren
Stufen der Industriegesellschaft einmal lebenswichtige Faktoren
waren, weichen einer höheren Stufe dieser Gesellschaft: sie
sind dabei, ihre traditionelle Vernunftbasis und ihren Inhalt zu
verlieren. Denk-, Rede- und Gewissensfreiheit waren - ganz wie
die freie Wirtschaft, deren Förderung und Schutz sie dienten
- wesentlich kritische Ideen, bestimmt, eine veraltete materielle
und geistige Kultur durch eine produktivere und rationalere zu
ersetzen. Einmal institutionalisiert, teilten diese Rechte und
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Freiheiten das Schicksal der Gesellschaft, zu deren integralem
Bestandteil sie geworden waren. Der Erfolg hebt seine
Voraussetzungen auf.
In dem Maße, wie Freiheit von Mangel, die konkrete Substanz
aller Freiheit, zur realen Möglichkeit wird, verlieren die Freiheiten,
die einer niedereren Stufe der Produktivität angehören, ihren
früheren Inhalt. Unabhängigkeit des Denkens, Autonomie,
das Recht auf politische Opposition werden gegenwärtig ihrer
grundlegenden kritischen Funktion beraubt in einer Gesellschaft,
die immer mehr imstande scheint, die Bedürfnisse der Individuen
vermittels der Weise zu befriedigen, in der sie organisiert ist.
Eine solche Gesellschaft kann mit Recht verlangen, daß ihre
Prinzipien und Institutionen hingenommen werden, und kann
die Opposition auf die Diskussion und Förderung alternativer
politischer Praktiken innerhalb des Status quo einschränken.
In dieser Hinsicht scheint es wenig auszumachen, ob die
zunehmende Befriedigung der Bedürfnisse durch ein autoritäres
oder ein nicht-autoritäres System erreicht wird. Unter den
Bedingungen eines steigenden Lebensstandards erscheint
die Nichtübereinstimmung mit dem System als solchem als
gesellschaftlich sinnlos, und das umsomehr, wenn sie fühlbare
wirtschaftliche und politische Nachteile im Gefolge hat
und den glatten Ablauf des Ganzen bedroht. Wenigstens
soweit es um die Lebensbedürfnisse geht, scheint keinerlei
Grund vorhanden, weshalb die Produktion und Verteilung
von Gütern und Dienstleistungen im wettbewerblichen
Aufeinanderprallen individueller Freiheiten vonstatten gehen
sollte.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Von Anbeginn war die Freiheit des Unternehmens keineswegs
ein Segen. Als die Freiheit zu arbeiten oder zu verhungern
bedeutete sie für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung
Plackerei, Unsicherheit und Angst. Wäre das Individuum nicht
mehr gezwungen, sich auf dem Markt als freies ökonomisches
Subjekt zu bewähren, so wäre das Verschwinden dieser Art von
Freiheit eine der größten Errungenschaften der Zivilisation.
Die technologischen Prozesse der Mechanisierung und
Standardisierung könnten individuelle Energie für ein noch
unbekanntes Reich der Freiheit jenseits der Notwendigkeit
freigeben. Die innere Struktur des menschlichen Daseins
würde geändert; das Individuum würde von den fremden
Bedürfnissen und Möglichkeiten befreit, die die Arbeitswelt
ihm auferlegt. Das Individuum wäre frei, Autonomie über
ein Leben auszuüben, das sein eigenes wäre. Könnte der
Produktionsapparat im Hinblick auf die Befriedigung der
notwendigen Bedürfnisse organisiert und dirigiert werden, so
könnte er durchaus zentralisiert sein; eine derartige Kontrolle
würde individuelle Autonomie nicht verhindern, sondern
ermöglichen.
Das ist ein Ziel im Rahmen dessen, wozu die fortgeschrittene
industrielle Zivilisation imstande ist, der »Zweck«
technologischer Rationalität. Tatsächlich jedoch macht sich
die entgegengesetzte Tendenz geltend: der Apparat erlegt der
Arbeitszeit und der Freizeit, der materiellen und der geistigen
Kultur die ökonomischen wie politischen Erfordernisse seiner
Verteidigung und Expansion auf. Infolge der Art, wie sie ihre
technische Basis organisiert hat, tendiert die gegenwärtige
Industriegesellschaft zum Totalitären. Denn »totalitär« ist
- 24 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
nicht nur eine terroristische politische Gleichschaltung der
Gesellschaft, sondern auch eine nichtterroristische ökonomisch-
technische Gleichschaltung, die sich in der Manipulation von
Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen geltend macht.
Sie beugt so dem Aufkommen einer wirksamen Opposition
gegen das Ganze vor. Nicht nur eine besondere Regierungsform
oder Parteiherrschaft bewirkt Totalitarismus, sondern auch ein
besonderes Produktions- und Verteilungssystem, das sich mit
einem »Pluralismus« von Parteien, Zeitungen, »ausgleichenden
Mächten« etc. durchaus verträgt1.
Politische Macht setzt sich heute durch vermittels ihrer
Gewalt über den maschinellen Prozeß und die technische
Organisation des Apparats. Die Regierung fortgeschrittener
und fortschreitender Industriegesellschaften kann sich nur dann
behaupten und sichern, wenn es ihr gelingt, die der industriellen
Zivilisation verfügbare technische, wissenschaftliche und
mechanische Produktivität zu mobilisieren, zu organisieren
und auszubeuten. Und diese Produktivität mobilisiert
die Gesellschaft als Ganzes über allen partikulären oder
Gruppeninteressen und jenseits von ihnen. Das rohe Faktum,
daß die physische (nur physische?) Gewalt der Maschine die
des Individuums und jeder besonderen Gruppe von Individuen
übertrifft, macht die Maschine in jeder Gesellschaft, deren
grundlegende Organisation die des maschinellen Prozesses ist,
zum wirksamsten politischen Instrument. Aber die politische
Tendenz läßt sich umkehren; im wesentlichen ist die Macht der
Maschine nur die aufgespeicherte und projektierte Macht des
1 Cf. S. 71.
- 25 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Menschen. In dem Maße, wie die Arbeitswelt als eine Maschine
verstanden und entsprechend mechanisiert wird, wird sie zur
potentiellen Basis einer neuen Freiheit für den Menschen.
Die gegenwärtige industrielle Zivilisation beweist, daß sie
die Stufe erreicht hat, auf der »die freie Gesellschaft« in den
traditionellen Begriffen ökonomischer, politischer und geistiger
Freiheiten nicht mehr angemessen bestimmt werden kann; nicht
weil diese Freiheiten bedeutungslos geworden sind, sondern
weil sie zu bedeutsam sind, um auf die traditionellen Formen
begrenzt zu bleiben. Entsprechend den neuen Fähigkeiten der
Gesellschaft bedarf es neuer Weisen der Verwirklichung.
Solche neuen Weisen lassen sich nur in negativen Begriffen
andeuten, weil sie auf die Negation der herrschenden
hinausliefen. So würde ökonomische Freiheit Freiheit von
der Wirtschaft bedeuten - von Kontrolle durch ökonomische
Kräfte und Verhältnisse; Freiheit vom täglichen Kampf ums
Dasein, davon, sich seinen Lebensunterhalt verdienen zu
müssen. Politische Freiheit würde die Befreiung der Individuen
von der Politik bedeuten, über die sie keine wirksame
Kontrolle ausüben. Entsprechend würde geistige Freiheit die
Wiederherstellung des individuellen Denkens bedeuten, das
jetzt durch Massenkommunikation und - Schulung aufgesogen
wird, die Abschaffung der »öffentlichen Meinung« mitsamt ihren
Herstellern. Der unrealistische Klang dieser Behauptungen deutet
nicht auf ihren utopischen Charakter hin, sondern auf die Gewalt
der Kräfte, die ihrer Verwirklichung im Wege stehen. Die
wirksamste und zäheste Form des Kampfes gegen die Befreiung
besteht darin, den Menschen materielle und geistige Bedürfnisse
- 26 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
einzuimpfen, welche die veralteten Formen des Kampfes ums
Dasein verewigen.
Die Intensität, die Befriedigung und selbst der Charakter
menschlicher Bedürfnisse, die über das biologische Niveau
hinausgehen, sind stets im voraus festgelegt gewesen. Ob
die Möglichkeit, etwas zu tun oder zu lassen, zu genießen
oder zu zerstören, zu besitzen oder zurückzuweisen als ein
Bedürfnis erfaßt wird oder nicht, hängt davon ab, ob sie für
die herrschenden gesamtgesellschaftlichen Institutionen und
Interessen als wünschenswert und notwendig angesehen werden
kann oder nicht. In diesem Sinne sind menschliche Bedürfnisse
historische Bedürfnisse, und in dem Maße, wie die Gesellschaft
die repressive Entwicklung des Individuums erfordert, unterliegen
dessen Bedürfnisse selbst und ihr Verlangen, befriedigt zu werden,
kritischen Maßstäben, die sich über sie hinwegsetzen.
Wir können wahre und falsche Bedürfnisse unterscheiden.
»Falsch« sind diejenigen, die dem Individuum durch partikuläre
gesellschaftliche Mächte, die an seiner Unterdrückung interessiert
sind, auferlegt werden: diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit,
Aggressivität, Elend und Ungerechtigkeit verewigen. Ihre
Befriedigung mag für das Individuum höchst erfreulich sein,
aber dieses Glück ist kein Zustand, der aufrecht erhalten und
geschützt werden muß, wenn es dazu dient, die Entwicklung
derjenigen Fähigkeit (seine eigene und die anderer) zu hemmen,
die Krankheit des Ganzen zu erkennen und die Chancen zu
ergreifen, diese Krankheit zu heilen. Das Ergebnis ist dann
Euphorie im Unglück. Die meisten der herrschenden Bedürfnisse,
sich im Einklang mit der Reklame zu entspannen, zu vergnügen,
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
zu benehmen und zu konsumieren, zu hassen und zu lieben, was
andere hassen und lieben, gehören in diese Kategorie falscher
Bedürfnisse.
Solche Bedürfnisse haben einen gesellschaftlichen Inhalt
und eine gesellschaftliche Funktion, die durch äußere Mächte
determiniert sind, über die das Individuum keine Kontrolle
hat; die Entwicklung und Befriedigung dieser Bedürfnisse
sind heteronom. Ganz gleich, wie sehr solche Bedürfnisse zu
denen des Individuums selbst geworden sind und durch seine
Existenzbedingungen reproduziert und befestigt werden; ganz
gleich, wie sehr es sich mit ihnen identifiziert und sich in ihrer
Befriedigung wiederfindet, sie bleiben, was sie seit Anbeginn
waren - Produkte eine Gesellschaft, deren herrschendes Interesse
Unterdrückung erheischt.
Das Vorherrschen repressiver Bedürfnisse ist eine vollendete
Tatsache, die in Unwissenheit und Niedergeschlagenheit
hingenommen wird, aber eine Tatsache, die im Interesse des
glücklichen Individuums sowie aller derjenigen beseitigt
werden muß, deren Elend der Preis seiner Befriedigung ist. Die
einzigen Bedürfnisse, die einen uneingeschränkten Anspruch auf
Befriedigung haben, sind die vitalen - Nahrung, Kleidung und
Wohnung auf dem erreichbaren Kulturniveau. Die Befriedigung
dieser Bedürfnisse ist die Vorbedingung für die Verwirklichung
aller Bedürfnisse, der unsublimierten wie der sublimierten.
Für jedes Bewußtsein und Gewissen, für jede Erfahrung,
die das herrschende gesellschaftliche Interesse nicht als
das oberste Gesetz des Denkens und Verhaltens hinnimmt,
ist das eingeschliffene Universum von Bedürfnissen und
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Befriedigungen eine in Frage zu stellende Tatsache - im
Hinblick auf Wahrheit und Falschheit. Diese Begriffe sind durch
und durch historisch, auch ihre Objektivität ist historisch. Das
Urteil über Bedürfnisse und ihre Befriedigung schließt unter den
gegebenen Bedingungen Maßstäbe des Vorrangs ein - Maßstäbe,
die sich auf die optimale Entwicklung des Individuums,
aller Individuen, beziehen unter optimaler Ausnutzung der
materiellen und geistigen Ressourcen, über die der Mensch
verfügt. Diese Ressourcen sind berechenbar. »Wahrheit«
und »Falschheit« der Bedürfnisse bezeichnen in dem Maße
objektive Bedingungen, wie die allgemeine Befriedigung von
Lebensbedürfnissen und darüberhinaus die fortschreitende
Linderung von harter Arbeit und Armut allgemeingültige
Maßstäbe sind. Aber als historische Maßstäbe variieren sie
nicht nur nach Bereich und Stufe der Entwicklung, sie lassen
sich auch nur im (größeren oder geringeren) Widerspruch zu
den herrschenden bestimmen. Welches Tribunal kann für sich
die Autorität der Entscheidung beanspruchen?
In letzter Instanz muß die Frage, was wahre und was falsche
Bedürfnisse sind, von den Individuen selbst beantwortet
werden, das heißt sofern und wenn sie frei sind, ihre eigene
Antwort zu geben. Solange sie davon abgehalten werden,
autonom zu sein, solange sie (bis in ihre Triebe hinein) geschult
und manipuliert werden, kann ihre Antwort auf diese Frage
nicht als ihre eigene verstanden werden. Deshalb kann sich
auch kein Tribunal legitimerweise das Recht anmaßen, darüber
zu befinden, welche Bedürfnisse entwickelt und befriedigt
werden sollten. Jedes derartige Tribunal ist zu verwerfen,
obgleich dadurch die Frage nicht aus der Welt geschafft
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
wird: wie können die Menschen, die das Objekt wirksamer
und produktiver Herrschaft gewesen sind, von sich aus die
Bedingungen der Freiheit herbeiführen?2
Je rationaler, produktiver, technischer und totaler
die repressive Verwaltung der Gesellschaft wird, desto
unvorstellbarer sind die Mittel und Wege, vermöge derer die
verwalteten Individuen ihre Knechtschaft brechen und ihre
Befreiung selbst in die Hand nehmen könnten. Freilich ist es
ein paradoxer und Anstoß erregender Gedanke, einer ganzen
Gesellschaft Vernunft auferlegen zu wollen - obgleich sich die
Rechtschaffenheit einer Gesellschaft bestreiten ließe, die diesen
Gedanken lächerlich macht, während sie ihre eigene Bevölkerung
in Objekte totaler Verwaltung überführt. Alle Befreiung hängt
vom Bewußtsein der Knechtschaft ab, und das Entstehen
dieses Bewußtseins wird stets durch das Vorherrschen von
Bedürfnissen und Befriedigungen behindert, die in hohem Maße
die des Individuums geworden sind. Der Prozeß ersetzt immer
ein System der Präformierung durch ein anderes; das optimale
Ziel ist die Ersetzung der falschen Bedürfnisse durch wahre, der
Verzicht auf repressive Befriedigung.
Es ist der kennzeichnende Zug der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft, daß sie diejenigen Bedürfnisse wirksam
drunten hält, die nach Befreiung verlangen - eine Befreiung
auch von dem, was erträglich, lohnend und bequem ist - während
sie die zerstörerische Macht und unterdrückende Funktion der
Gesellschaft »im Überfluß« unterstützt und freispricht. Hierbei
erzwingen die sozialen Kontrollen das überwältigende Bedürfnis
2 Cf. S. 60.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
nach Produktion und Konsumtion von unnützen Dingen; das
Bedürfnis nach abstumpfender Arbeit, wo sie nicht mehr wirklich
notwendig ist; das Bedürfnis nach Arten der Entspannung, die
diese Abstumpfung mildern und verlängern; das Bedürfnis, solche
trügerischen Freiheiten wie freien Wettbewerb bei verordneten
Preisen zu erhalten, eine freie Presse, die sich selbst zensiert,
freie Auswahl zwischen gleichwertigen Marken und nichtigem
Zubehör bei grundsätzlichem Konsumzwang.
Unter der Herrschaft eines repressiven Ganzen läßt Freiheit
sich in ein mächtiges Herrschaftsinstrument verwandeln. Der
Spielraum, in dem das Individuum seine Auswahl treffen kann,
ist für die Bestimmung des Grades menschlicher Freiheit nicht
entscheidend, sondern was gewählt werden kann und was vom
Individuum gewählt wird. Das Kriterium für freie Auswahl kann
niemals ein absolutes sein, aber es ist auch nicht völlig relativ.
Die freie Wahl der Herren schafft die Herren oder die Sklaven
nicht ab. Freie Auswahl unter einer breiten Mannigfaltigkeit von
Gütern und Dienstleistungen bedeutet keine Freiheit, wenn diese
Güter und Dienstleistungen die soziale Kontrolle über ein
Leben von Mühe und Angst aufrechterhalten - das heißt die
Entfremdung. Und die spontane Reproduktion aufgenötigter
Bedürfnisse durch das Individuum stellt keine Autonomie her;
sie bezeugt nur die Wirksamkeit der Kontrolle.
Wenn wir auf der Tiefe und Wirksamkeit dieser Kontrolle
bestehen, setzen wir uns dem Einwand aus, daß wir die
prägende Macht der »Massenmedien« sehr überschätzen und
daß die Menschen ganz von selbst die Bedürfnisse verspüren
und befriedigen würden, die ihnen jetzt aufgenötigt werden.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Der Einwand greift fehl. Die Präformierung beginnt nicht
mit der Massenproduktion von Rundfunk und Fernsehen
und mit der Zentralisierung ihrer Kontrolle. Die Menschen
treten in dieses Stadium als langjährig präparierte Empfänger
ein; der entscheidende Unterschied besteht in der Einebnung
des Gegensatzes (oder Konflikts) zwischen dem Gegebenen
und dem Möglichen, zwischen den befriedigten und den
nicht befriedigten Bedürfnissen. Hier zeigt die sogenannte
Ausgleichung der Klassenunterschiede ihre ideologische
Funktion. Wenn der Arbeiter und sein Chef sich am selben
Fernsehprogramm vergnügen und dieselben Erholungsorte
besuchen, wenn die Stenotypistin ebenso attraktiv hergerichtet
ist wie die Tochter ihres Arbeitgebers, wenn der Neger einen
Cadillac besitzt, wenn sie alle dieselbe Zeitung lesen, dann
deutet diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der
Klassen hin, sondern auf das Ausmaß, in dem die unterworfene
Bevölkerung an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat,
die der Erhaltung des Bestehenden dienen.
Allerdings ist in den am höchsten entwickelten Bereichen der
gegenwärtigen Gesellschaft die Umsetzung gesellschaftlicher in
individuelle Bedürfnisse derart wirksam, daß der Unterschied
zwischen ihnen rein theoretisch erscheint. Kann man wirklich
zwischen den Massenmedien als Instrumenten der Information
und Unterhaltung und als Agenturen der Manipulation
und Schulung unterscheiden? Zwischen dem Auto als etwas
Lästigem und als bequemer Einrichtung? Zwischen dem Graus
und der Behaglichkeit funktionaler Architektur? Zwischen
der Arbeit für nationale Verteidigung und der Arbeit für den
Gewinn des Konzerns? Zwischen der privaten Lust und der
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
kommerziellen und politischen Nützlichkeit einer Erhöhung
der Geburtenziffer?
Wiederum stehen wir einem der beunruhigendsten Aspekte
der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation gegenüber: dem
rationalen Charakter ihrer Irrationalität. Ihre Produktivität und
Leistungsfähigkeit, ihr Vermögen, Bequemlichkeiten zu erhöhen
und zu verbreiten, Verschwendung in Bedürfnis zu verwandeln
und Zerstörung in Aufbau, das Ausmaß, in dem diese Zivilisation
die Objektwelt in eine Verlängerung von Geist und Körper des
Menschen überführt, macht selbst den Begriff der Entfremdung
fragwürdig. Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder;
sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger,
ihrem Küchengerät. Der Mechanismus selbst, der das Individuum
an seine Gesellschaft: fesselt, hat sich geändert, und die soziale
Kontrolle ist in den neuen Bedürfnissen verankert, die sie
hervorgebracht hat.
Die herrschenden Formen sozialer Kontrolle sind technologisch
in einem neuen Sinne. Zwar ist die technische Struktur und
Wirksamkeit des produktiven und destruktiven Apparats die
ganze Neuzeit hindurch ein Hauptmittel gewesen, die Bevölkerung
der etablierten gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu unterwerfen.
Ferner war solche Integration stets von handgreiflicheren
Formen des Zwangs begleitet: Verlust des Lebensunterhalts,
gerichtliche Sanktionen, Polizei, bewaffnete Streitkräfte. Das ist
noch der Fall. Aber in der gegenwärtigen Periode erscheinen die
technologischen Kontrollen als die Verkörperung der Vernunft
selbst zugunsten aller sozialen Gruppen und Interessen — in
- 33 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
solchem Maße, daß aller Widerspruch irrational scheint und
aller Widerstand unmöglich.
Es ist daher kein Wunder, daß die sozialen Kontrollen in den
fortgeschrittensten Bereichen dieser Zivilisation derart introjiziert
worden sind, daß selbst individueller Protest in seinen Wurzeln
beeinträchtigt wird. Die geistige und gefühlsmäßige Weigerung
»mitzumachen« erscheint als neurotisch und ohnmächtig.
Das ist der sozialpsychologische Aspekt des politischen
Ereignisses, von dem die gegenwärtige Periode gekennzeichnet
ist: das Dahinschwinden der historischen Kräfte, die auf der
vorhergehenden Stufe der Industriegesellschaft die Möglichkeit
neuer Daseinsformen zu vertreten schienen.
Aber vielleicht beschreibt der Terminus »Introjektion« nicht
mehr die Weise, in der das Individuum von sich aus die von seiner
Gesellschaft ausgeübten äußeren Kontrollen reproduziert und
verewigt. Introjektion unterstellt eine Reihe relativ spontaner
Prozesse, vermittels derer ein Selbst (Ich) das »Äußere« ins
»Innere« umsetzt. Damit schließt Introjektion das Bestehen
einer inneren Dimension ein, die von äußeren Erfordernissen
verschieden und ihnen gegenüber sogar antagonistisch ist - ein
individuelles Bewußtsein und ein individuelles Unbewußtes,
unabhängig von der öffentlichen Meinung und dem öffentlichen
Verhalten3. Die Idee der »inneren Freiheit« hat hier ihre Realität:
sie bezeichnet den privaten Raum, worin der Mensch »er selbst«
werden und bleiben kann.
3 Der Funktionswandel der Familie spielt hier eine entscheidende Rolle; ihre
»sozialisierenden« Funktionen werden immer mehr von äußeren Gruppen und Medien
übernommen. Cf. mein Buch Eros and Civilization, Boston 1955, S. 96 ff.; dt.
Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1965, S. 97 ff.
- 34 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Heute wird dieser private Raum durch die technologische
Wirklichkeit angegriffen und beschnitten. Massenproduktion
und -distribution beanspruchen das ganze Individuum, und
Industriepsychologie ist längst nicht mehr auf die Fabrik
beschränkt. Die mannigfachen Introjektionsprozesse scheinen zu
fast mechanischen Reaktionen verknöchert. Das Ergebnis ist nicht
Anpassung, sondern Mimesis: eine unmittelbare Identifikation
des Individuums mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der
Gesellschaft als einem Ganzen.
Diese unmittelbare, automatische Identifikation (die für
primitive Formen der Vergesellschaftung charakteristisch
gewesen sein mag) erscheint aufs neue in der hochindustriellen
Zivilisation; ihre neue »Unmittelbarkeit« ist jedoch das Produkt
einer ausgetüftelten, wissenschaftlichen Betriebsführung und
Organisation. In diesem Prozeß wird die »innere« Dimension
des Geistes beschnitten, in der eine Opposition gegen den Status
quo Wurzeln schlagen kann. Der Verlust dieser Dimension, in
der die Macht negativen Denkens - die kritische Macht der
Vernunft - ihre Stätte hat, ist das ideologische Gegenstück
zu dem sehr materiellen Prozeß, in dem die fortgeschrittene
Industriegesellschaft die Opposition zum Schweigen und mit
sich in Einklang bringt. Die Gewalt des Fortschritts verwandelt
Vernunft in Unterwerfung unter die Lebenstatsachen und
unter das dynamische Vermögen, mehr und größere Tatsachen
derselben Lebensweise herzustellen. Die Leistungsfähigkeit des
Systems macht die Individuen untauglich für die Erkenntnis,
daß es keine Tatsachen enthält, die nicht die repressive Macht
des Ganzen übermitteln. Wenn die Individuen sich in den
Dingen wiederfinden, die ihr Leben gestalten, dann geschieht
- 35 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
das nicht, indem sie den Dingen das Gesetz geben, sondern
indem sie es hinnehmen - nicht das Gesetz der Physik, sondern
das ihrer Gesellschaft.
Ich habe soeben darauf verwiesen, daß der Begriff der
Entfremdung fraglich zu werden scheint, wenn sich die
Individuen mit dem Dasein identifizieren, das ihnen auferlegt
wird, und an ihm ihre eigene Entwicklung und Befriedigung
haben. Diese Identifikation ist kein Schein, sondern Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit bildet jedoch eine fortgeschrittenere Stufe der
Entfremdung aus. Diese ist gänzlich objektiv geworden; das
Subjekt, das entfremdet ist, wird seinem entfremdeten Dasein
einverleibt. Es gibt nur eine Dimension, und sie ist überall und
tritt in allen Formen auf. Die Errungenschaften des Fortschritts
spotten ebenso ideologischer Anklage wie Rechtfertigung;
vor ihrem Tribunal wird das »falsche Bewußtsein« ihrer
Rationalität zum wahren Bewußtsein.
Dieses Aufgehen der Ideologie in der Wirklichkeit bedeutet
jedoch nicht das »Ende der Ideologie«. Im Gegenteil, in
einem bestimmten Sinne ist die fortgeschrittene industrielle
Kultur ideologischer als ihre Vorgängerin, insofern nämlich,
als heute die Ideologie im Produktionsprozeß selbst steckt4.
In provokativer Form offenbart dieser Satz die politischen
Aspekte der herrschenden technologischen Rationalität. Der
Produktionsapparat und die Güter und Dienstleistungen,
die er hervorbringt, »verkaufen« das soziale System als
Ganzes oder setzen es durch. Die Mittel des Massentransports
und der Massenkommunikation, die Gebrauchsgüter
4 Theodor W.Adorno, Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt 1955, S.24f.
- 36 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Wohnung, Nahrung, Kleidung, die unwiderstehliche Leistung
der Unterhaltungs- und Nachrichtenindustrie gehen mit
verordneten Einstellungen und Gewohnheiten, mit geistigen
und gefühlsmäßigen Reaktionen einher, die die Konsumenten
mehr oder weniger angenehm an die Produzenten binden und
vermittels dieser ans Ganze. Die Erzeugnisse durchdringen
und manipulieren die Menschen; sie befördern ein falsches
Bewußtsein, das gegen seine Falschheit immun ist. Und indem
diese vorteilhaften Erzeugnisse mehr Individuen in mehr
gesellschaftlichen Klassen zugänglich werden, hört die mit
ihnen einhergehende Indoktrination auf, Reklame zu sein; sie
wird ein Lebensstil, und zwar ein guter — viel besser als früher
-, und als ein guter Lebensstil widersetzt er sich qualitativer
Änderung. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens
und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem
Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln
transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses
Universums herabgesetzt werden. Sie werden neubestimmt von
der Rationalität des gegebenen Systems und seiner quantitativen
Ausweitung.
Diese Tendenz kann mit einer Entwicklung der
wissenschaftlichen Methode zusammengebracht werden:
mit dem Operationalismus in den Naturwissenschaften, dem
Behaviorismus in den Sozialwissenschaften. Ihr gemeinsamer
Zug ist ein totaler Empirismus, was die Behandlung der
Begriffe angeht; ihr Sinn wird auf die Darstellung partikularer
Operationen und partikularen Verhaltens eingeengt. Der
Operationelle Gesichtspunkt wird von P. W. Bridgmans Analyse
des Begriffs der Länge gut verdeutlicht:
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
»Wir wissen eindeutig, was wir unter Länge verstehen, wenn
wir sagen können, wie lang jedes beliebige Objekt ist; und
für den Physiker ist außerdem nichts erforderlich. Um die
Länge eines Objekts herauszufinden, müssen wir bestimmte
physikalische Operationen durchführen. Der Begriff der Länge
ist daher festgelegt, wenn die Operationen festgelegt sind,
wodurch die Länge gemessen wird: das heißt, der Begriff der
Länge enthält nur so viel wie die Reihe von Operationen,
wodurch die Länge bestimmt wird. Im allgemeinen verstehen
wir unter irgendeinem Begriff nichts als eine Reihe von
Operationen; der Begriff ist gleichbedeutend mit der
entsprechenden Reihe von Operationen.«5
Bridgman hat die weitreichenden Implikationen dieser
Denkweise für die Gesellschaft insgesamt gesehen:
»Den operationellen Gesichtspunkt zu übernehmen, involviert
weit mehr als die bloße Einschränkung des Sinnes, in dem wir
den >Begriff< verstehen, es liegt vielmehr eine weitreichende
Änderung aller unserer Denkgewohnheiten darin, daß wir es
uns künftig versagen, Begriffe als Werkzeuge unseres Denkens
zu gebrauchen, von denen wir uns nicht hinreichend als
Operationen Rechenschaft ablegen können.«6
Bridgmans Voraussage hat sich bewahrheitet. Die neue
Denkweise ist die heute in Philosophie, Psychologie, Soziologie
5 P. W. Bridgman, The Logic of Modern Physics, New York, Macmillan, 1928, S. 5. Die
operationelle Lehre ist seitdem verfeinert und abgewandelt worden. Bridgman selbst hat
den Begriff der »Operation« dahingehend erweitert, daß er auch die Operationen des
Theoretikers mit »Papier und Bleistift« einschließt (in: Philipp J. Frank, The Validation
of Scientific Theories, Boston, Beacon Press, 1954, Kapitel II). Der Hauptimpuls bleibt
derselbe: es ist »wünschenswert«, daß die Operationen mit Papier und Bleistift »eines
schließlichen Kontaktes, obzwar vielleicht indirekt, mit instrumentellen Operationen fähig
seien«.
6 The Logic of Modern Physics, loc. cit., S. 3 f.
- 38 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
und anderen Bereichen vorherrschende Tendenz. Viele der
allerlästig-sten Begriffe werden durch den Nachweis »eliminiert«,
daß man sich über sie im Sinne von Operationen oder des
Verhaltens nicht hinreichend Rechenschaft ablegen kann. Der
radikale empiristische Angriff (ich werde später in den Kapiteln
7 und 8 seinen Anspruch, empiristisch zu sein, untersuchen) liefert
so die methodologische Rechtfertigung für die Herabminderung
des Geistes durch die Intellektuellen - ein Positivismus, der
damit, daß er die transzendierenden Elemente der Vernunft
leugnet, das akademische Gegenstück bildet zum gesellschaftlich
erforderten Verhalten.
Außerhalb der akademischen Sphäre ist die »weitreichende
Änderung aller unserer Denkgewohnheiten« ernster. Sie dient
dazu, die Gedanken und Ziele denjenigen gleichzuordnen, die
das herrschende System erzwingt, und diejenigen abzuwehren,
die mit dem System unversöhnbar sind. Die Herrschaft einer
solchen eindimensionalen Realität bedeutet nicht, daß der
Materialismus herrscht und es mit geistigen, metaphysischen und
künstlerischen Beschäftigungen zu Ende geht. Im Gegenteil, es
gibt allerhand im Stil von »Gemeinsamer Gottesdienst diese
Woche«, »Warum es nicht einmal mit Gott versuchen«, Zen,
Existentialismus und Beatniks usf. Aber solche Arten von
Protest und Transzendenz stehen nicht mehr im Widerspruch
zum Status quo und sind nicht mehr negativ. Sie sind vielmehr
der feierliche Teil des praktischen Behaviorismus, seine
harmlose Negation, und werden vom Status quo als Teil seiner
gesunden Kost rasch verdaut.
- 39 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Das eindimensionale Denken wird von den Technikern
der Politik und ihren Lieferanten von Masseninformation
systematisch gefördert. Ihr sprachliches Universum ist voller
Hypothesen, die sich selbst bestätigen und die, unaufhörlich und
monopolistisch wiederholt, zu hypnotischen Definitionen oder
Diktaten werden. »Frei« zum Beispiel sind die Institutionen,
die sich in den Ländern der Freien Welt betätigen (und mit denen
operiert wird); andere transzendierende Arten von Freiheit
sind ex definitione entweder Anarchismus, Kommunismus
oder Propaganda. »Sozialistisch« sind alle Eingriffe in private
Unternehmen, die nicht seitens der freien Wirtschaft selbst
(oder durch Regierungsverträge) erfolgen, wie allgemeine
und umfassende Krankenversicherung oder der Schutz der
Natur vor allzu durchgreifender Kommerzialisierung oder
die Einrichtung öffentlicher Dienste, die dem privaten Profit
schaden können. Diese totalitäre Logik der vollendeten
Tatsachen hat ihr östliches Gegenstück. Dort ist Freiheit die
von einem kommunistischen Regime eingeführte Lebensweise,
und alle anderen, transzendierenden Arten von Freiheit
sind entweder kapitalistisch oder revisionistisch oder linkes
Sektierertum. In beiden Lagern sind nichtoperationelle
Gedanken nicht aufs Verhalten abgestellt und subversiv. Die
Denkbewegung wird vor Schranken angehalten, die als die
Grenzen der Vernunft selbst erscheinen.
Solche Beschränkung des Denkens ist sicher nichts
Neues. Der aufsteigende moderne Rationalismus zeigt in
seiner spekulativen wie in seiner empiristischen Form einen
auffallenden Gegensatz zwischen extremem, kritischem
Radikalismus in der wissenschaftlichen und philosophischen
- 40 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Methode auf der einen Seite und einem unkritischen
Quietismus in der Haltung gegenüber den etablierten und
funktionierenden gesellschaftlichen Institutionen auf der anderen.
So sollte Descartes‘ ego cogitans die »großen öffentlichen
Körper« unberührt lassen, und Hobbes war der Ansicht, daß
»das Gegenwärtige stets vorgezogen, erhalten und für am besten
erachtet werden sollte«. Kant stimmte mit Locke darin überein,
daß die Revolution dann zu rechtfertigen sei, falls und wenn es
ihr gelungen ist, das Ganze zu organisieren und einen Umsturz
zu verhindern.
Diesen sich anpassenden Vernunftbegriffen widersprachen
jedoch stets das offenkundige Elend und die Ungerechtigkeit der
»großen politischen Körper« und die wirksame, mehr oder minder
bewußte Rebellion gegen sie. Es bestanden gesellschaftliche
Verhältnisse, die eine wirkliche Absage an den gegebenen
Zustand hervorriefen und gestatteten; es gab eine private wie
politische Dimension, worin diese Absage sich zu wirksamer
Opposition entwickeln konnte, die ihre Kraft erprobte und die
Gültigkeit ihrer Ziele.
Mit der allmählichen Absperrung dieser Dimension durch die
Gesellschaft nimmt die Selbstbeschränkung des Denkens eine
umfassendere Bedeutung an. Die Wechselbeziehung zwischen
wissenschaftlich-philosophischen und gesellschaftlichen Prozessen,
zwischen theoretischer und praktischer Vernunft setzt sich »hinter
dem Rücken« der Wissenschaftler und Philosophen durch.
Die Gesellschaft behindert einen ganzen Typ oppositionellen
Verhaltens; damit werden die ihm zugehörigen Begriffe
illusorisch gemacht oder sinnlos. Geschichtliche Transzendenz
- 41 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
erscheint als metaphysische Transzendenz, unannehmbar für
die Wissenschaft und wissenschaftliches Denken. Im großen
als »Denkgewohnheit« praktiziert, wird der operationelle
und behavioristische Gesichtspunkt zu dem des etablierten
Universums von Sprache und Handeln, von Bedürfnissen
und Bestrebungen. Die »List der Vernunft« arbeitet, wie so
oft, im Interesse der bestehenden Mächte. Die Insistenz auf
operationellen und behavioristischen Begriffen richtet sich gegen
die Anstrengungen, Denken und Verhalten von der gegebenen
Wirklichkeit und für die unterdrückten Alternativen zu befreien.
Theoretische und praktische Vernunft, akademischer und sozialer
Behaviorismus begegnen sich auf gemeinsamem Boden: auf dem
einer fortgeschrittenen Gesellschaft, die den wissenschaftlichen
und technischen Fortschritt in ein Herschaftsinstrument
verwandelt.
»Fortschritt« ist kein neutraler Begriff, er bewegt sich
auf bestimmte Ziele zu, und diese Ziele sind von den
Möglichkeiten bestimmt, die menschliche Lage zu verbessern.
Die fortgeschrittene Industriegesellschaft nähert sich dem
Stadium, wo weiterer Fortschritt den radikalen Umsturz der
herrschenden Richtung und Organisation des Fortschritts
erfordern würde. Dieses Stadium wäre erreicht, wenn die
materielle Produktion (einschließlich der notwendigen
Dienstleistungen) dermaßen automatisiert wird, daß alle
Lebensbedürfnisse befriedigt werden und sich die notwendige
Arbeitszeit zu einem Bruchteil der Gesamtzeit verringert. Von
diesem Punkt an würde der technische Fortschritt das Reich
der Notwendigkeit transzendieren, in dem er als Herrschafts-
und Ausbeutungsinstrument diente, was wiederum seine
- 42 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Rationalität eingeschränkt hat; die Technik würde dem freien
Spiel der Anlagen im Kampf um die Befriedung von Natur
und Gesellschaft unterworfen.
Ein solcher Zustand ist in dem Marxschen Begriff der
»Aufhebung der Arbeit« ins Auge gefaßt. Der Ausdruck
»Befriedung des Daseins« scheint besser geeignet, die
geschichtliche Alternative zu einer Welt zu bezeichnen, die -
infolge eines internationalen Konflikts, der die Widersprüche
innerhalb der etablierten Gesellschaft umformt und suspendiert
- am Rande eines erdumspannenden Krieges fortschreitet.
»Befriedung des Daseins« bedeutet, daß sich der Kampf des
Menschen mit dem Menschen und der Natur unter Bedingungen
entfaltet, worin die miteinander wetteifernden Bedürfnisse,
Wünsche und Bestrebungen nicht mehr von hergebrachten
Mächten organisiert werden, die an Herrschaft und Knappheit
interessiert sind - eine Organisation, welche die zerstörerischen
Formen dieses Kampfes verewigt.
Der heutige Kampf gegen diese geschichtliche Alternative
findet eine feste Massenbasis in der unterworfenen Bevölkerung
und seine Ideologie in der strengen Orientierung von Denken
und Verhalten am gegebenen Universum von Tatsachen.
Bestärkt durch die Leistungen von Wissenschaft und Technik,
gerechtfertigt durch seine anwachsende Produktivität, spottet
der Status quo aller Transzendenz. Der Möglichkeit einer
Befriedung aufgrund ihrer technischen und geistigen Leistungen
gegenübergestellt, sperrt sich die reife Industriegesellschaft
gegen diese Alternative. Operationalismus in Theorie und
Praxis wird zur Theorie und Praxis der Eindämmung. Unter
- 43 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
ihrer handgreiflichen Dynamik ist diese Gesellschaft ein völlig
statisches System des Lebens: sie reproduziert sich stets aufs
neue in ihrer unterdrückenden Produktivität und vorteilhaften
Gleichschaltung. Die Eindämmung des technischen Fortschritts
geht Hand in Hand mit seinem Anwachsen in der festgelegten
Richtung. Ganz abgesehen von den politischen Fesseln, die der
Status quo dem Menschen auferlegt, wird dieser an Leib und
Seele gegen die Alternative organisiert, und dies umsomehr, je
mehr die Technik imstande scheint, die Bedingungen für die
Befriedung hervorzubringen.
Die fortgeschrittensten Bereiche der Industriegesellschaft
weisen durchweg diese beiden Züge auf: eine Tendenz zur
Vollendung der technologischen Rationalität und intensive
Bestrebungen, diese Tendenz im Rahmen der bestehenden
Institutionen zu halten. Darin besteht der innere Widerspruch
dieser Zivilisation: das irrationale Element ihrer Rationalität.
Es ist der Beweis ihrer Leistungen. Die Industriegesellschaft,
die sich Technik und Wissenschaft zu eigen macht, wird für die
stets wirksamer werdende Herrschaft über Mensch und Natur
organisiert, für die stets wirksamer werdende Ausnutzung ihrer
Ressourcen. Sie wird irrational zu einem Zeitpunkt, wo der
Erfolg dieser Anstrengungen neue Dimensionen menschlicher
Verwirklichung eröffnet. Die Organisation für den Frieden ist
von der für den Krieg verschieden; die Institutionen, die dem
Kampf ums Dasein dienten, können nicht der Befriedung des
Daseins dienen. Das Leben als Zweck ist qualitativ verschieden
vom Leben als Mittel.
- 44 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Solch eine qualitativ neue Daseinsweise kann niemals
als das bloße Nebenprodukt ökonomischer und politischer
Veränderungen angesehen werden, als mehr oder weniger spontane
Auswirkung der neuen Institutionen, welche die notwendige
Vorbedingung bilden. Qualitative Änderung schließt auch eine
Änderung der technischen Basis ein, auf der diese Gesellschaft
beruht — eine Basis, die die ökonomischen und politischen
Institutionen fortbestehen läßt, vermittels derer die »zweite
Natur« des Menschen als eines aggressiven Verwaltungsobjekts
gefestigt wird. Die Techniken der Industrialisierung sind
politische Techniken; als solche entscheiden sie im vorhinein über
die Möglichkeiten von Vernunft und Freiheit.
Freilich muß Arbeit der Reduktion der Arbeit vorausgehen
und Industrialisierung der Entwicklung menschlicher Bedürfnisse
und Befriedigungen. Da aber alle Freiheit von der Bewältigung
fremder Notwendigkeit abhängt, hängt die Verwirklichung der
Freiheit von den Techniken dieser Bewältigung ab. Die höchste
Arbeitsproduktivität läßt sich zur Verewigung der Arbeit
verwenden, und die leistungsstärkste Industrialisierung kann der
Beschränkung und Manipulation der Bedürfnisse dienen.
Wenn dieser Punkt erreicht ist, erstreckt sich Herrschaft – in der
Maske von Überfluß und Freiheit – auf alle Bereiche des privaten
und öffentlichen Daseins, integriert alle wirkliche Opposition und
verleibt sich alle Alternativen ein. Die technologische Rationalität
offenbart ihren politischen Charakter, indem sie zum großen
Vehikel besserer Herrschaft wird und ein wahrhaft totalitäres
Universum hervorbringt, in dem Gesellschaft und Natur, Geist
- 45 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
und Körper in einem Zustand unaufhörlicher Mobilisation zur
Verteidigung dieses Universums gehalten werden.
- 46 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
2 Die Abriegelung des Politischen
Die auf den fortgeschrittensten Gebieten der industriellen
Zivilisation Gestalt annehmende Gesellschaft der totalen
Mobilisierung verbindet in produktiver Einheit die Züge des
Wohlfahrts- mit denen des Kriegsführungsstaates (Warfare
State). Verglichen mit ihren Vorgängerinnen, ist sie in der
Tat eine »neue Gesellschaft«. Traditionelle Unruheherde
werden jetzt beseitigt oder isoliert, auflösende Elemente
gebändigt. Die Haupttendenzen sind bekannt: Konzentration
der Volkswirtschaft auf die Bedürfnisse der großen Konzerne,
wobei die Regierung sich als anregende, unterstützende
und manchmal sogar kontrollierende Kraft betätigt;
Verflechtung dieser Wirtschaft mit einem weltweiten System
von militärischen Bündnissen, monetären Übereinkünften,
technischer Hilfe und Entwicklungsplänen; allmähliche
Angleichung der Arbeiter- an die Angestelltenbevölkerung,
der Führungstypen bei den Unternehmer- und Arbeitn
ehmerorganisationen, der Freizeitbeschäftigungen und
Wünsche der verschiedenen sozialen Klassen; Förderung
einer prästabilierten Harmonie zwischen Wissenschaft und
nationalem Anliegen; Angriff auf die Privatsphäre durch die
Allgegenwart der öffentlichen Meinung, Auslieferung des
Schlafzimmers an die Kommunikation der Massenmedien.
Im politischen Bereich offenbart sich diese Tendenz in einer
auffälligen Vereinigung oder Konvergenz der Gegensätze. Das
Zwei-Parteien-System in der Außenpolitik setzt sich unter der
Bedrohung durch den internationalen Kommunismus über
- 47 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
konkurrierende Gruppeninteressen hinweg und dehnt sich
auf die Innenpolitik aus, in der die Programme der großen
Parteien selbst im Grad der Heuchelei und im Geruch der
Clichés immer ununterscheidbarer werden. Diese Vereinigung
der Gegensätze wirkt sich gerade dort auf die Möglichkeiten
einer gesellschaftlichen Änderung aus, wo sie diejenigen
Schichten umfaßt, auf deren Rücken das System fortschreitet
– das heißt gerade die Klassen, deren Existenz einmal die
Opposition gegen das System als Ganzes verkörperte.
In den Vereinigten Staaten stellt man das abgekartete
Spiel und die Allianz von Geschäftswelt und organisierter
Arbeiterschaft fest; in Labor Looks at Labor: A Conversation,
1963 vom Center for the Study of Democratic Institutions
veröffentlicht, wird uns folgendes mitgeteilt:
»Inzwischen ist die Gewerkschaft in ihren eigenen Augen von
dem Konzern fast ununterscheidbar geworden. Wir stehen
heute dem Phänomen gegenüber, daß Gewerkschaften
und Konzerne gemeinsam als Lobbyisten auftreten. Die
Gewerkschaft wird nicht imstande sein, die Arbeiter in
der Raketenproduktion davon zu überzeugen, daß die
Unternehmung, für die sie arbeiten, ihr Gegner ist, wenn es
der Gewerkschaft wie dem Konzern darum geht, größere
Raketenverträge zu erhandeln, und beide versuchen, andere
Verteidigungsindustrien in das Gebiet zu bekommen, oder
wenn sie gemeinsam vor dem Kongreß erscheinen und
gemeinsam verlangen, daß Raketengeschosse statt Bomber
gebaut werden oder Bomben statt Raketengeschosse, je nach
dem Vertrag, den sie gerade haben«.
- 48 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Die britische Labour Party, deren Führer mit ihrer
konservativen Gegenseite wetteifern in der Beförderung
nationaler Interessen, hat alle Mühe, auch nur ein bescheidenes
Programm teilweiser Nationalisierung zu retten. In
Westdeutschland, das die Kommunistische Partei geächtet
hat, beweist die Sozialdemokratische Partei in überzeugender
Weise ihre Respektabilität, nachdem sie sich offiziell von
ihren marxistischen Programmen losgesagt hat. So steht es
in den führenden Industrieländern des Westens. Im Osten
bezeugt die allmähliche Abnahme direkter politischer
Kontrollen, daß man sich zunehmend auf die Wirksamkeit
technischer Kontrollen als Herrschaftsinstrumente verläßt.
Was die starken kommunistischen Parteien in Frankreich und
Italien angeht, so bestätigen sie den allgemeinen Trend der
Umstände, indem sie einem Minimalprogramm anhängen,
das die revolutionäre Machtergreifung ad acta legt und den
Regeln des parlamentarischen Spiels genügt.
Während es jedoch falsch ist, die französische und die
italienische Partei in dem Sinne als »fremd« zu betrachten,
daß sie von einer auswärtigen Macht gestützt werden, ist
in dieser Propaganda ein unbeabsichtigter Wahrheitskern
enthalten: sie sind insofern fremd, als sie Zeugen
einer vergangenen (oder künftigen?) Geschichte in der
gegenwärtigen Wirklichkeit sind. Wenn sie sich bereitgefunden
haben, im Rahmen des bestehenden Systems zu arbeiten, so
nicht nur aus taktischen Gründen und im Sinne kurzfristiger
Strategie, sondern weil ihre gesellschaftliche Basis infolge der
Umformung des kapitalistischen Systems geschwächt und ihre
Ziele geändert wurden (ganz wie die Ziele der Sowjetunion,
- 49 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
die diese Änderung der Politik bekräftigt hat). Diese
nationalen kommunistischen Parteien spielen die historische
Rolle legaler Oppositionsparteien, die zur Nichtradikalität
»verdammt« sind. Sie zeugen von der Tiefe und Reichweite
der kapitalistischen Integration und von Verhältnissen, die
die qualitative Differenz widerstreitender Interessen als
quantitative Differenzen innerhalb der etablierten Gesellschaft
erscheinen lassen.
Keine tiefgehende Analyse scheint notwendig, um die Gründe
für diese Entwicklungen zu finden. Was den Westen angeht:
die früheren Konflikte in der Gesellschaft werden unter der
doppelten (und auf Wechselseitigkeit beruhenden) Einwirkung
von technischem Fortschritt und internationalem Kommunismus
modifiziert und geschlichtet. Die Klassenkämpfe werden
abgeschwächt, und die »imperialistischen Widersprüche«
bleiben angesichts der Bedrohung von außen unausgetragen.
Mobilisiert gegen diese Bedrohung, zeigt die kapitalistische
Gesellschaft eine innere Einheit und Kohärenz, wie sie auf
früheren Stufen der industriellen Zivilisation unbekannt war.
Es handelt sich um eine Kohärenz, die sehr materielle Gründe
hat; die Mobilisierung gegen den Feind wirkt als mächtiger
Antrieb zu Produktion und Beschäftigung und erhält so den
hohen Lebensstandard.
Auf diesem Boden erhebt sich ein Universum von
Verwaltungsakten, worin wirtschaftliche Flauten kontrolliert
und Konflikte stabilisiert werden durch die heilsamen
Auswirkungen wachsender Produktivität und eines
drohenden nuklearen Krieges. Ist diese Stabilisierung in
- 50 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
dem Sinne »zeitlich befristet«, daß sie die Wurzeln der
Konflikte unberührt läßt, die Marx in der kapitalistischen
Produktionsweise fand (Widerspruch zwischen Privateigentum
an den Produktionsmitteln und gesellschaftlicher Produktivität),
oder ist sie eine Umformung der antagonistischen Struktur
selbst, welche die Konflikte löst indem sie sie erträglich
macht? Und falls die zweite Alternative zutrifft, wie ändert sie
das Verhältnis von Kapitalismus und Sozialismus, das diesen als
historische Negation von jenem erscheinen ließ?
Die Unterbindung des gesellschaftlichen Wandels
Die klassische Marxsche Theorie stellt sich den Übergang
vom Kapitalismus zum Sozialismus als eine Revolution vor: das
Proletariat zerstört den politischen Apparat des Kapitalismus,
behält aber den technischen Apparat bei und unterwirft ihn
der Sozialisierung. In der Revolution gibt es eine Kontinuität:
befreit von irrationalen Schranken und Zerstörungen, erhält
und vollendet sich die technologische Rationalität in der
neuen Gesellschaft. Es ist interessant, eine sowjetmarxistische
Äußerung zu dieser Kontinuität zu lesen, die für den Begriff des
Sozialismus als der bestimmten Negation des Kapitalismus von
solch großer Wichtigkeit ist:
»1. Obgleich die Entwicklung der Technik den ökonomischen
Gesetzen einer jeden Gesellschaftsformation unterliegt,
endet sie nicht, wie andere ökonomische Faktoren, mit dem
Ungültig-Werden der Gesetze der Formation. Wenn im Prozeß
der Revolution die alten Produktionsverhältnisse gesprengt
- 51 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
werden, bleibt die Technik erhalten und entwickelt sich – den
ökonomischen Gesetzen der neuen ökonomischen Formation
unterworfen – weiter, und zwar mit erhöhtem Tempo. 2.
Im Gegensatz zur Entwicklung der ökonomischen Basis in
antagonistischen Gesellschaften entwickelt sich die Technik
nicht sprunghaft, sondern durch eine allmähliche Anhäufung
von Elementen einer neuen Qualität, während die Elemente
der alten Qualität verschwinden. 3. [unwichtig in diesem
Zusammenhang].«1
Im fortgeschrittenen Kapitalismus ist technische
Rationalität trotz ihrer irrationalen Anwendung im
Produktionsapparat verkörpert. Das gilt nicht nur für
mechanisierte Fabriken, Werkzeuge und die Erschließung
von Ressourcen, sondern auch für die Arbeitsweise als
Anpassung an den maschinellen Prozeß und seine Lenkung,
wie sie im »wissenschaftlichen Management« erfolgen. Weder
Verstaatlichung noch Sozialisierung ändern von sich aus
diese materielle Verkörperung technologischer Rationalität;
im Gegenteil, letztere bleibt eine Vorbedingung für die
sozialistische Entwicklung aller Produktivkräfte.
Freilich war Marx der Ansicht, daß die Organisation und
Leitung des Produktionsapparats durch die »unmittelbaren
Produzenten« eine qualitative Änderung in die technische
Kontinuität einführen würde: nämlich Produktion zur
Befriedigung sich frei entfaltender individueller Bedürfnisse.
In dem Maße jedoch, wie der bestehende technische Apparat
l A. Zworikine, »The History of Technology as a Science and as a Branch of Learning; a
Soviet view«, in: Technology und Culture, Detroit, Wayne University Press, Winter
1961, S. 2.
- 52 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
das öffentliche und private Dasein in allen Bereichen der
Gesellschaft verschlingt – das heißt zum Medium von Kontrolle
und Zusammenhalt in einem politischen Universum wird, das
sich die arbeitenden Klassen einverleibt – in dem Maße würde
die qualitative Änderung eine solche in der technologischen
Struktur selbst nach sich ziehen. Und eine derartige Änderung
würde voraussetzen, daß die arbeitenden Klassen ihrer
ganzen Existenz nach diesem Universum entfremdet sind,
daß ihr Bewußtsein das der totalen Unmöglichkeit ist,
in diesem Universum fortzubestehen, so daß es bei dem
Bedürfnis nach qualitativer Änderung um Leben und Tod
geht. Daher besteht die Negation vor der Änderung selbst;
die Vorstellung, daß die befreienden historischen Kräfte sich
innerhalb der etablierten Gesellschaft entwickeln, ist ein
Eckstein der Marxschen Theorie2.
Nun wird gerade dieses neue Bewußtsein, dieser
»Innenraum«, der Raum für die transzendierende
geschichtliche Praxis von einer Gesellschaft abgeriegelt, in
der die Subjekte wie die Objekte Mittel in einem Ganzen sind,
das seine raison d’ être in den vielfältigen Leistungen seiner
überwältigenden Produktivität hat.
Sein höchstes Versprechen ist ein stets bequemer werdendes Leben
für eine stets zunehmende Anzahl von Menschen, die sich – in
einem strengen Sinne – kein qualitativ anderes Universum von
Sprache und Handeln vorstellen können; denn die Fähigkeit,
subversive Vorstellungen und Bestrebungen einzudämmen
und zu manipulieren, ist ein wesentlicher Teil der bestehenden
2 Cf. S. 61.
- 53 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Gesellschaft. Jene, die in der Hölle der Gesellschaft im Überfluß
leben müssen, werden mit einer Brutalität bei der Stange
gehalten, die mittelalterliche Praktiken und solche der frühen
Neuzeit wiederbelebt. Bei den anderen, weniger benachteiligten
Menschen nimmt sich die Gesellschaft des Bedürfnisses nach
Befreiung an, indem sie die Bedürfnisse befriedigt, die die
Sklaverei schmackhaft und vielleicht sogar unbemerkbar machen,
und sie erreicht diese Tatsache im Produktionsprozeß selbst.
Unter seiner Einwirkung unterliegen die arbeitenden Klassen
in den fortgeschrittenen Bereichen der industriellen Zivilisation
einer entscheidenden Transformation, die zum Gegenstand einer
umfassenden soziologischen Forschung geworden ist. Ich werde
die Hauptfaktoren dieser Transformation aufzahlen:
1. Die Mechanisierung setzt die bei der Arbeit verausgabte
Quantität und Intensität körperlicher Energie immer mehr herab.
Diese Entwicklung ist für den Marxschen Begriff des Arbeiters
(Proletariers) von großer Tragweite. Für Marx ist der Proletarier
in erster Linie der Handarbeiter, der seine körperliche Energie
im Arbeitsprozeß verausgabt und erschöpft, selbst wenn er mit
Maschinen arbeitet. Der Kauf und Gebrauch dieser körperlichen
Energie unter unmenschlichen Verhältnissen zur privaten
Aneignung von Mehrwert zog die empörenden, unmenschlichen
Aspekte der Ausbeutung nach sich; der Marxsche Begriff
denunziert die körperliche Pein und das Elend der Arbeit. Das
ist das materielle, greifbare Element der Lohnsklaverei und
Entfremdung – die physiologische und biologische Dimension
des klassischen Kapitalismus.
»Pendant les siècles passés, une cause importante d‘aliénation
résidait dans le fait que l‘être humain prêtait son individualité
biologique à l‘organisation technique: il était porteur d‘outils;
- 54 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
les ensembles techniques ne pouvaient se constituer qu‘en in-
corporant l‘homme comme porteur d‘outils. Le caractère
déformant de la profession était à la fois psychique et
somatique.«3
Jetzt modifiziert die stets vollkommener werdende
Mechanisierung der Arbeit im fortgeschrittenen Kapitalismus
bei beibehaltener Ausbeutung die Einstellung und den Status
der Ausgebeuteten. Innerhalb des technologischen Ganzen
bleibt die mechanisierte Arbeit, bei der automatische
und halbautomatische Reaktionen den größeren Teil
der Arbeitszeit (wenn nicht die ganze) erfüllen, als
lebenslängliche Tätigkeit eine anstrengende, abstumpfende,
unmenschliche Sklaverei – die sogar anstrengender ist wegen
der erhöhten Beschleunigung und Kontrolle der mehr an
der Maschine (als am Produkt) Tätigen und der Isolierung
der Arbeiter voneinander4. Freilich druckt sich in dieser
Art Plackerei gehemmte, teilweise Automation aus, das
Nebeneinander von automatisierten, halbautomatisierten
und nicht-automatisierten Abteilungen in derselben Fabrik,
aber selbst unter diesen Verhältnissen »hat die Technik die
Ermüdung der Muskeln durch Angespanntheit und (oder)
geistige Anstrengung ersetzt«5. Was die fortgeschritteneren
3 »Während der vergangenen Jahrhunderte bestand eine wichtigc Ursache
der Entfremdung darin, daß der Mensch seine biologische Individualität an
die technische Organisation auslieferte er war der Träger der Werkzeuge, die
technischen Einheiten konnten sich nur so ausbilden, daß sie sich den Menschen
als Trager der Werkzeuge einverleibten Der deformierende Charakter der Tätigkeit
war ein zu gleich seelischer und körperlicher « Gilbert Simondon, Du mode
d‘existence des objets techniques, Paris 1958, S, 103, Fußnote
4 Cf Charles Denby, »Workers Battlc Automation«, in News and Letters, Detroit 1960
5 Charles R Walker, Toward the Automatic Factory, New Haven, Yale University
Press, 1957, S. XIX
- 55 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
automatischen Fabriken angeht, so wird die Umwandlung von
körperlicher Energie in technische und geistige Fertigkeiten
hervorgehoben:
» ... Fertigkeiten des Kopfes eher als solche der Hand, des
Logikers eher als des Handwerkers, der Nerven eher als
der Muskeln, des Lenkers eher als des manuell Tatigen, des
Instandhalters eher als des Bedieners.«6
Diese Art meisterhafter Versklavung ist nicht wesent-
lich verschieden von der des Maschinenschreibers, Bank-
kassierers, des unter Hochdruck arbeitenden Verkäufers oder
der Verkäuferin und des Fernsehansagers. Standardisierung und
Routine gleichen produktive und unproduktive Tätigkeiten
einander an. Der Proletarier auf früheren Stufen des
Kapitalismus war zwar das Lasttier, das durch die Arbeit seines
Körpers für die Lebens- und Luxusbedürfnisse sorgte, während
er in Dreck und Armut lebte. Damit aber war er die lebendige
Absage an diese Gesellschaft7. Demgegenüber verkörpert der
organisierte Arbeiter in den fortgeschrittenen Bereichen der tech-
nologischen Gesellschaft diese Absage weniger deutlich und wird
gegenwärtig, wie die anderen menschlichen Objekte der gesell-
schaftlichen Arbeitsteilung, der technischen Gemeinschaft der
verwalteten Bevölkerung einverleibt. Überhaupt scheint in den
erfolgreichsten Bereichen der Automation eine Art technischer
6 Ibid , S 195
7 Man muß auf dem inneren Zusammenhang zwischen den Marxschen Begriffen der
Ausbeutung und der Verelendung trotz späterer Neubestimmungen bestehen, bei denen
die Verelendung entweder ein kultureller Aspekt oder derart relativ wird, daß er auch
auf ein Vorstadthaus mit Auto, Fernsehgerät usw. zutrifft. »Verelendung« bedeutet das
absolute Bedürfnis und die absolute Notwendigkeit, unerträgliche Existenzbedingungen
umzuwälzen, und ein solches absolutes Bedürfnis erscheint in den Anfängen aller Revolution
gegen die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen.
- 56 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Gemeinschaft die Menschenatome bei der Arbeit zu integrieren.
Die Maschine scheint denen, die sie bedienen, einen betäubenden
Rhythmus beizubringen:
»Es besteht allgemeine Übereinkunft darüber, daß
wechselseitige Bewegungen, die von einer Gruppe von
Personen ausgeführt werden, die einem rhythmischen Schema
folgen, Befriedigung gewähren – ganz abgesehen davon,
was durch die Bewegungen hervorgebracht wird.«8
Und der soziologische Beobachter sieht darin einen Grund für
die allmähliche Entwicklung eines »allgemeinen Betriebsklimas«,
das für die Produktion wie für bestimmte wichtige Arten
menschlicher Befriedigung günstig ist«. Er spricht vom »Wachsen
eines starken Gruppen-Gefühls bei jedem Arbeitsteam« und
führt einen Arbeiter an: »Alles in allem schwingen wir mit den
Dingen mit...«(... we are in the swing of things)9. Dieser Satz
drückt in bewundernswerter Weise den in der mechanisierten
Versklavung eingetretenen Wandel aus: die Dinge schwingen
mehr, als daß sie unterdrücken, und sie schwingen das
menschliche Instrument – nicht nur seinen Körper, sondern
auch seinen Geist und sogar seine Seele. Eine Bemerkung
Sartres erläutert, wie tief dieser Prozeß geht:
»Aux premiers temps des machines semi-automatiques,
des enquêtes ont montré que les ouvriéres spécialisées se
laissaient aller, en travaillant, à une rêverie d‘ordre sexuel,
elles se rappelaient la chambre, le lit, la nuit, tout ce qui
ne concerne que la personne dans la solitude du couple
8 Charles R. Walker, loc. cit., S. 104.
9 Ibid., S. 104 f.
- 57 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
fermé sur soi. Mais c‘est la machine en elle qui rêvait de
caresses...«10
Der maschinelle Prozeß im technologischen Universum
zerstört die innerste Privatsphäre der Freiheit und vereinigt
Sexualität und Arbeit in einem unbewußten, rhythmischen
Automatismus – ein Prozeß, der dazu parallel läuft, daß die
Beschäftigungen einander ähnlich werden.
2. Dieser Trend zur Angleichung läßt sich dartun an
der berufsmäßigen Schichtung. In den Schlüsselindustrien
geht die Tätigkeit von Arbeitern im Verhältnis zu der von
Angestellten zurück; die Zahl nicht in der Produktion
tätiger Arbeiter erhöht sich11. Diese quantitative Änderung
weist auf eine Änderung des Charakters der grundlegenden
Produktionsinstrumente zurück12. Auf der fortgeschrittenen
Stufe der Mechanisierung ist die Maschine als Teil der
technologischen Wirklichkeit keine.
»unité absolue, mais seulement une réalité technique
individualisée, ouverte selon deux voies: celle
10 »Umfragen haben gezeigt, daß kurz nachdem halbautomatische Maschinen eingeführt worden
waren, die gelernten Arbeiterinnen sich bei der Arbeit Träumereien sexueller Art überließen;
sie erinnerten sich an das Schlafzimmer, das Bett, die Nacht, an alles, was nur die Person in
der Einsamkeit des mit sich beschäftigten Paares angeht. Aber es war die Maschine in ihnen,
die von Zärtlichkeiten träumte ...« Jean-Paul Sartre, Critique de la raison dialectique, Bd. 1,
Paris 1960, S. 290.
11 Automation and Major Technological Change: Impact on Union Size, Structure and Function,
Industrial Union Dept. AFL-CIO, Washington 1958, S. 5 ff. Solomon Barkin, The Decline of
the Labor Movement, Santa Barbara, Center for the Study of Democratic Institutions, 1961,
S. 10 ff.
12 Cf. S. 43.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
de la relation aux éléments, et celle des relations
interindividuelles dans l‘ensemble technique.«13
In dem Maße, wie die Maschine selbst zu einem System
mechanischer Werkzeuge und Beziehungen wird und damit
weit über den individuellen Arbeitsprozeß hinausgeht,
setzt sie ihre umfassendere Herrschaft durch, indem sie die
»berufliche Autonomie« des Arbeiters abbaut und ihn mit
anderen Berufen zusammenfaßt, die unter dem technischen
Ganzen leiden und es dirigieren. Freilich war die frühere
»berufliche« Autonomie des Arbeiters eher seine berufliche
Versklavung. Aber die spezifische Art von Versklavung war
zugleich die Quelle seiner spezifischen, beruflichen Macht
der Negation – die Macht, einen Prozeß aufzuhalten, der ihn
mit der Vernichtung als menschliches Wesen bedrohte. Jetzt
verliert der Arbeiter seine berufliche Autonomie, die ihn zum
Glied einer von anderen Berufsgruppen abgehobenen Klasse
machte, weil sie die Widerlegung der etablierten Gesellschaft
verkörperte.
Der technologische Wandel, der dazu tendiert, die
Maschine als individuelles Produktionsinstrument zu
beseitigen, als »absolute Einheit«, scheint den Marxschen
Begriff der »organischen Zusammensetzung des Kapitals« und
mit ihm die Theorie der Mehrwertbildung ungültig zu machen.
Nach Marx erzeugt die Maschine niemals Wert, sondern
überträgt lediglich ihren eigenen auf das Produkt, während
13 »absolute Einheit, sondern nur eine individualisierte technische Realität, die nach
zwei Richtungen hin offen ist: nach der der Beziehung der Elemente und nach der
der Beziehung zwischen den Individuen im technischen Ganzen.« Gilbert Simondon, loc.
cit., S. 164.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
der Mehrwert das Ergebnis der Ausbeutung lebendiger Arbeit
bleibt. Die Maschine ist die Verkörperung menschlicher
Arbeitskraft, und vermittels ihrer erhält sich die vergangene
(tote) Arbeit und bestimmt die lebendige. Nun scheint die
Automation das Verhältnis von toter und lebendiger Arbeit
qualitativ zu ändern; sie strebt dem Punkt zu, wo die
Produktivität »durch die Maschinen« bestimmt wird und nicht
durch die individuelle Arbeitsleistung14. Überdies wird gerade
deren Messung unmöglich.
»Automation im weitesten Sinne bedeutet im Effekt das
Ende der Messung von Arbeit. ... Bei der Automation
kann man die Arbeitsleistung eines einzelnen Menschen
nicht messen; man muß jetzt einfach die Nutzung der Anlage
messen. Wird das als eine Art Konzept verallgemeinert..., so
besteht beispielsweise keinerlei Grund mehr, einen Mann nach
Stück oder Stunde zu entlohnen«, das heißt, es besteht kein
Grund mehr, das »doppelte Zahlungssystem« von Gehältern
und Löhnen aufrechtzuerhalten15.
Daniel Bell, der Verfasser dieses Berichts, geht weiter; er
verknüpft diese technologische Änderung mit dem historischen
System der Industrialisierung selbst: die Bedeutung der
Industrialisierung entstand nicht mit der Einführung von
Fabriken, sie »entstand aus der Messung der Arbeit. Erst wenn
die Arbeit gemessen werden kann, wenn man einen Menschen
an seine Tätigkeit binden kann, wenn man ihm ein Geschirr
anlegen und seine Arbeitsleistung am einzelnen Stück messen
14 Serge Mallet, in: Arguments, Nr. 12—13, Paris 1958, S. 18.
15 Automation and Major Technological Change, loc. cit., S. 8.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
und ihn nach Stück oder Stunde bezahlen kann, erst dann liegt
moderne Industrialisierung vor«16.
Worum es bei diesen technologischen Veränderungen geht, ist
weit mehr als ein Zahlungssystem, die Beziehung des Arbeiters
zu anderen Klassen und die Organisation der Arbeit. Worum es
geht, ist die Vereinbarkeit des technischen Fortschritts mit gerade
denjenigen Institutionen, in denen die Industrialisierung sich
entwickelte.
3. Diese Veränderungen im Charakter der Arbeit und
der Produktionsinstrumente verändern die Haltung und das
Bewußtsein des Arbeiters, was in der ausführlich diskutierten
»sozialen und kulturellen Integration« der Arbeiterklasse in
die kapitalistische Gesellschaft deutlich wurde. Handelt es sich
hierbei nur um eine Änderung des Bewußtseins? Die bejahende
Antwort, die häufig von Marxisten gegeben wird, scheint
merkwürdig inkonsequent. Ist eine solch grundlegende Änderung
im Bewußtsein verständlich, ohne daß man eine entsprechende
Änderung im »gesellschaftlichen Sein« annimmt? Selbst wenn
ein hoher Grad ideologischer Unabhängigkeit unterstellt wird,
widersetzen sich die Glieder, die diese Änderung mit der
Umgestaltung des Produktionsprozesses verknüpfen, einer
solchen Interpretation. Angleichung von Bedürfnissen und
Wünschen, im Lebensstandard, in der Freizeitgestaltung,
in der Politik, leitet sich her von einer Integration in
der Fabrik selbst, im materiellen Produktionsprozeß.
Es ist sicher fraglich, ob man von einer »freiwilligen
Integration« (Serge Mallet) in einem anderen als ironischen
16 Ibid.
- 61 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Sinne sprechen kann. In der gegenwärtigen Lage herrschen
die negativen Züge der Automation vor: Antreiberei,
technologische Arbeitslosigkeit, Stärkung der Position der
Betriebsführung, zunehmende Ohnmacht und Resignation
auf seiten der Arbeiter. Die Aufstiegschancen nehmen ab, da
die Betriebsführung Ingenieure und Hochschulabsolventen
vorzieht17. Es gibt jedoch auch andere Tendenzen. Dieselbe
technische Organisation, die eine mechanische Gemeinschaft
bei der Arbeit hervorbringt, erzeugt auch eine umfassendere
wechselseitige Abhängigkeit, die18 den Arbeiter in die Fabrik
eingliedert. Man stellt einen »Eifer« seitens der Arbeiter fest,
»an der Lösung von Produktionsproblemen teilzunehmen«,
einen »Wunsch, aktiv mitzumachen, indem sie selbst über
technische und Produktionsprobleme nachdenken, die
eindeutig zur Technologie gehörten«19. In einigen der technisch
fortgeschrittensten Betriebe zeigen die Arbeiter sogar ein
ernsthaftes Interesse am Betrieb – eine häufig beobachtete
Wirkung der »Mitbeteiligung der Arbeiter« am kapitalistischen
Unternehmen. Eine provokatorische Beschreibung, die sich auf
die weitgehend amerikanisierten Raffinerien von Caltex in
Ambès, Frankreich, beziehen, kann dazu dienen, diesen Trend
zu charakterisieren Die Arbeiter des Werks sind sich der Bande
bewußt, die sie an das Unternehmen fesseln:
»Liens professionnels, liens sociaux, liens matériels: le
métier appris dans la raffinerie, 1 habitude des rapports
17 Charles R Walker loc cit , S. 97 ff Cf auch Ely Chinoy, Automobile Workers and the
American Dream, Garden City, Doubleday, 1955, passim
18 Floyd C.Mann und L Richard Hoffmann, Automation and the Worker. A Study of
Social Change in Power Plants, New York, Henry Holt, 1960, S 189
19 Charles R Walker, loc cit S 213 f
- 62 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
de production qui s‘y sont établis, les multiples avantages
sociaux qui, en cas de mort subite, de maladie grave,
d’incapacité de travail, de vieillesse enfin, lui sont assurés
par sa seule appartenance à la firme, prolongeant au-delà de
la période productive de leur vie la sûreté des lendemains.
Ainsi, la notion de ce contrat vivant et indestructible avec la
<Caltex> les amène à se préoccuper, avec une attention et une
lucidité inattendue, de la gestion financière de l’entreprise.
Les délégués aux Comités d’entreprise épluchent la
comptabilité de la société avec le soin jaloux qu’y accorderaient
des actionnaires consciencieux. La direction de la Caltex peut
certes se frotter les mains lorsque les syndicats acceptent de
surseoir à leurs revendications de salaires en présence des
besoins d’investissements nouveaux. Mais elle commence à
manifester les plus <légitimes> inquiétudes lorsque, prenant
au mot les bilans truqués de la filiale française, ils s’inquiètent
des marchés <désavantageux> passés par celles-ci et poussent
l’audace jusqu’à contester les prix de revient et suggérer des
propositions économiques!«20
20 »Berufliche, soziale, materielle Bindungen das in der Raffinerie erlernte Handwerk,
die Gewöhnung an Produktionsverhältnisse, die sich dort gebildet haben, die
mannigfachen sozialen Vergünstigungen im Falle eines plötzlichen Todes, ernstlicher
Erkrankung, bei Arbeitsunfähigkeit und im Alter, mit denen sie rechnen können,
nur weil sie der Firma angehören, womit sich ihre Sicherheit über die produktive
Periode ihres Lebens hinaus erstreckt. So veranlaßt sie die Vorstellung eines
lebendigen und unzerstörbaren Vertrags mit Caltex dazu, sich mit unerwarteter
Aufmerksamkeit und Klarheit um die Finanzverwaltung des Unternehmens zu
kümmern. Die zu den >Comités d‘entreprise< Delegierten überprüfen die Buch-
fuhrung der Gesellschaft mit derselben eifersuchtigen Sorgfalt, die gewissenhafte
Aktionäre ihr widmen wurden. Die Direktion der Caltex kann sich sicherlich die
Hände reiben, wenn die Gewerkschaften sich bereitfinden, angesichts des Bedarfs
an neuen Investitionen mit Lohnforderungen auszusetzen. Aber sie fangt an, Zeichen
>legitimer< Besorgnis zu zeigen, wenn die Delegierten die verschleierten Bilanzen der
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
4. Die neue technische Arbeitswelt erzwingt so eine
Schwächung der negativen Position der arbeitenden Klasse:
letztere erscheint nicht mehr als der lebendige Widerspruch
zur bestehenden Gesellschaft. Dieser Trend verstärkt sich
durch die Auswirkung der technologischen Organisation der
Produktion auf die Gegenseite: auf die Betriebsführung und
die Direktion. Herrschaft wird in Verwaltung überführt21.
Die kapitalistischen Herren und Eigentümer verlieren ihre
Identität als verantwortliche Kräfte; sie nehmen die Funktion
von Bürokraten in einer körperschaftlichen Maschine an. In der
umfassenden Hierarchie geschäftsführender und managerieller
Ausschüsse, die sich weit über das Einzelunternehmen
hinaus auf das wissenschaftliche Laboratorium und
Forschungsinstitut, die nationale Regierung und das
nationale Interesse erstrecken, verschwindet die reale Quelle
der Ausbeutung hinter der Fassade objektiver Rationalität.
französischen Filiale ernstnehmen und so weit gehen, die Produktionskosten
anzuzweifeln und Sparmaßnahmen vorschlagen1« (Serge Mallet, La Nouvelle
Classe Ouvrière, Pans 1963, S 172) Hier die erstaunliche Feststellung des
Gewerkschaftsführers der United Automobile Workers, die den Trend zur Integration
in den Vereinigten Staaten belegt »Oft kamen wir in einem Gewerkschaftshaus
zusammen und sprachen über die Beschwerden, die die Arbeiter vorgebracht hatten,
und darüber, was wir tun wollten. Bis ich mit der Werksleitung am nächsten Tage
eine Zusammenkunft vereinbart hatte, war das Problem beseitigt, und daß Abhilfe
geschaffen wurde, ging nicht auf das Konto der Gewerkschaft. Alles, wofür wir
kämpften, gibt der Konzern jetzt den Arbeitern. Was wir finden müssen, sind andere
Dinge, die der Arbeiter wünscht und der Unternehmer ihm nicht zu geben bereit
ist ... Wir sind auf der Suche. Wir sind auf der Suche « (Labor Looks at Labor.
A Conversation, Santa Barbara, Center for the Study of Democratic Institutions,
1963, S. 16 f ).
21 Ist es immer noch erforderlich, die Ideologie der »Revolution der Manager« zu
denunzieren? Die kapitalistische Produktion vollzieht sich durch die Investition
von privatem Kapital zwecks privater Gewinnung und Aneignung von Mehrwert,
und Kapital ist ein gesellschaftliches Instrument der Herrschaft des Menschen über
den Menschen. Die wesentlichen Zuge dieses Prozesses werden durch die Streuung
der Aktien, die Trennung des Eigentums von der Betriebsleitung etc. in keiner
- 64 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Haß und Enttäuschung werden ihres spezifischen Ziels beraubt,
und der technologische Schleier verhüllt die Reproduktion
von Ungleichheit und Versklavung22. Mit dem technischen
Fortschritt als ihrem Instrument wird Unfreiheit – im Sinne der
Unterwerfung des Menschen unter seinen Produktionsapparat
– in Gestalt vieler Freiheiten und Bequemlichkeiten verewigt
und intensiviert. Der neuartige Zug ist die überwältigende
Rationalität in diesem irrationalen Unternehmen und das
Ausmaß der Präformation, die die Triebe und Bestrebungen
der Individuen modelt und den Unterschied zwischen wahren
und falschen Bedürfnissen verdunkelt. Denn in Wirklichkeit
wiegt weder die Anwendung eher administrativer als
physischer Kontrollen (Hunger, persönliche Abhängigkeit,
Gewalt) noch die Änderung des Charakters schwerer
Arbeit, noch die Angleichung der Berufsgruppen, noch die
Gleichstellung im Konsumbereich die Tatsache auf, daß die
Entscheidungen über Leben und Tod, über persönliche und
nationale Sicherheit von Stellen aus getroffen werden, über
welche die Individuen keine Kontrolle haben. Die Sklaven
der entwickelten industriellen Zivilisation sind sublimierte
Sklaven, aber sie sind Sklaven; denn den Sklaven erkennt
man
»pas pour l‘obéissance, ni par la rudesse des labeurs, mais
par le statu d‘instrument et la réduction de l‘homme à
l‘état de chose.«23
22 Cf S 29.
23 »nicht an seinem Gehorsam und nicht an der Härte seiner Arbeit, sondern an seiner
Erniedrigung zum Werkzeug und an seiner Verwandlung von einem Menschen in eine
Sache« (François Perroux, La Coexistence pacifique, Paris 1958, zit nach der dt.
Übersetzung Feindliche Koexistenz?, Stuttgart 1961, S 579).
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Darin besteht die reine Form von Knechtschaft: als
ein Instrument, als ein Ding zu existieren. Und diese
Existenzweise ist nicht aufgehoben, wenn das Ding belebt
ist und seine materielle und geistige Nahrung auswählt, wenn
es sein Ding-Sein nicht empfindet, wenn es ein hübsches,
sauberes, mobiles Ding ist. Da die Verdinglichung vermöge ihrer
technologischen Form die Tendenz hat, totalitär zu werden,
werden umgekehrt die Organisatoren und Verwalter selbst
immer abhängiger von der Maschinerie, die sie organisieren
und handhaben. Und diese wechselseitige Abhängigkeit ist
nicht mehr das dialektische Verhältnis von Herr und Knecht,
das im Kampf um wechselseitige Anerkennung durchbrochen
worden ist, sondern eher ein circulas vitiosus. der beide
einschließt, den Herrn und den Knecht. Herrschen die
Techniker oder ist ihre Herrschaft die von anderen, die sich auf
die Techniker als ihre Planer und Vollzugsorgane verlassen?
»Der Druck des gegenwärtigen hochtechnisierten
Rüstungswettlaufs hat die Initiative und Macht, kritische
Entscheidungen zu treffen, den verantwortlichen
Regierungsbeamten aus den Händen genommen und in
die von Technikern, Planern und Wissenschaftlern gelegt,
die im Dienst großer Industriekonzerne stehen und die
Verantwortung für die Interessen ihrer Arbeitgeber tragen.
Ihre Aufgabe ist es, neue Waffensysteme auszudenken und die
Militärs zu überzeugen, daß die Zukunft ihres militärischen
Berufs ebenso wie die des Landes davon abhängt, daß gekauft
wird, was sie sich ausgedacht haben.«24
24 Stewart Meacham, Labor and the Cold War, American Friends Service Committee,
Philadelphia 1959, S 9.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Wie die erzeugenden Firmen sich auf die Militärs verlassen,
um sich selbst und wirtschaftliches Wachstum zu erhalten, so
verlassen sich die Militärs auf die Konzerne »nicht nur deren
Waffen wegen, sondern auch, weil sie wissen, welche Art von
Waffen sie brauchen, wieviel sie kosten werden und wie lange
es dauern wird, sie zu bekommen«.25 Ein circulus vitiosus
scheint in der Tat das wahre Bild einer Gesellschaft, die sich
in ihrer vorher festgelegten Richtung von selbst erweitert und
perpetuiert – getrieben von den zunehmenden Bedürfnissen,
die sie erzeugt und zugleich eindämmt.
Aussichten dieser Eindämmung
Besteht irgendeine Aussicht, daß diese Kette anwachsender
Produktivität und Repression zerbrochen werden kann?
Eine Antwort würde den Versuch erfordern, gegenwärtige
Entwicklungen in die Zukunft zu projizieren und dabei eine
relativ normale Entwicklung anzunehmen, das heißt die
sehr reale Möglichkeit eines nuklearen Krieges außer acht zu
lassen. Unter dieser Annahme bliebe der Feind »permanent«
– das heißt, der Kommunismus würde weiterhin mit dem
Kapitalismus koexistieren. Dieser wäre zugleich weiterhin
imstande, den Lebensstandard für einen zunehmenden
Bevölkerungsanteil aufrechtzuerhalten und sogar zu
erhöhen – trotz und aufgrund intensivierter Produktion von
Destruktionsmitteln und methodischer Verschwendung von
Ressourcen und Kräften. Diese Fähigkeit hat sich trotz
und aufgrund zweier Weltkriege und der unermeßlichen
25 Ibid.
- 67 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
physischen und geistigen Regression durchgesetzt, wie die
faschistischen Systeme sie bewirkt haben.
Die materielle Basis für diese Fähigkeit stünde weiterhin
zur Verfügung in
a) der wachsenden Arbeitsproduktivität (technischer Fort-
schritt);
b) der sich erhöhenden Geburtenziffer der vorhandenen Be-
völkerung;
c) der permanenten Verteidigungswirtschaft;
d) der ökonomisch-politischen Integration der kapitalistischen
Länder und im Aufbau ihrer Beziehungen zu den unterent-
wickelten Gebieten.
Aber der anhaltende Konflikt zwischen den produktiven
Fähigkeiten der Gesellschaft und ihrer zerstörerischen und
unterdrückenden Anwendung würde verstärkte Anstrengungen
notwendig machen, der Bevölkerung die Erfordernisse
des Apparats aufzuerlegen – überschüssige Kapazität
loszuwerden, das Bedürfnis zu erzeugen, die Güter zu
kaufen, die mit Gewinn verkauft werden müssen, und den
Wunsch, für ihre Produktion und Propagierung zu arbeiten.
Das System tendiert so zu totaler Verwaltung und totaler
Abhängigkeit der Verwaltung von den öffentlichen und
privaten »Führungskräften« und festigt die prästabilierte
Harmonie zwischen dem Interesse der großen öffentlichen und
privaten Körperschaften und dem ihrer Kunden und Diener.
Weder teilweise Verstaatlichung noch erweiterte Teilhabe
der Arbeiterschaft an Betriebsführung und Gewinn würden
- 68 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
von sich aus dieses Herrschaftssystem ändern – solange die
Arbeiterschaft selbst dessen Stütze und affirmative Kraft
bleibt.
Es gibt zentrifugale Tendenzen, im Inneren und
außerhalb. Eine von ihnen ist dem technischen Fortschritt
selbst immanent, nämlich die Automation. Ich gab zu
verstehen, daß sich erweiternde Automation mehr ist als ein
quantitatives Anwachsen der Mechanisierung – daß sie ein
Wandel im Charakter der grundlegenden Produktivkräfte ist26.
Es scheint, daß die bis zu den Grenzen des technisch Möglichen
getriebene Automation mit einer Gesellschaft unvereinbar ist,
die auf der privaten Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft
im Produktionsprozeß beruht. Fast ein Jahrhundert vor der
Verwirklichung der Automation faßte Marx ihre sprengenden
Aussichten ins Auge:
»In dem Maße..., wie die große Industrie sich entwickelt,
wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig
weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum
angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien, die
während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden ...
und deren powerful effectiveness selbst wieder in keinem
Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre
Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom
allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt
der Technologie oder der Anwendung dieser Wissenschaft
auf die Produktion ... Die Arbeit erscheint nicht mehr
so sehr als in den Produktionsprozeß eingeschlossen, als
26 Cf. S. 47.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum
Produktionsprozeß selbst verhält... Er tritt neben den
Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser
Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der
Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern
die Aneignung seiner eigenen allgemeinen Produktivkraft,
sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben
durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort
die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als
der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums
erscheint. Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf
der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage
gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie
selbst geschaffne. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form
aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein,
hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein
und daher der Tauschwert (das Maß) des Gebrauchswerts.
Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung
für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein,
ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung
der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes.
Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhende Produktion
zusammen ...«.27
Die Automation scheint in der Tat der große Katalysator
der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Sie ist ein
sprengender oder nichtsprengender Katalysator in der
materiellen Basis der qualitativen Änderung, das technische
27 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 592 f. Cf.
auch S. 596.
- 70 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Instrument des Umschlags von Quantität in Qualität; denn
der gesellschaftliche Automationsprozeß drückt die
Transformation oder vielmehr Transsubstantiation der
Arbeitskraft aus, bei der diese, vom Individuum getrennt, zu
einem unabhängigen, produzierenden Objekt und damit selbst
zu einem Subjekt wird.
Einmal zum materiellen Produktionsprozeß schlechthin
geworden, würde Automation die ganze Gesellschaft revolu-
tionieren. Zur Perfektion getrieben, würde die Verdinglichung
der menschlichen Arbeitskraft die verdinglichte Form dadurch
zerstören, daß sie die Kette durchschnitte, die das Individuum
an die Maschinerie bindet – den Mechanismus, wodurch seine
eigene Arbeit es versklavt. Vollständige Automation im Reich
der Notwendigkeit würde die Dimension freier Zeit als diejeni-
ge eröffnen, in der das private und gesellschaftliche Dasein sich
ausbilden würde. Das wäre die geschichtliche Transzendenz zu
einer neuen Zivilisation.
Auf der gegenwärtigen Stufe des fortgeschrittenen
Kapitalismus widersetzt sich die organisierte Arbeiterschaft
mit Recht der Automation ohne Ausgleichsbeschäftigung. Sie
besteht auf der extensiven Nutzung menschlicher Arbeitskraft
in der materiellen Produktion und widersetzt sich so dem
technischen Fortschritt. Indem sie dies tut, widersetzt sie
sich jedoch auch der ergiebigeren Nutzung des Kapitals.
Mit anderen Worten, ein weiterer Aufschub der Automation
kann die nationale und internationale Konkurrenzfähigkeit
des Kapitals schwächen, eine langfristige Depression
- 71 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
verursachen und folglich den Konflikt der Klasseninteressen
Wiederaufleben lassen.
Diese Möglichkeit wird realistischer mit der Verlagerung des
Wettbewerbs zwischen Kapitalismus und Kommunismus vom
militärischen auf das gesellschaftliche und ökonomische Gebiet.
Dank der Macht totaler Verwaltung kann die Automation im
Sowjetsystem rascher vonstatten gehen, sobald ein gewisses
technisches Niveau erreicht ist. Diese Bedrohung ihrer Position
im internationalen Konkurrenzkampf würde die westliche
Welt zwingen, die Rationalisierung des Produktionsprozesses
zu beschleunigen. Eine solche Rationalisierung stößt auf den
zähen Widerstand der Arbeiterschaft, ein Widerstand, der nicht
von politischer Radikalisierung begleitet ist. Zumindest in den
Vereinigten Staaten geht die Führung der Arbeiterschaft in
ihren Zielen und Mitteln nicht über den üblichen Rahmen
des nationalen und Gruppeninteresses hinaus, wobei dieses
sich jenem unterwirft oder unterworfen wird. Mit diesen
zentrifugalen Kräften läßt sich daher leicht fertig werden.
Auch hier bedeutet der abnehmende Anteil menschlicher
Arbeitskraft am Produktionsprozeß ein Abnehmen der
politischen Macht der Opposition. In Anbetracht des
zunehmenden Gewichts des Angestelltenelements in diesem
Prozeß müßte politische Radikalisierung vom Aufkommen
eines unabhängigen Bewußtseins und Handelns unter
den Angestelltengruppen begleitet sein – eine ziemlich
unwahrscheinliche Entwicklung in der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft. Das verstärkte Bemühen, das
zunehmende Angestelltenelement in den Industriegewerksc
- 72 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
haften28 zu organisieren, kann, sofern es überhaupt Erfolg
hat, dazu führen, daß das gewerkschaftliche Bewußtsein
dieser Gruppen sich entwickelt, aber kaum zu ihrer politischen
Radikalisierung.
»Politisch wird die wachsende Zahl von Angestellten, die
den Arbeitergewerkschaften beitreten, den Wortführern
der Linken die Möglichkeit geben, mit größerer Berechti-
gung die >Interessen der Arbeiterschaft mit denen der
Allgemeinheit zu identifizieren ... Aber die tiefere Be-
deutung der Gewerkschaften berührt die Frage ..., ob sie
zu einer echten Bewegung werden oder nur eine weitere
Interessengruppe, eine Stelle für politische Regelung um
wirtschaftlichen Preis ... sind.«29
Unter diesen Umständen hängen die Aussichten einer ultra-
modernen Eindämmung der zentrifugalen Tendenzen in erster
Linie von der Fähigkeit der althergebrachten Interessen ab, sich
und ihre Wirtschaft den Erfordernissen des Wohlfahrtsstaates
anzupassen. Beträchtlich erhöhter Geldaufwand und Lenkung
seitens der Regierung, Planung im nationalen und internatio-
nalen Maßstab, ein erweitertes Auslandshilfeprogramm, um-
fassende soziale Sicherheit, öffentliche Arbeiten großen Stils,
vielleicht sogar teilweise Verstaatlichung gehören zu diesen
Erfordernissen30. Ich glaube, daß die herrschenden Interessen
28 Automation and Major Technological Change, loc. cit., S. 11 f
29 C. Wright Mills, dt. Menschen im Büro, Köln 1955, S. 429 f.
30 In den weniger fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, wo noch starke Seg-
mente der kämpferischen Arbeiterbewegung lebendig sind (Frankreich, Italien),
steht ihre Kraft derjenigen beschleunigter technischer und politischer Rationalisie-
rung in autoritärer Form feindlich gegenüber. Die Erfordernisse des internationalen
Wettbewerbs werden wohl die letztere stärken und eine Übernahme der herrschenden
Tendenzen in den fortgeschrittensten industriellen Bereichen sowie ein Bündnis mit
ihnen bewirken.
- 73 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
allmählich und zögernd diese Erfordernisse akzeptieren und
ihre Vorrechte einer wirksameren Macht anvertrauen wer-
den.
Wenn wir uns jetzt den Aussichten für die Eindämmung
gesellschaftlichen Wandels in dem anderen System der
industriellen Zivilisation, der Sowjetgesellschaft31, zuwenden,
so steht die Diskussion von Anbeginn einer im doppelten
Sinne unvergleichbaren Lage gegenüber: a) chronologisch:
die Sowjetgesellschaft befindet sich auf einer früheren Stufe
der Industrialisierung, wobei weite Sektoren sich noch
auf vortechnischer Stufe befinden, und b) strukturell: ihre
wirtschaftlichen und politischen Institutionen sind wesentlich
anders (totale Verstaatlichung und Diktatur).
Die wechselseitige Verbundenheit der beiden Aspekte
verschärft die Schwierigkeiten der Analyse. Die historische
Rückständigkeit setzt die sowjetische Industrialisierung
nicht nur in den Stand, sondern zwingt sie, ohne geplante
Verschwendung und vorzeitigen Verschleiß fortzuschreiten,
ohne die Beschränkungen, die der Produktivität durch
die privaten Profitinteressen auferlegt werden, und die
Befriedigung noch unerfüllter Grundbedürfnisse zu planen,
nachdem die vorrangigen militärischen und politischen
Bedürfnisse befriedigt sind, vielleicht sogar gleichzeitig mit
diesen.
Ist diese größere Rationalität der Industrialisierung nur
das Zeichen und der Vorteil historischer Rückständigkeit,
eine Rationalität, die wahrscheinlich verschwindet, wenn
31 Zum folgenden cf mein Buch Soviet Marxism, New York, Columbia University
Press, 1958, dt. Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied und
Berlin 1964.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
das fortgeschrittene Niveau einmal erreicht ist? Ist es dieselbe
historische Rückständigkeit, die auf der anderen Seite – unter
den Bedingungen der wettbewerblichen Koexistenz mit dem
fortgeschrittenen Kapitalismus – die totale Entwicklung und
Kontrolle aller Ressourcen durch ein diktatorisches Regime
erzwingt? Und wäre die Sowjetgesellschaft, nachdem sie das
Ziel, »einzuholen und zu überholen«, erreicht hat, imstande,
die totalitären Kontrollen bis zu dem Punkt zu liberalisieren,
daß eine qualitative Änderung stattfinden könnte?
Das Argument, das sich auf die historische Rückständigkeit
beruft – demzufolge unter den herrschenden Bedingungen
materieller und geistiger Unreife Befreiung notwendigerweise
das Werk von Gewalt und Verwaltung sein muß – bildet nicht
nur den Kern des Sowjetmarxismus, sondern ist auch von den
Theoretikern der »erzieherischen Diktatur«, von Platon bis
Rousseau verfochten worden. Es ist leicht lächerlich zu
machen, aber schwer zu widerlegen, weil es das Verdienst
hat, ohne viel Heuchelei die (materiellen und geistigen)
Bedingungen anzuerkennen, die dazu dienen, wahrhafte und
vernünftige Selbstbestimmung zu verhindern.
Außerdem entlarvt das Argument die repressive
Freiheitsideologie, wonach menschliche Freiheit in einem
Leben von Mühe, Armut und Dummheit aufblühen kann.
Allerdings muß die Gesellschaft erst die materiellen
Vorbedingungen der Freiheit für alle ihre Glieder schaffen,
ehe sie eine freie Gesellschaft sein kann; sie muß zunächst
den Reichtum hervorbringen, ehe sie imstande ist, ihn gemäß
den sich frei entwickelnden Bedürfnissen des Individuums zu
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
verteilen; sie muß erst ihre Sklaven befähigen zu lernen, zu
sehen und zu denken, ehe sie wissen, was vor sich geht und
was sie selbst tun können, um es zu ändern. Und in dem
Maße, wie die Sklaven vorgeformt sind, als Sklaven zu
existieren und mit dieser Rolle zufrieden zu sein, scheint ihre
Befreiung notwendigerweise von außen und von oben zu
kommen. Sie müssen »gezwungen« werden, »frei zu sein«.
Man muß ihnen die Dinge »so vor Augen stellen, wie sie sind«,
und »manchmal wie sie ... erscheinen sollen«; man muß ihnen
den »guten Weg« zeigen, den sie suchen32.
Aber bei all seiner Wahrheit kann das Argument die
altehrwürdige Frage nicht beantworten: wer erzieht die
Erzieher und was beweist, daß sie im Besitz »des Guten«
sind? Die Frage wird nicht durch den Einwand entkräftet,
daß sie gleichermaßen für bestimmte demokratische
Regierungsformen gilt, bei denen die schicksalsschweren
Entscheidungen über das, was für die Nation gut ist,
von gewählten Abgeordneten getroffen (oder vielmehr
gutgeheißen) werden – gewählt unter Bedingungen wirksamer
und bereitwillig entgegengenommener Indoktrination. Und
doch besteht die einzig mögliche Entschuldigung (sie ist
schwach genug!) der »Erziehungsdiktatur« darin, daß das
schreckliche Risiko, das sie einschließt, nicht schrecklicher als
dasjenige sein kann, das die großen liberalen wie autoritären
Gesellschaften jetzt eingehen, und daß die Kosten nicht viel
höher sein können.
32 Jean-Jacques Rousseau, Contrat social, Buch I, Kap. VII, Buch II, Kap. VI. Staat und
Gesellschaft, München 1959, cf. S. 36 f.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Gegen die Sprache der brutalen Fakten und Ideologie besteht
jedoch die dialektische Logik darauf, daß die Sklaven frei
für ihre Befreiung sein müssen, ehe sie frei werden können, und
daß der Zweck in den Mitteln, ihn zu erreichen, wirksam sein
muß. Marx‘ Satz, daß die Befreiung der Arbeiterklasse das
Werk der Arbeiterklasse selbst sein muß, stellt dieses Apriori
fest. Der Sozialismus muß mit dem ersten Akt der Revolution
zur Wirklichkeit werden, da er bereits im Bewußtsein und
Handeln jener vorliegen muß, die die Träger der Revolution
waren.
Zwar gibt es eine »erste Phase« des sozialistischen Aufbaus,
während der die neue Gesellschaft »noch behaftet ist mit den
Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie
herkommt« 33, aber der qualitative Umschlag von der alten
zur neuen Gesellschaft fand mit dem Beginn dieser Phase statt.
Nach Marx gründet die »zweite Phase« buchstäblich in der
ersten. Die von der neuen Produktionsweise hervorgebrachte
qualitativ neue Lebensweise erscheint in der sozialistischen
Revolution, die das Ende des kapitalistischen Systems ist und
an seinem Ende steht. Der sozialistische Aufbau beginnt mit
der ersten Phase der Revolution.
Ebenso ist der Übergang von dem Prinzip »Jedem nach
seiner Arbeit« zu »Jedem nach seinen Bedürfnissen« von
der ersten Phase bestimmt – nicht nur durch die Schaffung der
technischen und materiellen Basis, sondern auch (und das ist
entscheidend!) durch die Weise, in der sie geschaffen wird. Die
Kontrolle des Produktionsprozesses durch die »unmittelbaren
33 Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms. Berlin 1955, S. 23.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Produzenten« soll eine Entwicklung einleiten, die die
Geschichte freier Menschen von der Vorgeschichte des Menschen
unterscheidet. Das ist eine Gesellschaft, bei der die seitherigen
Objekte der Produktivität zum ersten Mal menschliche
Individuen werden, die die Produktionsinstrumente zur
Verwirklichung ihrer eigenen, humanen Bedürfnisse und
Anlagen planen und benutzen. Zum ersten Mal in der
Geschichte würden die Menschen frei und kollektiv unter der
Notwendigkeit und gegen sie handeln, eine Notwendigkeit,
die ihre Freiheit und Menschlichkeit beschränkt. Deshalb
wäre alle von der Notwendigkeit erzwungene Unterdrückung
wirklich selbstauferlegte Notwendigkeit. Im Gegensatz
zu dieser Konzeption schiebt die tatsächliche Entwicklung
der gegenwärtigen kommunistischen Gesellschaft den
qualitativen Umschlag zur zweiten Phase hinaus (oder ist
dazu durch die internationale Lage gezwungen), und der
Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus erscheint,
trotz der Revolution, noch als quantitative Änderung. Die
Versklavung des Menschen durch seine Arbeitsmittel besteht
fort in einer hochrationalisierten, umfassend wirksamen und
vielversprechenden Form.
Die Lage feindlicher Koexistenz mag die terroristischen
Züge der stalinistischen Industrialisierung erklären, aber sie
setzte auch diejenigen Kräfte in Bewegung, die dazu tendieren,
den technischen Fortschritt als Herrschaftsinstrument zu
verewigen; die Mittel beeinträchtigen den Zweck. Wiederum
angenommen, daß keine nukleare Kriegsführung oder eine
andere Katastrophe seine Entwicklung abschneidet, so
würde der technische Fortschritt eine stetige Erhöhung
- 78 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
des Lebensstandards und eine stetige Liberalisierung der
Kontrollen bewirken. Die verstaatlichte Wirtschaft könnte
die Produktivität von Arbeit und Kapital ohne strukturellen
Widerstand34 ausnutzen und dabei die Arbeitsstunden
beträchtlich verringern und die Bequemlichkeiten des Lebens
vermehren. Und sie könnte all dies erreichen, ohne die Macht
totaler Verwaltung über das Volk aufzugeben. Es besteht
kein Grund zu der Annahme, daß technischer Fortschritt plus
Verstaatlichung eine »automatische« Freisetzung der negierenden
Kräfte bewirkt. Im Gegenteil, der Widerspruch zwischen
den wachsenden Produktivkräften und ihrer versklavenden
Organisation – selbst von Stalin35 offen als ein Zug der sowjetisch-
sozialistischen Entwicklung zugegeben – wird sich wohl eher
einebnen als verschärfen. Je mehr die Herrschenden in der Lage
sind, Konsumgüter zu liefern, desto fester wird die Bevölkerung
an die verschiedenen herrschenden Bürokratien gekettet werden.
Aber während diese Aussichten für eine Unterbindung
qualitativen Wandels im Sowjetsystem zu denen in der
fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft parallel zu
laufen scheinen, führt die sozialistische Produktionsbasis einen
entscheidenden Unterschied ein. Im Sowjetsystem trennt die
Organisation des Produktionsprozesses unzweifelhaft die
»unmittelbaren Produzenten« (die Arbeiter) von der Kontrolle
über die Produktionsmittel und bewirkt so Klassenunterschiede
gerade an der Basis des Systems. Diese Trennung wurde durch
politische Entscheidung und Macht nach der kurzen »heroischen
Periode« der bolschewistischen Revolution eingeführt und ist
34 Zum Unterschied zwischen eingebautem und behebbarem Widerstand cf. mein Buch. Die
Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, loc. cit., S. 112 ff.
35 Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Berlin 1953, S. 7, 52, 68 f.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
seitdem beibehalten worden. Und doch ist sie nicht der Motor
des Produktionsprozesses selbst; sie ist in diesen Prozeß nicht
als die im Privateigentum an den Produktionsmitteln gründende
Spaltung von Kapital und Arbeit eingebaut. Folglich sind die
herrschenden Schichten selbst vom Produktionsprozeß trennbar
– das heißt, sie sind ersetzbar, ohne daß die grundlegenden
Institutionen der Gesellschaft gesprengt werden.
Darin besteht die Halbwahrheit der sowjetmarxistischen
These, daß die herrschenden Widersprüche zwischen den
»zurückbleibenden Produktionsverhältnissen« und den
»Charakter der Produktivkräfte« ohne Explosion gelöst werden
können und daß »Übereinstimmung« zwischen den beiden
Faktoren durch »allmähliche Umwandlung« eintreten kann36.
Die andere Hälfte der Wahrheit ist, daß sich quantitative
Änderung immer noch in qualitative zu verwandeln hätte, in
das Verschwinden des Staates, der Partei, des Plans usw. als
unabhängige, den Individuen aufgenötigte Mächte. Soweit
diese Änderung die materielle Basis der Gesellschaft (den
verstaatlichten Produktionsprozeß) unberührt ließe, wäre sie
auf eine politische Revolution eingeschränkt. Wenn sie zur
Selbstbestimmung gerade an der Basis der menschlichen
Existenz, nämlich in der Dimension notwendiger Arbeit,
führen könnte, wäre sie die radikalste und vollständigste
Revolution in der Geschichte. Verteilung lebenswichtiger Güter
ohne Rücksicht auf Arbeitsleistung, Reduktion der Arbeitszeit
auf ein Minimum, umfassende, allseitige Erziehung zur
Austauschbarkeit der Funktionen – darin bestehen die
Vorbedingungen, nicht die Inhalte der Selbstbestimmung.
36 Ibid., S. 52, 69.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Während das Schaffen dieser Vorbedingungen noch der
herrschenden Verwaltung entspringen kann, würde ihre
Etablierung das Ende dieser Verwaltung bedeuten. Freilich
hinge eine reife und freie Industriegesellschaft weiterhin
von einer Arbeitsteilung ab, die ungleiche Funktionen mit
sich bringt. Solche Ungleichheit ergibt sich notwendig aus
wirklichen gesellschaftlichen, technischen Erfordernissen und
aus den körperlichen und geistigen Unterschieden zwischen den
Individuen. Die ausführenden und Überwachungsfunktionen
gingen jedoch nicht mehr mit dem Vorrecht einher, das
Leben anderer in irgendeinem partikulären Interesse zu
beherrschen. Der Übergang zu einem solchen Zustand ist
eher ein revolutionärer als ein evolutionärer Prozeß, selbst
auf der Grundlage einer vollverstaatlichten und geplanten
Wirtschaft.
Läßt sich annehmen, daß das kommunistische System in
seiner bestehenden Form die Bedingungen, die einen solchen
Übergang bewirkten, entwickeln (oder vielmehr aufgrund
des internationalen Wettbewerbs zu entwickeln gezwungen)
würde? Es gibt starke Argumente gegen diese Annahme.
Man betont den mächtigen Widerstand, den die verschanzte
Bürokratie leisten würde – ein Widerstand, der seine raison
d‘être in genau denselben Gründen findet, welche die
Triebkraft dafür sind, die Vorbedingungen zur Befreiung zu
schaffen, nämlich die Konkurrenz auf Leben und Tod mit der
kapitalistischen Welt.
Auf den Begriff eines angeborenen »Machttriebs« in der
Menschennatur kann man verzichten. Es ist dies ein höchst
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
zweifelhafter psychologischer Begriff und in hohem Maße
unzureichend für die Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen.
Die Frage ist nicht, ob die kommunistischen Bürokratien ihre
bevorrechtete Stellung »aufgeben« würden, wenn einmal
das Niveau einer möglichen qualitativen Änderung erreicht
ist, sondern ob sie imstande sein werden, das Erreichen
dieses Niveaus zu verhindern. Um dies zu tun, hätten sie
das materielle und geistige Wachstum an einem Punkt
aufzuhalten, wo Herrschaft noch rational und einträglich ist,
wo die Bevölkerung noch an den Beruf, das Staatsinteresse
oder andere bestehende Institutionen gebunden werden
kann. Wiederum scheint hier der entscheidende Faktor die
Weltlage der Koexistenz, die seit langem zu einem Faktor der
inneren Lage der beiden entgegengesetzten Gesellschaften
geworden ist. Das Bedürfnis nach totaler Ausnutzung des
technischen Fortschritts sowie das, aufgrund eines höheren
Lebensstandards zu überleben, kann sich als stärker erweisen
als der Widerstand der überkommenen Bürokratien.
Ich möchte dem einige Bemerkungen hinzufügen zu der oft
gehörten Meinung, daß die neue Entwicklung der rückständigen
Länder nicht nur die Aussichten der fortgeschrittenen
Industrieländer ändern, sondern auch eine »dritte Kraft«
hervorbringen könnte, die zu einer relativ unabhängigen Macht
werden kann. Im Sinne der vorangehenden Diskussion: Gibt
es irgendeinen Beweis dafür, daß die ehemaligen kolonialen
oder halbkolonialen Räume einen Weg der Industrialisierung
einschlagen könnten, der von dem des Kapitalismus und des
heutigen Kommunismus wesentlich verschieden ist? Gibt es in
der einheimischen Kultur und Tradition dieser Gebiete etwas,
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
das auf eine solche Alternative hindeuten könnte? Ich werde
meine Bemerkungen auf solche Modelle der Rückständigkeit
beschränken, die sich bereits im Prozeß der Industrialisierung
befinden – das heißt auf Länder, in denen Industrialisierung
mit einer ungebrochenen vor- und antiindustriellen Kultur
koexistiert (Indien, Ägypten).
Diese Länder treten in den Industrialisierungsprozeß mit
einer Bevölkerung ein, die im Hinblick auf die Werte sich
selbst erweiternder Produktivität, Leistungsfähigkeit und
technologischer Rationalität ungeschult ist. Mit anderen
Worten, mit einer überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung,
die noch nicht in eine von den Produktionsmitteln
getrennte Arbeitskraft umgeformt ist. Begünstigen diese
Bedingungen, daß Industrialisierung und Befreiung auf neue
Weise zusammenkommen, eine wesentlich andere Art von
Industrialisierung, die den Produktionsapparat nicht nur
gemäß den Lebensbedürfnissen der Bevölkerung, sondern
auch mit dem Ziel aufbauen würde, den Kampf ums Dasein
zu befrieden?
Die Industrialisierung in diesen rückständigen Gebieten
findet nicht in einem luftleeren Raum statt. Sie ereignet sich in
einer geschichtlichen Situation, in der das für die ursprüngliche
Akkumulation erforderliche gesellschaftliche Kapital in
hohem Maße von außen entgegengenommen werden
muß, vom kapitalistischen oder kommunistischen Block
– oder von beiden. Ferner besteht weithin die Annahme, ein
Unabhängig-Bleiben erfordere, rasch zu industrialisieren und
ein Produktivitätsniveau zu erreichen, das in der Konkurrenz
- 83 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
mit den beiden Riesen zumindest relative Autonomie
sicherstellen würde.
Unter diesen Umständen muß die Überführung
unterentwickelter in Industriegesellschaften so schnell wie
möglich die vortechnischen Formen beseitigen. Besonders
in Ländern, wo selbst die lebensnotwendigsten Bedürfnisse
der Bevölkerung weit davon entfernt sind, befriedigt zu
sein, wo der erschreckende Lebensstandard vor allem nach
Quantitäten en masse verlangt, nach mechanisierter und
standardisierter Massenproduktion und -distribution. Und in
eben diesen Ländern setzt das tote Gewicht vortechnischer
und sogar vor»bürgerlicher« Sitten und Verhältnisse einer
solchen von oben aufgenötigten Entwicklung starken
Widerstand entgegen. Der maschinelle Prozeß (als sozialer
Prozeß) erheischt Gehorsam gegenüber einem System
anonymer Mächte – totale Säkularisierung und Zerstörung
von Werten und Institutionen, deren Entweihung kaum
begonnen hat. Läßt sich vernünftigerweise annehmen, daß
sich unter der Einwirkung der beiden großen Systeme totaler
technischer Verwaltung die Beseitigung dieses Widerstands in
liberalen und demokratischen Formen vollziehen wird? Daß
die unterentwickelten Länder den historischen Sprung von
der vortechnischen zur nachtechnischen Gesellschaft machen
können, in der der beherrschte technische Apparat die Basis für eine
wahrhafte Demokratie abgeben kann? Im Gegenteil, es scheint
vielmehr, daß die diesen Ländern aufgenötigte Entwicklung eine
Periode totaler Verwaltung hervorbringen wird, gewaltsamer
und strenger als die von den fortgeschrittenen Gesellschaften
durchlaufene, die auf den Errungenschaften des liberalistischen
- 84 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Zeitalters aufbauen kann. Fassen wir zusammen: die rückständigen
Gebiete werden wahrscheinlich entweder einer der verschiedenen
Formen des Neokolonialismus unterliegen oder einem mehr oder
weniger terroristischen System ursprünglicher Akkumulation.
Es scheint jedoch noch eine Alternative möglich37. Wenn die
Industrialisierung und die Einführung der Technik in den
rückständigen Ländern auf starken Widerstand seitens der
einheimischen und traditionellen Lebens- und Arbeitsweisen
stoßen – ein Widerstand, der nicht einmal bei der sehr
handgreiflichen Aussicht auf ein besseres und leichteres Leben
aufgegeben wird – könnte diese vortechnische Tradition selbst zur
Quelle von Fortschritt und Industrialisierung werden?
Ein solcher einheimischer Fortschritt würde eine geplante
Politik erfordern, die, anstatt die Technik den traditionellen
Lebens- und Arbeitsweisen von oben aufzuerlegen, diese
auf ihrem eigenem Boden erweitern und verbessern und dabei
die unterdrückenden und ausbeuterischen (materiellen und
religiösen) Kräfte beseitigen würde, die sie unfähig machten, die
Entwicklung einer menschlichen Existenz sicherzustellen. Soziale
Revolution, Agrarreform und eine Abnahme der Übervölkerung
wären Vorbedingungen, nicht aber Industrialisierung nach dem
Muster der fortgeschrittenen Gesellschaften. Einheimischer
Fortschritt scheint in der Tat in Gebieten möglich, wo die
natürlichen Hilfsquellen, befreit von unterdrückendem Eingriff,
noch ausreichend sind nicht nur für den Lebensunterhalt,
sondern auch für ein menschliches Leben. Und wo sie es nicht
37 Cf. zum folgenden die großartigen Bücher von René Dumont, besonders Terres vivantes,
Plon, Paris 1961.
- 85 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
sind, könnten sie nicht durch die allmähliche und stückweise Hilfe
der Technik dazu gebracht werden – im Rahmen der traditionellen
Formen?
Wenn das der Fall ist, dann würden Bedingungen herrschen,
die in den alten und fortgeschrittenen Industriegesellschaften
nicht existieren (und niemals existiert haben) – nämlich die
»unmittelbaren Produzenten« selbst hätten die Chance,
ihren eigenen Fortschritt durch eigene Arbeit und Muße
hervorzubringen und seinen Grad und seine Richtung zu
bestimmen. Selbstbestimmung ginge von der Basis aus, und
Arbeit für das Lebensnotwendige könnte übergehen in Arbeit
für den Genuß.
Aber selbst unter diesen abstrakten Annahmen müssen
die brutalen Grenzen der Selbstbestimmung anerkannt
werden. Die am Anfang stehende Revolution, die durch die
Abschaffung der geistigen und materiellen Ausbeutung die
Vorbedingungen für die neue Entwicklung herstellen soll,
ist kaum als spontane Aktion denkbar. Außerdem würde
einheimischer Fortschritt einen Wechsel in der Politik der
beiden großen industriellen Machtblöcke voraussetzen,
die heute der Welt das Gepräge geben – Aufgabe des
Neokolonialismus in allen seinen Formen. Gegenwärtig deutet
nichts auf einen solchen Wechsel hin.
Der Wohlfahrts- und Kriegsführungsstaat
Zusammenfassend läßt sich sagen: die Aussichten, eine
Änderung zu unterbinden, wie die Politik der technologischen
Rationalität sie bietet, hängen ab von den Aussichten des
- 86 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Wohlfahrtsstaats. Ein solcher Staat scheint imstande, den
Standard des verwalteten Lebens zu heben, ein Vermögen,
das allen fortgeschrittenen Industriegesellschaften innewohnt,
bei denen das Funktionieren des hochmodernen technischen
Apparats – als getrennte Macht gegenüber den Individuen
aufgerichtet – von der intensivierten Entwicklung und
Expansion der Produktivität abhängt. Unter solchen
Bedingungen hat die Abnahme von Freiheit und Opposition
nichts mit moralischem oder intellektuellem Verfall
oder Korrruption zu tun. Sie ist vielmehr insofern ein
objektiver gesellschaftlicher Prozeß, als die Produktion und
Verteilung einer größer werdenden Menge von Gütern und
Dienstleistungen Willfährigkeit zu einer rationalen technischen
Einstellung machen.
Bei all seiner Rationalität ist der Wohlfahrtsstaat jedoch
ein Staat der Unfreiheit, weil seine totale Verwaltung eine
systematische Beschränkung a) der »technisch« verfügbaren
freien Zeit ist38; b) der Quantität und Qualität »technisch« für
lebenswichtige individuelle Bedürfnisse verfügbarer Güter und
Dienstleistungen; c) der (bewußten und unbewußten) Einsicht,
die imstande wäre, die Möglichkeiten der Selbstbestimmung zu
begreifen und zu verwirklichen.
Die späte Industriegesellschaft hat das Bedürfnis nach parasitä-
ren und entfremdeten Funktionen (für die Gesamtgesellschaft,
wenn auch nicht für das Individuum) eher erhöht als verrin-
gert. Reklame, Öffentlichkeitsarbeit, »Schulung«, geplanter
38 »Freie« Zeit, keine »Freizeit«. Letztere gedeiht in der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft, aber ist in dem Maße unfrei, wie sie durch Geschäft und Politik
verwaltet wird.
- 87 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Verschleiß der Güter sind keine unproduktiven, zusätzlichen
Kosten mehr, sondern vielmehr Elemente der grundlegenden
Produktionskosten. Um wirksam zu sein, erfordert eine derarti-
ge Produktion gesellschaftlich notwendiger Verschwendung eine
unaufhörliche Rationalisierung – die rücksichtslose Anwendung
fortgeschrittener Techniken und der Wissenschaft. Folglich ist
ein sich erhöhender Lebensstandard das nahezu unvermeidliche
Nebenprodukt der politisch manipulierten Industriegesellschaft,
ist einmal eine bestimmte Stufe der Rückständigkeit überwunden.
Die wachsende Arbeitsproduktivität schafft ein zunehmendes
Mehrprodukt, das – ob privat oder zentral angeeignet und ver-
teilt – erhöhten Konsum gestattet – ungeachtet der vermehrten
Mannigfaltigkeit der Produktivität. Solange diese Konstellation
herrscht, schmälert sie den Gebrauchswert der Freiheit; es be-
steht kein Grund, auf Selbstbestimmung zu dringen, wenn das
verwaltete Leben das bequeme und sogar »gute« Leben ist. Das
ist der rationale und materielle Grund für die Vereinigung der
Gegensätze, für eindimensionales politisches Verhalten. Auf
diesem Boden werden die transzendierenden politischen Kräfte
innerhalb der Gesellschaft gehemmt, und qualitative Änderung
scheint möglich nur als eine von außen.
Die Ablehnung des Wohlfahrtsstaates zugunsten abstrakter
Freiheitsideen ist kaum überzeugend. Der Verlust der
ökonomischen und politischen Freiheiten, worin die wirkliche
Errungenschaft der letzten beiden Jahrhunderte bestand, mag in
einem Zustand, der das verwaltete Leben sicher und bequem
machen kann, als geringfügiger Schaden erscheinen39. Wenn
39 Cf. S. 21 f.
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
die Individuen – und das macht sogar ihr Glück aus – mit den
Gütern und Dienstleistungen zufrieden sind, die ihnen von der
Verwaltung heruntergereicht werden, warum sollten sie auf
anderen Einrichtungen um einer anderen Produktion anderer
Güter und Dienstleistungen willen bestehen? Und wenn die
Individuen derart präformiert sind, daß zu den befriedigenden
Gütern auch Gedanken, Gefühle und Wünsche gehören, warum
sollten sie selbst denken, fühlen und sich etwas vorstellen? Zwar
mögen die angebotenen materiellen und geistigen Waren schlecht,
verschwenderisch, Schund sein – aber Geist und Erkenntnis sind
keine durchschlagenden Argumente gegen die Befriedigung von
Bedürfnissen.
Die Kritik des Wohlfahrtsstaates im Sinne des Liberalismus
und Konservativismus (ob mit dem Präfix »Neo-« oder nicht)
stützt sich in ihrer Gültigkeit auf das Vorhandensein eben der
Bedingungen, über die der Wohlfahrtsstaat hinausgegangen ist
-nämlich auf eine niederere Stufe des gesellschaftlichen Reichtums
und der Technik. Die finsteren Aspekte dieser Kritik treten offen
zutage im Kampf gegen eine umfassende Sozialgesetzgebung und
angemessene Regierungsausgaben für andere Zwecke als solche
militärischer Verteidigung.
So dient die Denunziation der unterdrückenden Fähigkeiten
des Wohlfahrtsstaates dazu, die unterdrückenden Fähigkeiten
der Gesellschaft vor dem Wohlfahrtsstaat zu schützen. Auf der
fortgeschrittensten Stufe des Kapitalismus ist diese Gesellschaft
ein System des unterworfenen Pluralismus, in dem konkurrierende
Institutionen darum wetteifern, die Macht des Ganzen über das
Individuum zu festigen. Und doch ist pluralistische Verwaltung
- 89 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
für das verwaltete Individuum weit besser als totale. Eine
Institution könnte vor der anderen schützen, eine Organisation
die Einwirkung der anderen abschwächen; Möglichkeiten des
Entkommens und der Abhilfe sind berechenbar. Die Herrschaft
des Gesetzes, ganz gleich wie beschränkt, ist immer noch
unendlich sicherer als eine Herrschaft über dem Gesetz oder
ohne Gesetz.
Im Hinblick auf die herrschenden Tendenzen ist jedoch die
Frage aufzuwerfen, ob nicht diese Form von Pluralismus die
Zerstörung des Pluralismus beschleunigt. Die fortgeschrittene
Industriegesellschaft ist zwar ein System von Mächten, die
einander ausgleichen. Aber diese Kräfte heben sich gegenseitig
in einer höheren Einheit auf – im gemeinsamen Interesse,
die erreichte Stellung zu verteidigen und auszubauen,
die historischen Alternativen zu bekämpfen, qualitative
Änderung zu hintertreiben. Den sich ausgleichenden Mächten
gehören diejenigen nicht an, die dem Ganzen zuwiderlaufen40.
Jene haben die Tendenz, das Ganze gegen Negation von
innen wie von außen zu immunisieren; die Außenpolitik der
Eindämmung erscheint als eine erweiterte Innenpolitik der
Eindämmung.
Die Realität des Pluralismus wird ideologisch, trügerisch.
Sie scheint Manipulation und Gleichschaltung eher zu
erweitern als zu verringern, die verhängnisvolle Integration
eher zu befördern als ihr entgegenzuwirken. Freie
40 Zur kritischen und realistischen Bewertung von Galbraith‘ ideologischem Begriff der
»countervailing powers« cf. Earl Latham, »The Body Politic of the Corporation«, in: E.
S. Mason, The Corporation in Modern Society, Cambridge, Havard University Press,
1959, S. 223, 335 f
- 90 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Institutionen wetteifern mit autoritären darum, den Feind
zu einer tödlichen Kraft innerhalb des Systems zu machen.
Und diese tödliche Kraft regt Wachstum und Initiative an
– nicht infolge der Größe und ökonomischen Auswirkung
des Verteidigungs»sektors«, sondern der Tatsache, daß die
Gesellschaft als Ganzes zu einer Verteidigungsgesellschaft
wird. Denn der Feind ist permanent. Er existiert nicht in
einer Notsituation, sondern im Normalzustand. Er droht im
Frieden wie im Krieg (und vielleicht mehr noch im Frieden);
er wird so ins System als eine Bindekraft eingebaut.
Weder die wachsende Produktivität noch der hohe
Lebensstandard hängen von der äußeren Bedrohung ab, wohl
aber der Umstand, daß sie benutzt werden, gesellschaftlichen
Wandel einzudämmen und die Knechtschaft zu verewigen.
Der Feind ist der gemeinsame Nenner alles Tuns und Lassens.
Und der Feind ist nicht identisch mit dem gegenwärtigen
Kommunismus oder gegenwärtigen Kapitalismus – er ist in
beiden Fällen das reale Gespenst der Befreiung.
Noch einmal: der Wahnsinn des Ganzen spricht die
einzelnen Wahnsinnstaten frei und verkehrt die Verbrechen
gegen die Menschheit in ein rationales Unternehmen. Wenn die
Menschen, entsprechend stimuliert durch die öffentlichen und
privaten Behörden, sich auf ein Leben totaler Mobilisierung
vorbereiten, dann handeln sie vernünftig nicht nur wegen
des vorhandenen Feindes, sondern ebenso wegen der
Investitions- und Arbeitsmöglichkeiten in Industrie und
Unterhaltung. Selbst die wahnsinnigsten Berechnungen sind
rational: die Vernichtung von fünf Millionen Menschen ist der
- 91 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
von zehn Millionen, zwanzig Millionen usw. vorzuziehen.
Es ist hoffnungslos einzuwenden, daß eine Kultur, die ihre
Verteidigung mit einem solchen Kalkül rechtfertigt, ihr
eigenes Ende verkündet.
Unter diesen Umständen kommen selbst die bestehenden
Freiheiten und Fluchtmöglichkeiten mit dem organisierten
Ganzen ohne Schwierigkeiten zurecht. Bremst oder intensiviert
die Konkurrenz auf dieser Stufe des reglementierten
Marktes die Jagd nach größerem und rascherem Umschlag
und Verschleiß der Güter? Konkurrieren die politischen
Parteien um Befriedung oder um eine stärkere und
kostspieligere Rüstungsindustrie? Fördert oder verzögert die
Produktion von »Überfluß« die Befriedigung noch unerfüllter
Lebensbedürfnisse? Sind die ersteren Alternativen wahr, so
würde die gegenwärtige Form des Pluralismus das Potential
zum Eindämmen einer qualitativen Änderung stärken und
damit die »Katastrophe« der Selbstbestimmung eher
verhindern als erzwingen. Demokratie erwiese sich als das
leistungsfähigste Herrschaftssystem.
Das in den vorangehenden Abschnitten entworfene Bild
des Wohlfahrtsstaates ist das einer historischen Mißgeburt
zwischen organisiertem Kapitalismus und Sozialismus,
Knechtschaft und Freiheit, Totalitarismus und Glück. Seine
Möglichkeit geht hinreichend aus den herrschenden Tendenzen
des technischen Fortschritts hervor und ist hinreichend
bedroht durch explosive Kräfte. Die stärkste ist natürlich
die Gefahr, daß die Vorbereitung auf den totalen nuklearen
Krieg sich in seine Verwirklichung verwandeln kann : das
- 92 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Abschreckmittel dient auch dazu, Bemühungen abzuschrecken,
das Bedürfnis nach dem Abschreckmittel zu beseitigen. Andere
Faktoren sind im Spiel, die das angenehme Zusammentreffen
von Totalitarismus und Glück, Manipulation und Demokratie,
Heteronomie und Autonomie durchkreuzen können
– kurzum, die Verewigung der prästabilierten Harmonie von
organisiertem und spontanem Verhalten, präformiertem und
freiem Denken, Zweckmäßigkeit und Überzeugung.
Selbst im höchstorganisierten Kapitalismus bleibt das
gesellschaftliche Bedürfnis nach privater Aneignung und
Verteilung des Profits als Regulator der Wirtschaft erhalten.
Das heißt, er verknüpft weiterhin die Verwirklichung des
allgemeinen Interesses mit der partikulärer, althergebrachter
Interessen. Indem er so verfährt, steht er weiterhin dem
Konflikt gegenüber zwischen dem anwachsenden Potential,
den Kampf ums Dasein zu befrieden, und dem Bedürfnis,
diesen Kampf zu intensivieren; zwischen der fortschreitenden
»Aufhebung der Arbeit« und dem Bedürfnis, die Arbeit
als Profitquelle zu erhalten. Dieser Konflikt verewigt die
unmenschliche Existenz derer, die die menschliche Basis der
sozialen Pyramide bilden – die Außenseiter und die Armen, die
Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen, die verfolgten farbigen
Rassen, die Insassen von Strafanstalten und Irrenhäusern.
In den gegenwärtigen kommunistischen Gesellschaften
verewigen der äußere Feind, Rückständigkeit und das
Vermächtnis des Terrors die unterdrückenden Züge des
»Einholens und Überholens« der Errungenschaften des
Kapitalismus. Dadurch verschärft sich der Vorrang des Mittels
- 93 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
vor dem Zweck – ein Vorrang, der nur gebrochen werden
könnte, wenn eine Befriedung erreicht wird – und Kapitalismus
und Kommunismus weiterhin ohne militärische Gewalt
miteinander konkurrieren im Weltmaßstab und vermittels
weltumspannender Institutionen. Diese Befriedung würde
das Aufkommen einer wahrhaften Weltwirtschaft bedeuten
– das Ableben des Nationalstaats, nationalen Interesses
und nationalen Geschäfts mitsamt ihren internationalen
Bündnissen. Und gerade gegen diese Möglichkeit wird die
gegenwärtige Welt mobilisiert:
L‘ignorance et l‘inconscience sont telles que les
nationalismes demeurent florissants. Ni l’armement ni
l’industrie du XXe siècle ne permettent aux patries d’assurer
leur sécurité et leur vie sinon en ensembles organisés de poids
mondial, dans l’ordre militaire et économique. Mais à l’Ouest
non plus qu’à l’Est, les croyances collectives n’assimilent les
changements réels. Les Grands forment leurs empires, ou
en réparent les architectures sans accepter les changements de
régime économique et politique qui donneraient efficacité et
sens à l’une et à l’autre coalitions.
Und:
Dupes de la nation et dupes de la classe, les masses souffrantes
sont partout engagées dans les duretés de conflits où leurs
seuls ennemis sont des maîtres qui emploient sciemment les
mystifications de l’industrie et du pouvoir. La collusion de
l’industrie moderne et du pouvoir territorialisé est un vice dont
la réalité est plus pronfonde que les institutions et les structures
- 94 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
capitalistes et communistes et qu’aucune dialectique nécessaire
ne doit nécessairement extirper41.
Die verhängnisvolle wechselseitige Abhängigkeit der einzigen
beiden »souveränen« Gesellschaftssysteme in der gegenwärtigen
Welt drückt die Tatsache aus, daß der Konflikt zwischen
Fortschritt und Politik, zwischen dem Menschen und seinen
Herren total geworden ist. Wenn der Kapitalismus sich der
Herausforderung des Kommunismus stellt, so stellt er sich
seinen eigenen Möglichkeiten: eine beachtliche Entwicklung
aller Produktivkräfte, nachdem die privaten Profitinteressen
zurückgestellt wurden, die eine solche Entwicklung hemmen.
Wenn der Kommunismus sich der Herausforderung des
Kapitalismus stellt, so stellt auch er sich seinen eigenen
Möglichkeiten: ein beachtlicher Komfort, Freiheiten und
eine Erleichterung der Lebenslast. Beide Systeme enthalten
41 »Die Gewissenlosigkeit und die Unkenntnis sind so groß, daß die Nationalismen
weiter gedeihen. Weder die Rüstung noch die Industrie des zwanzigsten Jahrhunderts
gestatten es den >Vaterländern<, ihre Sicherheit und ihr Dasein zu verbürgen, es sei
denn durch organisierte Einheiten, die in militärischer und ökonomischer Hinsicht
im Weltmaßstab ins Gewicht fallen. Und weder im Westen noch im Osten vermag
ein kollektiv eingedrillter Glaube die Verwandlungen der Wirklichkeit zu sehen.
Die Großen bilden ihre Imperien oder reparieren deren Architektur, ohne die
Veränderungen im ökonomischen und politischen System zu akzeptieren, was der
einen oder anderen Koalition erst Wirksamkeit und Sinn verliehe.«
(Und:)
»Oberall sind die leidenden Massen durch Vaterlandsideologien betrogen, durch die
Klassenideologien genarrt. Nur der Härte des Konflikts sind sie überall unterworfen,
und ihre einzigen Feinde sind jene Meister, die wissentlich die Industrialisierung und
die Macht mißbrauchen.
Das Einverständnis zwischen der modernen Industrie und der territorialen,
Macht ist ein Laster, das folgenreicher ist als die Institutionen und Strukturen
des Kapitalismus und des Kommunismus, und keine zwangsläufige Dialektik muß
es zwangsläufig ausmerzen.« François Perroux, loc. cit., Band III, S. 631 f.;
633; dt. Ausgabe, loc. cit., S. 606 f. (und, soweit in dieser nicht enthalten, eigene
Übersetzung, A. d. Ü.).
- 95 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
diese Möglichkeiten bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und in
beiden Fällen ist der Grund dafür in letzter Instanz derselbe
– der Kampf gegen eine Lebensform, die die Grundlage der
Herrschaft auflösen würde.
- 96 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
3 Der Sieg über das unglückliche Bewußtsein:
repressive Entsublimierung
Nachdem wir die politische Integration der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft erörtert haben – eine Leistung, die
durch die anwachsende technische Produktivität und die sich
erweiternde Unterwerfung von Mensch und Natur ermöglicht
wird – , wollen wir uns jetzt einer entsprechenden Integration
im kulturellen Bereich zuwenden. In diesem Kapitel werden
bestimmte Schlüsselbegriffe und Bilder der Literatur und ihr
Schicksal verdeutlichen, wie der Fortschritt technologischer
Rationalität dabei ist, die oppositionellen und transzendierenden
Elemente in der »höheren Kultur« zu beseitigen. Sie fallen
praktisch dem Prozeß der Entsublimierung zum Opfer, der in den
fortgeschrittenen Bereichen der gegenwärtigen Gesellschaft die
Oberhand gewinnt.
Die Errungenschaften und Mißerfolge dieser Gesellschaft
entwerten ihre höhere Kultur. Die Feier des autonomen
Charakters, des Humanismus, tragischer und romantischer Liebe
erscheint als das Ideal einer rückständigen Entwicklungsstufe. Was
heute geschieht, ist nicht die Herabsetzung der höheren Kultur
zur Massenkultur, sondern die Widerlegung dieser Kultur durch
die Wirklichkeit. Diese übertrifft ihre Kultur. Der Mensch vermag
heute mehr als die Helden der Kultur und die Halbgötter; er hat
viele unlösbare Probleme gelöst. Aber er hat auch die Hoffnung
verraten und die Wahrheit zerstört, die in den Sublimationen der
höheren Kultur aufgehoben waren. Freilich befand die höhere
Kultur sich stets im Widerspruch mit der gesellschaftlichen
Realität, und nur eine privilegierte Minderheit erfreute sich ihrer
- 97 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Segnungen und vertrat ihre Ideale. Die beiden antagonistischen
Sphären der Gesellschaft haben immer nebeneinander bestanden;
die höhere Kultur paßte sich stets an, während die Wirklichkeit
durch ihre Ideale und ihre Wahrheit selten gestört wurde.
Als neues Merkmal kommt hinzu, daß der Antagonismus
zwischen Kultur und gesellschaftlicher Wirklichkeit dadurch
eingeebnet wird, daß die oppositionellen, fremden und
transzendenten Elemente der höheren Kultur getilgt werden, kraft
deren sie eine andere Dimension der Wirklichkeit bildete. Diese
Liquidation der zweidimensionalen Kultur findet nicht so
statt, daß die »Kulturwerte« geleugnet und verworfen werden,
sondern so, daß sie der etablierten Ordnung unterschiedslos
einverleibt und in massivem Ausmaß reproduziert und zur
Schau gestellt werden.
Praktisch dienen sie als Instrumente gesellschaftlichen
Zusammenhalts. Die Größe einer freien Literatur und Kunst,
die Ideale des Humanismus, die Sorgen und Freuden des
Individuums, die Erfüllung der Persönlichkeit sind wichtige
Punkte im Konkurrenzkampf zwischen Ost und West. Sie
sprechen schwerwiegend gegen die heutigen Formen des
Kommunismus, und sie werden täglich verordnet und verkauft.
Die Tatsache, daß sie der Gesellschaft widersprechen, die sie
verkauft, zählt nicht. Ebenso wie die Menschen wissen oder
fühlen, daß Reklame und Parteiprogramme nicht notwendig
wahr oder gerechtfertigt sein müssen, und sie sich doch
anhören, sie lesen und sich sogar von ihnen leiten lassen, so
akzeptieren sie die traditionellen Werte und machen sie zum
Bestandteil ihres geistigen Rüstzeugs. Wenn die Massenko
- 98 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
mmunikationsmittel Kunst, Politik, Religion und Philosophie
harmonisch und oft unmerklich mit kommerziellen Mitteilungen
vermischen, so bringen sie diese Kulturbereiche auf ihren
gemeinsamen Nenner – die Warenform. Die Musik der Seele
ist auch die der Verkaufstüchtigkeit. Der Tauschwert zahlt,
nicht der Wahrheitswert. In ihm faßt sich die Rationalität
des Status quo zusammen, und alle andersartige Rationalität
wird ihr unterworfen.
Indem die großen Worte über Freiheit und Erfüllung
von Führern und Politikern bei Wahlkampagnen verkündet
werden, in den Kinos, im Radio und Fernsehen, verkehren
sie sich in sinnlose Laute, die nur im Zusammenhang mit
Propaganda, Geschäft, Disziplin und Zerstreuung einen
Sinn erhalten. Diese Angleichung des Ideals an die Realität
bezeugt, wie sehr das Ideal überboten worden ist. Es wird
dem sublimierten Bereich der Seele oder des Geistes oder
des inneren Menschen entzogen und in Operationelle Begriffe
und Probleme übersetzt. Hierin bestehen die fortschrittlichen
Elemente der Massenkultur. Die Abkehr von der Innerlichkeit
deutet auf die Tatsache hin, daß die fortgeschrittene
Industriegesellschaft der Möglichkeit einer Materialisierung
der Ideale gegenübersteht. Die Kapazitäten dieser Gesellschaft
verringern immer mehr den sublimierten Bereich, in dem die Lage
des Menschen dargestellt, idealisiert und angeklagt wurde. Die
höhere Kultur wird ein Teil der materiellen und büßt bei dieser
Umformung ihre Wahrheit weitgehend ein.
Die höhere Kultur des Westens – zu deren moralischen,
ästhetischen und gedanklichen Werten sich die Industriegesellschaft
- 99 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
immer noch bekennt – war im funktioneilen wie historischen
Sinne eine vortechnische Kultur. Ihre Verbindlichkeit ging hervor
aus der Erfahrung einer Welt, die nicht mehr besteht und
nicht wiedererlangt werden kann, weil sie von der technischen
Gesellschaft in einem strengen Sinne außer Kraft gesetzt wird.
Zudem blieb sie weitgehend eine feudale Kultur, auch wenn es
während der bürgerlichen Periode zu einigen ihrer nachhaltigsten
Formulierungen kam. Sie war nicht nur feudal, weil sie auf
privilegierte Minderheiten begrenzt blieb, und nicht nur, weil
ihr ein romantisches Element innewohnte (das sogleich erörtert
werden soll), sondern auch deshalb, weil ihre authentischen
Werke eine bewußte, methodische Entfremdung von der ganzen
Geschäfts- und Industriesphäre und ihrer kalkulierbaren und
einträglichen Ordnung ausdrückten.
Obwohl diese bürgerliche Ordnung ihre reiche – und sogar
affirmative – Darstellung in Kunst und Literatur fand (wie bei
den holländischen Malern des siebzehnten Jahrhunderts, in
Goethes Wilhelm Meister, im englischen Roman des neunzehnten
Jahrhunderts, bei Thomas Mann), blieb sie eine Ordnung,
die von einer anderen Dimension überschattet, durchbrochen
und widerlegt wurde, welche der Ordnung des Geschäfts
unversöhnlich antagonistisch gegenüberstand, sie anklagte und
verneinte. Und in der Literatur wird diese andere Dimension
nicht durch die religiösen, geistigen und moralischen Helden
dargestellt (die oft die herrschende Ordnung stützen), sondern
vielmehr durch solche auflösenden Charaktere wie den Künstler,
die Prostituierte, die Ehebrecherin, den großen Verbrecher und
Geächteten, den Räuber, den rebellischen Dichter, den Schelm,
- 100 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
den Narren – jene, die sich ihren Lebensunterhalt nicht verdienen,
zumindest nicht auf ordentliche und normale Weise.
Freilich sind diese Charaktere nicht aus der Literatur
der fortgeschrittenen Industriegesellschaft verschwunden,
aber sie überleben wesentlich verändert. Der Vamp, der
Nationalheld, der Beatnik, die neurotische Hausfrau, der
Gangster, der Star, der charismatische Industriekapitän üben
eine Funktion aus, die von der ihrer kulturellen Vorläufer sehr
verschieden ist, ja im Gegensatz zu ihr steht. Sie sind keine
Bilder einer anderen Lebensweise mehr, sondern eher Launen
oder Typen desselben Lebens, die mehr als Affirmation denn
als Negation der bestehenden Ordnung dienen.
Die Welt ihrer Vorläufer war gewiß eine rückständige,
vortechnische Welt, eine Welt, die angesichts von Ungleichheit
und Plackerei ein gutes Gewissen hatte und in der die
Arbeit noch ein vom Schicksal verhängtes Unglück war
– aber eine Welt, in der Mensch und Natur noch nicht als
Dinge und Mittel organisiert waren. Mit ihrem Formen- und
Sittenkodex, mit dem Stil und Vokabular ihrer Literatur und
Philosophie drückte diese vergangene Kultur den Rhythmus
und Inhalt eines Universums aus, in dem Täler und Wälder,
Dörfer und Schenken, Edelleute und Leibeigene, Salons und
Höfe zur erfahrenen Wirklichkeit gehörten. In der Lyrik und
Prosa dieser vortechnischen Kultur ist der Rhythmus von
Menschen enthalten, die wandern oder in Kutschen fahren und
die Zeit und Lust haben, nachzudenken, etwas zu betrachten,
zu fühlen und zu erzählen.
- 101 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Es ist eine altmodische und überholte Kultur, und nur Träume
und kindliche Regressionen können sie wieder einfangen. Aber
diese Kultur ist in einigen ihrer entscheidenden Elemente
zugleich eine nachtechnische. Ihre fortgeschrittensten Bilder und
Positionen scheinen ihr Aufgehen in verordnetem Trost und
in Reizmitteln zu überleben; sie verfolgen das Bewußtsein
noch immer mit der Möglichkeit ihrer Wiedergeburt in der
Vollendung des technischen Fortschritts. Sie sind der Ausdruck
jener freien und bewußten Entfremdung von den herrschenden
Lebensformen, mit der Literatur und Kunst sich diesen Formen
selbst dort widersetzten, wo sie sie ausschmückten.
In Gegensatz zu dem Marxschen Begriff, der das Verhältnis
des Menschen zu sich und seiner Arbeit in der kapitalistischen
Gesellschaft bezeichnet, ist die künstlerische Entfremdung
das bewußte Transzendieren der entfremdeten Existenz
– ein »höheres Niveau« oder vermittelte Entfremdung.
Der Konflikt mit der Welt des Fortschritts, die Negation
der Ordnung des Geschäfts, die antibürgerlichen Elemente
in der bürgerlichen Literatur und Kunst gehen weder auf
den ästhetischen Tiefstand dieser Ordnung zurück noch auf
romantische Reaktion – die sehnsuchtsvolle Weihe einer
verschwindenden Zivilisationsstufe. »Romantisch« ist ein
Begriff herablassender Diffamierung, schnell zur Hand, um
avantgardistische Positionen zu verunglimpfen, wie auch der
Begriff »dekadent« weit häufiger die wahrhaft fortschrittlichen
Züge einer sterbenden Kultur denunziert als die wirklichen
Faktoren des Verfalls. Die traditionellen Bilder künstlerischer
Entfremdung sind in der Tat insofern romantisch, als sie mit
der sich entwickelnden Gesellschaft ästhetisch unvereinbar
- 102 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
sind. Diese Unvereinbarkeit ist das Zeichen ihrer Wahrheit.
Woran sie erinnern und was sie im Gedächtnis aufbewahren,
erstreckt sich auf die Zukunft: Bilder einer Erfüllung, welche
die Gesellschaft auflösen würde, die sie unterdrückt. Die
große surrealistische Kunst der zwanziger und dreißiger
Jahre hat sie in ihrer subversiven und befreienden Funktion
noch einmal eingefangen. Aufs Geratewohl herausgegriffene
Beispiele aus dem literarischen Grundvokabular mögen
die Reichweite und Verwandtschaft dieser Bilder andeuten
sowie die von ihnen offenbarte Dimension: Seele und Geist
und Herz; la recherche de l‘absolu, Les fleurs du mal, la
femme-enfant; das Königreich am Meer; Le bateau ivre und
The Long-legged Bait; Ferne und Heimat; aber auch Dämon
Alkohol, Dämon Maschine und Dämon Geld; Don Juan und
Romeo; Baumeister Solneß und Wenn wir Toten erwachen.
Ihre bloße Aufzählung zeigt, daß sie einer verlorenen
Dimension angehören. Sie haben nicht nur deshalb ihre
Kraft eingebüßt, weil sie literarisch veraltet sind. Einige
dieser Bilder gehören zur zeitgenössischen Literatur und
überleben in ihren avanciertesten Schöpfungen. Entkräftet
wurde ihre subversive Gewalt, ihr zerstörerischer Inhalt – ihre
Wahrheit. Derart umgeformt, finden sie im Alltagsleben ihre
Stätte. Die fremden und entfremdenden Werke der geistigen
Kultur werden zu vertrauten Gütern und Dienstleistungen.
Bedeutet ihre massive
Reproduktion und Konsumtion nur einen quantitativen
Wandel, das heißt zunehmende Wertschätzung, zunehmendes
Verständnis, eine Demokratisierung der Kultur?
- 103 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Die Wahrheit von Literatur und Kunst war stets nur
(wenn überhaupt) zugelassen als die einer »höheren«
Ordnung, welche die Ordnung des Geschäfts nicht stören
sollte und auch nicht störte. Was sich in der gegenwärtigen
Periode geändert hat, ist die Differenz zwischen den beiden
Ordnungen und ihren Wahrheiten. Die absorbierende Macht
der Gesellschaft höhlt die künstlerische Dimension aus,
indem sie sich ihre antagonistischen Inhalte angleicht. Im
Bereich der Kultur manifestiert sich der neue Totalitarismus
gerade in einem harmonisierenden Pluralismus, worin die
einander widersprechendsten Werke und Wahrheiten friedlich
nebeneinander koexistieren.
Vor dieser kulturellen Versöhnung waren Literatur und
Kunst wesentlich Entfremdung, hielten den Widerspruch
aus und bewahrten ihn – das unglückliche Bewußtsein
der gespaltenen Welt, der vereitelten Möglichkeiten, der
unerfüllten Hoffnungen, der verratenen Versprechen. Sie
waren eine rationale, eine Kraft der Erkenntnis, die eine
Dimension von Mensch und Natur bloßlegte, die in der
Wirklichkeit unterdrückt und verstoßen wurde. Ihre Wahrheit
bestand im beschworenen Schein, im Bestehen darauf, eine
Welt zu schaffen, worin der Schrecken des Lebens wachgerufen
und suspendiert wurde – gemeistert durch Anerkennung.
Das ist die Wunderkraft des chef-d‘oeuvre; die bis zum
Letzten ertragene Tragödie und das Ende der Tragödie – ihre
unmögliche Lösung. Seiner Liebe und seinem Haß zu leben,
so zu leben, wie man ist, bedeutet Niederlage, Resignation
und Tod. Die Verbrechen der Gesellschaft, die Hölle, die der
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H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Mensch dem Menschen bereitet hat, werden zu unbesiegbaren
kosmischen Mächten.
Die Spannung zwischen dem Wirklichen und dem
Möglichen wird zu einem unlösbaren Konflikt verklärt, in dem
Versöhnung kraft des Oeuvres als Form besteht: Schönheit als
»promesse de bonheur«. In der Form des Oeuvres werden die
tatsächlichen Umstände in eine andere Dimension versetzt,
worin die gegebene Wirklichkeit sich als das erweist, was sie
ist. Sie berichtet so die Wahrheit über sich; ihre Sprache hört
auf, die von Täuschung, Unwissenheit und Unterwerfung
zu sein. Der Roman nennt die Tatsachen beim Namen,
und ihre Herrschaft bricht zusammen; er untergräbt die
Alltagserfahrung und zeigt, daß sie verstümmelt und falsch
ist. Kunst hat jedoch diese magische Kraft nur als die Kraft
der Negation. Sie kann ihre eigene Sprache nur so lange
sprechen, wie die Bilder lebendig sind, welche die etablierte
Ordnung ablehnen und widerlegen.
Flauberts Madame Bovary unterscheidet sich von ebenso
traurigen Liebesgeschichten der zeitgenössischen Literatur
durch die Tatsache, daß das bescheidene Vokabular ihres
Gegenstücks im wirklichen Leben noch die Bilder der Heldin
enthielt – dort las man Geschichten, die solche Bilder noch
enthielten. Ihre Angst war verhängnisvoll, weil es keinen
Psychoanalytiker gab, und es gab keinen Psychoanalytiker,
weil er in ihrer Welt außerstande gewesen wäre, sie zu
heilen. Sie hätte ihn als einen Teil der Ordnung von Yonville
zurückgewiesen, die sie zerstörte. Ihre Geschichte war
»tragisch«, weil sie sich in einer rückständigen Gesellschaft
- 105 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
abspielte mit einer noch nicht liberalisierten Geschlechtsmoral
und einer noch nicht institutionalisierten Psychologie. Die
Gesellschaft, die ihr Problem »gelöst« hat, indem sie es
unterdrückte, sollte erst noch kommen. Sicher wäre es Unsinn
zu sagen, daß ihre Tragödie oder die von Romeo und Julia in
der modernen Demokratie gelöst sei, aber es wäre ebenso
Unsinn, das geschichtliche Wesen der Tragödie zu leugnen.
Die sich entwickelnde technologische Realität untergräbt
nicht nur die traditionellen Formen, sondern auch die gesamte
Grundlage der künstlerischen Entfremdung – das heißt, sie
tendiert dazu, nicht nur bestimmte »Stile« zu entwerten,
sondern auch die Substanz der Kunst selbst.
Freilich ist Entfremdung nicht das einzige Charakteristikum
der Kunst. Eine Analyse oder auch nur Darlegung des
Problems geht über den Rahmen dieses Werks hinaus, aber
einige Hinweise zur Klärung lassen sich geben. Während
ganzer Perioden der Zivilisation erscheint die Kunst als völlig
in ihre Gesellschaft integriert. Die ägyptische, griechische
und gotische Kunst sind bekannte Beispiele; auch werden
Bach und Mozart gewöhnlich als Belege für die »positive«
Seite der Kunst angeführt. Der Ort des Kunstwerks in einer
vortechnischen und zweidimensionalen Kultur ist sehr
verschieden von dem in einer eindimensionalen Zivilisation,
aber Entfremdung charakterisiert affirmative ebenso wie
negative Kunst.
Der entscheidende Unterschied ist nicht der psychologische
zwischen Kunst, die in Freude und Kunst, die in Trauer
geschaffen wurde, zwischen Gesundheit und Neurose, sondern
- 106 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
der zwischen der künstlerischen und der gesellschaftlichen
Wirklichkeit. Der Bruch mit der letzteren, ihr magisches
oder rationales Überschreiten, ist eine wesentliche Qualität
selbst der affirmativsten Kunst; sie ist ferner gerade jener
Öffentlichkeit entfremdet, der sie sich zuwendet. Ganz gleich,
wie nahe und vertraut der Tempel oder die Kathedrale den
Menschen waren, die um sie herum lebten, sie verblieben in
erschreckendem oder erhebendem Gegensatz zum täglichen
Leben des Sklaven, des Bauern und des Handwerkers – und
vielleicht sogar zu dem ihrer Herren.
Ob ritualisiert oder nicht, enthält Kunst die Rationalität
der Negation. In ihren fortgeschrittenen Positionen ist sie die
Große Weigerung – der Protest gegen das, was ist. Die
Weisen, in denen die Menschen und Dinge dazu gebracht
werden, zu erscheinen, zu singen, zu tönen und zu sprechen,
sind Weisen, ihre tatsächliche Existenz zu widerlegen, zu
durchbrechen und neuzuschaffen. Aber diese Weisen der
Negation zahlen der antagonistischen Gesellschaft Tribut, mit
der sie verbunden sind. Getrennt von der Sphäre der Arbeit,
worin die Gesellschaft sich und ihr Elend reproduziert, bleibt
die von ihnen geschaffene Welt der Kunst bei all ihrer
Wahrheit ein Privileg und ein Schein.
Trotz aller Demokratisierung und Popularisierung
besteht sie in dieser Form fort während des neunzehnten
Jahrhunderts und bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein.
Die »hohe Kultur«, in der diese Entfremdung gefeiert wird,
hat ihre eigenen Riten und ihren eigenen Stil. Der Salon, das
Konzert, Oper und Theater sind dazu bestimmt, eine andere
- 107 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Dimension der Wirklichkeit zu schaffen und zu beschwören. Ihr
Besuch erfordert feiertägliche Vorbereitung; sie unterbrechen
die Alltagserfahrung und transzendieren sie.
Jetzt wird diese wesentliche Kluft zwischen den Künsten
und der Forderung des Tages, die in der künstlerischen
Entfremdung offen gehalten wurde, durch die fortschreitende
technologische Gesellschaft immer mehr geschlossen. Und
indem sie geschlossen wird, wird die Große Weigerung
ihrerseits verweigert; die »Dimension des Anderen« wird
vom herrschenden Zustand aufgesogen. Die Werke der
Entfremdung werden selbst dieser Gesellschaft einverleibt und
zirkulieren als wesentlicher Bestandteil der Ausstattung, die
den herrschenden Zustand ausschmückt und psychoanalysiert.
Sie werden so zu Reklameartikeln – sie lassen sich verkaufen,
sie trösten oder erregen.
Die neokonservativen Kritiker der linken Kritik
an der Massenkultur bespötteln, daß gegen Bach als
Hintergrundmusik in der Küche protestiert wird, gegen
Platon und Hegel, Shelley und Baudelaire, Marx und Freud
im Kaufhaus. Stattdessen bestehen sie auf der Anerkennung
der Tatsache, daß die Klassiker das Mausoleum verlassen
haben und wieder lebendig wurden, daß die Menschen eben
sehr viel gebildeter sind. Das stimmt, aber indem sie als
Klassiker lebendig werden, werden sie als etwas anderes
lebendig als sie waren; sie werden ihrer antagonistischen Kraft
beraubt, der Entfremdung, worin gerade die Substanz ihrer
Wahrheit bestand. Absicht und Funktion dieser Werke haben
sich daher grundlegend geändert. Wenn sie einmal zum Status
- 108 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
quo in Widerspruch standen, so wird dieser Widerspruch jetzt
eingeebnet.
Solche Angleichung ist jedoch historisch verfrüht; sie stellt
kulturelle Gleichheit her und behält die Herrschaft bei. Die
Gesellschaft beseitigt die Vor- und Sonderrechte der feudal-
aristokratischen Kultur mitsamt ihrem Inhalt. Die Tatsache,
daß die transzendierenden Wahrheiten der schönen Künste,
die Ästhetik von Leben und Denken nur den wenigen
Wohlhabenden und Gebildeten zugänglich waren, war der
Mangel einer repressiven Gesellschaft. Aber dieser Mangel wird
nicht durch Paperbacks, Allgemeinbildung, Langspielplatten
und das Abschaffen feiertäglicher Kleidung in Theater und
Konzertsaal behoben1. Die kulturellen Privilegien drückten
die Ungerechtigkeit der Freiheit aus, den Widerspruch
zwischen Ideologie und Wirklichkeit, die Trennung geistiger
von materieller Produktivität; sie gewährten aber auch einen
umhegten Bereich, in dem die tabuierten Wahrheiten in
abstrakter Integrität überleben konnten – der Gesellschaft
enthoben, die sie unterdrückte.
Jetzt ist diese Distanziertheit beseitigt – und mit ihr
Transzendenz und Anklage. Text und Ton sind noch
vorhanden, aber die Distanz ist bewältigt, die sie zur »Luft
von anderen Planeten« machte2. Die künstlerische Entfremdung
ist so funktional wie die Architektur der neuen Theater und
Konzerthallen geworden, in denen sie dargeboten wird. Und
1 Kein Mißverständnis: an und für sich sind Paperbacks, Allgemeinbildung und
Langspielplatten durchaus erfreulich.
2 Stefan George, in Arnold Schönbergs Quartett in fis-Moll. Cf. Th. W. Adorno,
Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1949, S. 19 ff.
- 109 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
auch hier sind Rationales und Schlechtes nicht zu trennen.
Fraglos ist die neue Architektur besser, das heißt schöner
und praktischer als die Monstrositäten der viktorianischen
Ära. Aber sie ist auch »integrierter« – das Kulturzentrum
wird zu einem geeigneten Teil des Einkaufs-, Stadt- oder
Regierungszentrums. Herrschaft hat ihre eigene Ästhetik,
und demokratische Herrschaft hat ihre demokratische
Ästhetik. Es ist gut, daß heute fast jeder die schönen Künste
in den Fingerspitzen haben kann, indem er einfach an einem
Knopf seines Radios dreht oder ins nächste Kaufhaus geht.
Bei dieser Verbreitung werden sie jedoch zu Zahnrädern einer
Kulturmaschine, die ihren Inhalt ummodelt.
Die künstlerische Entfremdung erliegt mit den anderen
Weisen der Negation dem Prozeß technologischer Rationalität.
Der Wandel offenbart seine Tiefe und das Maß, indem er
unwiderruflich ist, wenn er als Ergebnis des technischen
Fortschritts angesehen wird. Die gegenwärtige Stufe bestimmt
die Möglichkeiten von Mensch und Natur neu, gemäß den
neuen Mitteln, die ihrer Verwirklichung zu Gebote stehen,
und in ihrem Licht verlieren die vortechnischen Bilder ihre
Macht.
Ihr Wahrheitswert hing weitgehend von einer unbegrif-
fenen und unbewältigten Dimension von Mensch und
Natur ab, von den engen Grenzen, die der Organisation
und Manipulation gesteckt waren, von dem »unauflöslichen
Kern«, der sich der Integration widersetzte. In der vollent-
wickelten Industriegesellschaft wird dieser unauflösliche
Kern immer mehr geschmälert. Offenkundig hat die ma-
- 110 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
terielle Umgestaltung der Welt die geistige Umgestaltung
ihrer Symbole, Bilder und Ideen im Gefolge. Wenn Städte,
Autobahnen und Naturschutzgebiete die Dörfer, Täler und
Wälder ersetzen, wenn Motorboote über die Seen rasen und
Flugzeuge den Himmel durchstoßen – dann verlieren diese
Bereiche offenkundig ihren Charakter als eine qualitativ an-
dere Wirklichkeit, als Gebiete des Widerspruchs.
Und da Widerspruch das Werk des Logos ist – die rationale
Konfrontation dessen, »was nicht ist«, mit dem, »was ist« – ,
muß er ein Medium haben, worin er sich mitteilt. Der Kampf
um dieses Medium oder vielmehr der Kampf dagegen, daß
es von der herrschenden Eindimensionalität aufgesogen
wird, tritt hervor in den avangardistischen Versuchen, eine
Verfremdung zu schaffen, welche die künstlerische Wahrheit
wieder kommunizierbar machen soll.
Bertolt Brecht hat die theoretischen Grundlagen für
diese Anstrengungen skizziert. Der totale Charakter der
bestehenden Gesellschaft stellt den Dramatiker vor die
Frage, »ob die heutige Welt durch Theater überhaupt noch
wiedergegeben werden kann« – das heißt so, daß der
Zuschauer die Wahrheit anerkennt, die das Stück übermitteln
soll. Brecht antwortet, daß die heutige Welt nur dann in dieser
Weise wiedergegeben werden kann, wenn sie als veränderbar
wiedergegeben wird3 – als der Zustand zu negierender
Negativität. Das ist die Lehre, die gelernt, begriffen und nach
der gehandelt werden muß; aber das Theater ist Unterhaltung,
Vergnügen, und das sollte es sein. Unterhaltung und Lernen
3 Bertolt Brecht, Schriften zum Theater, Berlin und Frankfurt, S. 7, 9.
- 111 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
sind jedoch keine Gegensätze; Unterhaltung kann die
wirksamste Art des Lernens sein. Um zu lehren, was die
heutige Welt hinter dem ideologischen und materiellen
Schleier wirklich ist und wie sie geändert werden kann,
muß das Theater die Identifikation des Zuschauers mit den
Ereignissen auf der Bühne durchbrechen. Nicht Einfühlung und
Empfindung, sondern Distanz und Reflexion sind erforderlich.
Der »Verfremdungseffekt« soll diese Dissoziation bewirken, in
der die Welt als das anerkannt werden kann, was sie ist.
»Alltägliche Dinge werden ... aus dem Bereich des
Selbstverständlichen gehoben ...«.4 »Das >Natürliche< muß
das Moment des Auffälligen bekommen. Nur so können
die Gesetze von Ursache und Wirkung zu Tage treten.«5
Der »Verfremdungseffekt« wird der Literatur nicht von
außen aufgenötigt. Er ist vielmehr die Antwort der Literatur
selbst auf ihre Bedrohung durch den totalen Behaviorismus
– der Versuch, die Rationalität des Negativen zu retten. In
diesem Versuch schließt sich der große »Konservative« der
Literatur dem radikalen Aktivisten an. Paul Valéry besteht
auf der unvermeidlichen Gebundenheit der poetischen
Sprache an die Negation. Die Verse dieser Sprache »ne parlent
jamais que de choses absentes«.6 Sie sprechen von dem, was
– wenn auch abwesend – das bestehende Universum von
Sprache und Verhalten als dessen tabuierteste Möglichkeit
heimsucht – weder Himmel noch Hölle, weder Gut noch Böse,
sondern einfach »le bonheur«. Damit spricht die dichterische
4 Ibid , S. 76 f.
5 Ibid., S. 63.
6 Paul Valéry, »Poésie et pensée abstraite«, in: Oeuvres, Band 1, Paris 1957, S. 1324.
- 112 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Sprache von dem, was von dieser Welt ist, was in Mensch und
Natur sichtbar, fühlbar, hörbar ist – und von dem, was nicht
gesehen, nicht berührt, nicht gehört wird.
Indem sie ein Medium schafft und sich in ihm bewegt,
worin das Abwesende dargestellt wird, ist die dichterische
Sprache eine der Erkenntnis – aber einer Erkenntnis, die
das Positive unterhöhlt. In ihrer Erkenntnisfunktion kommt
Dichtung der großen Aufgabe des Denkens nach: »le travail
qui fait vivre en nous ce qui n’existe pas«.7
Die »abwesenden Dinge« nennen, heißt den Bann der
seienden Dinge brechen; es liegt darin ferner, daß eine
andere Ordnung der Dinge in die bestehende eindringt – »le
commencement d’un monde«.8
Weil sie diese andere Ordnung ausdrückt – Transzendenz
innerhalb der einen Welt –, hängt die dichterische Sprache
von den transzendenten Elementen der Alltagssprache ab9.
Die totale Mobilisation aller Medien zur Verteidigung der
bestehenden Wirklichkeit hat jedoch die Ausdrucksmittel
derart gleichgeschaltet, daß die Mitteilung transzendierender
Inhalte technisch unmöglich wird. Das Gespenst, von dem das
künstlerische Bewußtsein seit Mallarmé heimgesucht worden
ist – die Unmöglichkeit, eine nichtverdinglichte Sprache
zu sprechen, das Negative mitzuteilen, hat aufgehört, ein
Gespenst zu sein. Es hat Gestalt angenommen.
Die wahrhaft avantgardistischen Werke der Literatur
kommunizieren den Bruch mit der Kommunikation. Mit
7 »die Anstrengung, die in uns leben macht, was nicht existiert«. Ibid , S. 1333.
8 Ibid , S. 1327 (mit Bezug auf die Sprache der Musik).
9 Cf. Kapitel 7.
- 113 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Rimbaud und dann im Dadaismus und Surrealismus weist
die Literatur gerade jene Struktur der Rede zurück, die
während der gesamten Kulturgeschichte künstlerische und
Alltagssprache verbunden hat. Das Satzsystem10 (mit dem
Satz als seiner Bedeutungseinheit) war das Medium, worin
die beiden Dimensionen der Wirklichkeit sich treffen,
kommunizieren und kommuniziert werden konnten. Die
erhabenste Dichtung und die gemeinste Prosa hatten teil an
diesem Ausdrucksmedium. Die moderne Dichtung jedoch
»détruisait les rapports du langage et ramenait le discours à
des stations de mots«.11
Das Wort verweigert sich der vereinheitlichenden,
vernünftigen Herrschaft des Satzes. Es sprengt die im voraus
festgelegte Struktur der Bedeutung und bezeichnet, indem
es ein »absolutes Objekt« wird, ein unerträgliches, sich
selbst zunichte machendes Universum – ein Diskontinuum.
Diese Umwälzung der sprachlichen Struktur schließt eine
Umwälzung der Erfahrung von Natur ein:
»La nature devient un discontinu d‘objets solitaitres et
terribles, parce qu’ils n’ont que des liaisons virtuelles;
personne ne choisit pour eux un sens privilégié ou un emploi
ou un service, personne ne les réduit à la signification d’un
comportement mental ou d’une intention, c’est-à-dire
finalement d’une tendresse. ... Ces mots-objets sans liaison,
parés de toute la violence de leur éclatement... ces mots
10 Cf. Kapitel 5.
11 »zerstörte die Beziehungen in der Sprache und führte die Rede auf Wortstationen zurück.«
Roland Barthes, Le Degré Zéro de l‘Ecriture, Paris 1953; dt.: Am Nullpunkt der
Literatur, Hamburg 1959, S. 50 (Hervorhebung vom Verfasser).
- 114 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
poétiques excluent les hommes; il n’y a pas d’humanisme
poétique de la modernité: ce discours debout est un discours
plein de terreur, c’est-à-dire qu’il met l’homme en liaison
non pas avec les autres hommes, mais avec les images
les plus inhumaines de la nature; le ciel, l’enfer, le sacré,
l’enfance, la folie, la matière pure, etc«.12
Der traditionelle Stoff der Kunst (Bilder, Harmonien,
Farben) kehrt nur wieder in »Zitaten«, Überbleibseln
eines vergangenen Sinnes in einem Zusammenhang von
Verweigerung. So sind die surrealistischen Gemälde
»der Inbegriff dessen, was die Sachlichkeit mit einem Tabu
zudeckt, weil es sie an ihr eigenes dinghaftes Wesen gemahnt
und daran, daß sie nicht damit fertig wird, daß ihre Ratio-
nalität irrational bleibt. Der Surrealismus sammelt ein, was
die Sachlichkeit den Menschen versagt; die Entstellungen
bezeugen, was das Verbot dem Begehrten antat. Durch sie
errettete er das Veraltete, ein Album von Idiosynkrasien,
in denen der Glückanspruch verraucht, den die Menschen in
ihrer eigenen technifizierten Welt verweigert finden«.13
12 Die Natur wird... ein Nichtzusammenhängendes von Objekten, die einsam und
furchtbar sind, weil sie nur mögliche Verbindungen besitzen; niemand wählt für sie
einen bestimmten Sinn, einen vor anderen privilegierten Gebrauch oder Dienst, ...
niemand reduziert sie auf das Bedeuten eines geistigen Verhaltens oder einer Absicht,
das heißt letztlich einer Zärtlichkeit. Diese Objektworte ohne Verbindung, die mit der
ganzen Gewalt ihres Zerspringens geschmückt sind ..., diese lyrischen Worte schließen
die Menschen aus: es gibt keinen lyrischen Humanismus der Modernität, dieser
Diskurs ist voller Schrecken, das heißt, daß er den Menschen nicht in Verbindung mit
den anderen Menschen setzt, sondern mit den unmenschlichsten Bildern der Natur:
dem Himmel, der Hölle, dem Heiligen, der Kindheit, dem Wahnsinn, der reinen
Materie etc. Ibid.
13 Th. W. Adorno, Noten zur Literatur, Berlin und Frankfurt 1958, S. 160.
- 115 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Oder das Werk von Bertolt Brecht bewahrt die in Romanze
und Kitsch (Mondschein und das blaue Meer; Melodie und süße
Heimat; Treue und Liebe) enthaltene »promesse de bonheur«,
indem es sie in ein politisches Ferment überführt. Seine
Gestalten singen von verlorenen Paradiesen und unvergeßlicher
Hoffnung (»Siehst du den Mond über Soho, Geliebter?«,
»Jedoch eines Tages, und der Tag war blau«, »Zuerst war es
immer Sonntag«, »Und ein Schiff mit acht Segeln«, »Alter
Bilbao Mond, Da wo noch Liebe lohnt«) – und das Lied ist
eines von Grausamkeit und Gier, Ausbeutung, Betrug und
Lüge. Die Getäuschten singen von ihrer Täuschung, aber sie
erfahren deren Ursachen (oder haben sie erfahren), und nur,
indem sie die Ursachen erfahren (und wie sie zu bewältigen
sind), gelangen sie wieder zur Wahrheit ihres Traums.
Die Anstrengungen, die Große Weigerung in der Sprache
der Literatur wiederzugewinnen, erleiden das Schicksal, von
dem absorbiert zu werden, was sie widerlegen. Als moderne
Klassiker haben die Avantgardisten und Beatniks an der
Funktion teil zu unterhalten, ohne das gute Gewissen der
Menschen guten Willens zu gefährden. Diese Absorption
wird durch den technischen Fortschritt gerechtfertigt und die
Weigerung widerlegt durch die Linderung des Elends in der
fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Die Liquidation der
hohen Kultur ist ein Nebenprodukt des Sieges über die
Natur und der fortschreitenden Bewältigung des Mangels.
Indem diese Gesellschaft die festgehaltenen Bilder
der Transzendenz dadurch entkräftet, daß sie sie ihrer
allgegenwärtigen täglichen Realität einverleibt, bezeugt sie
- 116 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
das Ausmaß, in dem unlösbare Konflikte behandelt werden
können – in dem Tragödie und Romanze, archetypische
Träume und Ängste für eine technische Lösung und Auflösung
empfänglich gemacht werden. Der Psychiater kümmert sich um
die Don Juans, Romeos, Hamlets und Fauste, indem er sich um
Oedipus kümmert – er heilt sie. Die Herren der Welt verlieren
ihre metaphysischen Züge. Ihr Auftreten im Fernsehen,
auf Pressekonferenzen, im Parlament und bei öffentlichen
Kundgebungen ist kaum für ein Drama geeignet, das über das
der Reklame14 hinausgeht, während die Konsequenzen ihres
Handelns den Rahmen des Dramas überschreiten.
Die Rezepte zur Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit
werden von einer rationell organisierten Bürokratie verabfolgt,
die jedoch in ihrem eigentlichen Zentrum unsichtbar ist.
Die Seele enthält wenige Geheimnisse und Sehnsüchte, die
nicht vernünftig diskutiert und analysiert werden können,
über die man nicht abstimmen kann. Einsamkeit, diejenige
Bedingung, die dem Individuum gegen seine Gesellschaft
und jenseits ihrer Stärke verlieh, ist technisch unmöglich
geworden. Logische und sprachliche Analyse beweisen, daß
die alten metaphysischen Probleme Scheinprobleme sind; das
Verlangen nach dem »Sinn« der Dinge läßt sich als das nach
dem Sinn von Wörtern neuformulieren, und das bestehende
Universum von Sprache und Verhalten kann der Antwort
völlig hinreichende Kriterien bieten.
Es handelt sich um ein rationales Universum, das aufgrund
des bloßen Gewichts und der Leistungsfähigkeit seines Apparats
jedes Entrinnen vereitelt. In ihrer Beziehung zur Realität des
14 Der sagenhafte revolutionäre Held, der selbst Fernsehen und Presse trotzen kann, existiert
noch – seine Welt ist die der »unterentwickelten« Länder.
- 117 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
täglichen Lebens bestand die hohe Kultur der Vergangenheit in
mancherlei – in Opposition und Ausschmückung, in Aufschrei
und Resignation. Aber sie war auch die Erscheinung des Reichs
der Freiheit: die Weigerung, sich zusammen zu nehmen. Einer
solchen Weigerung läßt sich kein Riegel vorschieben, ohne daß
ein Ersatz gewährt würde, der befriedigender scheint als die
Weigerung. Die Bewältigung und Vereinigung der Gegensätze,
die in der Transformation von höherer in populäre Kultur
ideologisch verklärt wird, findet statt auf einem materiellen
Boden erhöhter Befriedigung. Dieser ist es denn auch, der eine
durchgreifende Entsublimierung gestattet.
Künstlerische Entfremdung ist Sublimierung. Sie bringt
die Bilder von Zuständen hervor, die mit dem bestehenden
Realitätsprinzip unvereinbar sind, die aber als Bilder der
Kultur erträglich, ja erhebend und nützlich werden. Jetzt
wird diese Bilderwelt außer Kraft gesetzt. Ihre Einverleibung
in die Küche, das Büro und den Laden, ihre kommerzielle
Freigabe an Geschäft und Vergnügen ist in gewissem Sinne
eine Entsublimierung – vermittelter Genuß wird durch
unmittelbaren ersetzt. Aber es ist eine Entsublimierung,
die von einer »Position der Stärke« seitens der Gesellschaft
ausgeübt wird, die es sich leisten kann, mehr als früher zu
gewähren, weil ihre Interessen zu den innersten Trieben ihrer
Bürger geworden sind und weil die von ihr gewährten Freuden
sozialen Zusammenhalt und Zufriedenheit befördern.
Das Lustprinzip absorbiert das Realitätsprinzip; die
Sexualität wird in gesellschaftlich aufbauenden Formen
befreit (oder vielmehr liberalisiert). Dieser Gedanke schließt
- 118 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
ein, daß es repressive Weisen von Entsublimierung gibt15, im
Vergleich zu denen die sublimierten Triebe und Ziele mehr
Abweichung, mehr Freiheit und mehr Weigerung enthalten,
die gesellschaftlichen Tabus zu beachten. Es scheint, daß eine
solche repressive Entsublimierung in der sexuellen Sphäre
tatsächlich vor sich geht, und hier erscheint sie, wie bei der
Entsublimierung der höheren Kultur, als das Nebenprodukt
der gesellschaftlichen Kontrollen über die technologische
Wirklichkeit, welche die Freiheit erweitern und dabei die
Herrschaft intensivieren. Die Verbindung von Entsublimierung
und technologischer Gesellschaft läßt sich vielleicht dadurch
am besten verdeutlichen, daß man den Wechsel im
gesellschaftlichen Gebrauch von Triebenergie erörtert.
In dieser Gesellschaft ist nicht die gesamte auf Mechanismen
verwandte und mit ihnen verbrachte Zeit Arbeitszeit (das
heißt unangenehme, aber notwendige Mühe), und nicht
die gesamte durch die Maschine eingesparte Energie ist
Arbeitskraft. Die Mechanisation hat auch Libido »eingespart«,
die Energie der Lebens-triebe – das heißt, sie hat sie von
früheren Weisen ihrer Verwirklichung abgesperrt. Darin
besteht der Wahrheitskern des romantischen Gegensatzes
zwischen dem modernen Reisenden und dem wandernden
Dichter oder Handwerker, zwischen Fließband und
Kunsthandwerk, Stadt und Land, Brot, das in der Fabrik
produziert wurde, und dem selbstgebackenen Laib, dem
Segelboot und dem Außenbordmotor usw. Sicher war diese
romantische, vortechnische Welt durchdrungen von Elend,
15 Cf. mein Buch Eros and Zivilization, Boston 1954, dt. Triebstruktur und Gesellschaft,
Frankfurt 1965, besonders Kapitel X.
- 119 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
harter Arbeit und Schmutz, die wiederum den Hintergrund
alles Vergnügens und aller Freude abgaben. Und doch gab es
eine »Landschaft«, ein Medium lustbetonter Erfahrung, das
nicht mehr existiert.
Mit seinem Verschwinden (das selbst eine historische
Voraussetzung des Fortschritts ist) wurde eine ganze Dimension
menschlicher Aktivität und Passivität enterotisiert. Die
Umgebung, von der das Individuum Lust empfangen
konnte – die es als Genuß gewährende fast wie erweiterte
Körperzonen besetzen konnte – wurde streng beschnitten.
Damit reduziert sich gleichermaßen das »Universum«
libidinöser Besetzung. Die Folge ist eine Lokalisierung und
Kontraktion der Libido, die Reduktion erotischer auf sexuelle
Erfahrung und Befriedigung16.
Man vergleiche zum Beispiel das verliebte Treiben auf
einer Wiese und in einem Auto, bei einem Spaziergang der
sich Liebenden außerhalb der Stadtmauern oder auf einer
Straße von Manhattan. In den erstgenannten Fällen hat
die Umgebung teil an der libidinösen Besetzung, kommt
ihr entgegen und tendiert dazu, erotisiert zu werden. Die
Libido geht über die unmittelbar erogenen Zonen hinaus – ein
Vorgang nichtrepressiver Sublimierung. Demgegenüber scheint
eine mechanisierte Umgebung ein solches Selbstüberschreiten
der Libido zu unterbinden. Bedrängt in ihrem Bestreben,
den Bereich erotischen Genusses zu erweitern, wird die
16 Gemäß der in den Spätwerken Freuds benutzten Terminologie: Sexualität als »spezialisierter«
Partialtrieb, Eros als der des Gesamtorganismus.
- 120 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Libido weniger »polymorph«, weniger der Erotik jenseits
lokalisierter Sexualität fähig, und diese wird gesteigert.
Indem sie derart die erotische Energie herabmindert und die
sexuelle intensiviert, beschränkt die technologische Wirklichkeit
die Reichweite der Sublimierung. Sie verringert ebenso das
Bedürfnis nach Sublimierung. Im seelischen Apparat scheint
die Spannung zwischen dem Ersehnten und dem Erlaubten
beträchtlich herabgesetzt, und das Realitätsprinzip scheint
keine durchgreifende und schmerzhafte Umgestaltung der
Triebbedürfnisse mehr zu erfordern. Das Individuum muß
sich einer Welt anpassen, die die Verleugnung seiner innersten
Bedürfnisse nicht zu verlangen scheint – eine Welt, die nicht
wesentlich feindlich ist.
Der Organismus wird so präpariert, das Gebotene
spontan hinzunehmen. Insofern, als die größere Freiheit
eher eine Kontraktion als eine Erweiterung und Entwicklung
der Triebbedürfnisse mit sich bringt, arbeitet sie eher für
als gegen den Status quo allgemeiner Repression – man
könnte von »institutionalisierter Entsublimierung« sprechen.
Letztere scheint ein sehr wichtiger Faktor beim Entstehen des
autoritären Charakters unserer Zeit.
Es ist oft festgestellt worden, daß die fortgeschrittene
industrielle Zivilisation mit einem höheren Grad an sexueller
Freiheit operiert – in dem Sinne »operiert«, daß letztere
ein Marktwert und ein Faktor gesellschaftlicher mores wird.
Ohne daß er aufhört, ein Arbeitsinstrument zu sein, wird es
dem Körper gestattet, seine sexuellen Züge in der alltäglichen
Arbeitswelt und in den Arbeitsbeziehungen zur Schau zu
- 121 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
stellen. Darin besteht eine der einzigartigen Leistungen der
Industriegesellschaft – ermöglicht durch die Abnahme von
schmutziger und schwerer körperlicher Arbeit; dadurch, daß
billige, attraktive Kleidung, Kosmetik und Körperhygiene
vorhanden sind; durch die Erfordernisse der Anzeigenindustrie
usw. »Sexy« Büro- und Ladenmädchen, der ansprechende,
virile Juniorchef und der Verkäufer, sind höchst marktgängige
Waren, und der Besitz geeigneter Mätressen – einmal das
Vorrecht von Königen, Fürsten und Lords – erleichtert die
Karriere selbst der weniger hochstehenden Ränge in der
Geschäftswelt.
Der sich künstlerisch gebende Funktionalismus befördert
diesen Trend. Geschäfte und Büros gewähren Einblick
durch riesige Glasfenster und stellen ihr Personal aus; im
Innern zeigen sich hohe Kassenschalter und undurchsichtige
Scheidewände. Die Zerstörung der Privatsphäre in
Appartementhäusern und Vorstadtheimen hebt die Schranken
auf, die das Individuum früher vom öffentlichen Dasein
trennten, und stellt die attraktiven Qualitäten anderer
Ehefrauen und Ehemänner leichter zur Schau.
Diese Sozialisierung widerspricht der Enterotisierung
der Umwelt nicht, sondern ergänzt sie. Das Sexuelle
wird in die Arbeitsbeziehungen und die Werbetätigkeit
eingegliedert und so (kontrollierter) Befriedigung zugänglich
gemacht. Technischer Fortschritt und ein bequemeres Leben
gestatten, die libidinösen Komponenten in den Bereich von
Warenproduktion und – austausch systematisch aufzunehmen.
Aber wie kontrolliert die Mobilisierung der Triebenergie
- 122 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
auch sein mag (sie läuft mitunter auf ein wissenschaftliches
Management der Libido hinaus), wie sehr sie auch als Stütze
des Status quo dienen mag – sie verschafft den manipulierten
Individuen auch einen Genuß, ganz wie es Spaß macht, im
Motorboot davonzurasen, einen elektrischen Rasenmäher zu
schieben, ein Auto auf Touren zu bringen.
Auf diese Mobilisierung und Verwaltung der Libido mag
die freiwillige Unterwürfigkeit, das Fehlen von Terror
und die prästabilierte Harmonie zwischen individuellen
und gesellschaftlich erforderlichen Bedürfnissen, Zielen
und Bestrebungen in hohem Maße zurückzuführen sein. Die
technische und politische Bewältigung der transzendierenden
Faktoren im menschlichen Dasein, die für die fortgeschrittene
industrielle Zivilisation so charakteristisch ist, setzt sich hier
in der Triebsphäre durch: Befriedigung auf eine Weise, die
Unterwerfung hervorbringt und die Rationalität des Protestes
schwächt.
Die Reichweite gesellschaftlich statthafter und
wünschenswerter Befriedigung nimmt erheblich zu; aber
auf dem Wege dieser Befriedigung wird das Lustprinzip
reduziert – seiner Ansprüche beraubt, die mit der bestehenden
Gesellschaft unvereinbar sind. Derart angepaßt, erzeugt Lust
Unterwerfung.
Im Gegensatz zu den Vergnügungen der angepaßten
Entsublimierung bewahrt die Sublimierung das Bewußtsein
der Versagungen, die die repressive Gesellschaft dem
Individuum auferlegt, und hält damit an dem Bedürfnis nach
Befreiung fest. Freilich wird alle Sublimierung durch die Macht
- 123 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
der Gesellschaft erzwungen, aber das unglückliche Bewußtsein
dieser Macht durchbricht bereits die Entfremdung. Freilich
nimmt alle Sublimierung die gesellschaftliche Schranke der
Triebbefriedigung hin, aber sie überschreitet diese Schranke
auch.
Indem das Über-Ich das Unbewußte zensiert und dem
Individuum ein Gewissen einimpft, zensiert es auch den
Zensor, weil das entwickelte Gewissen den verbotenen
bösen Akt nicht nur im Individuum selbst, sondern auch
in seiner Gesellschaft registriert. Umgekehrt bewirkt der
Verlust des Gewissens infolge zufriedenstellender Freiheiten,
die eine unfreie Gesellschaft gewährt, ein glückliches
Bewußtsein (happy consciousness), was die Hinnahme der
Untaten dieser Gesellschaft erleichtert. Er ist ein Zeichen
schwindender Autonomie und Einsicht. Sublimierung erfordert
ein hohes Maß an Autonomie und Einsicht; sie vermittelt
zwischen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen primären
und sekundären Vorgängen, zwischen Intellekt und Trieb,
Versagung und Rebellion. In ihren vollendetsten Weisen,
wie im Kunstwerk, wird Sublimierung zur Erkenntniskraft,
welche die Unterdrückung besiegt, indem sie sich ihr beugt.
Im Licht der Erkenntnisfunktion dieser Weise von
Sublimierung enthüllt die in der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft um sich greifende Entsublimierung
ihre wahrhaft konformistische Funktion. Diese Befreiung
der Sexualität (und Aggressivität) befreit die Triebe
weitgehend von dem Unglück und Unbehagen, welche die
repressive Gewalt der bestehenden Welt der Befriedigung
- 124 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
erhellen. Freilich gibt es Unglück, das durchdringt, und
das glückliche Bewußtsein ist brüchig genug – eine dünne
Oberfläche über Angst, Frustration und Ekel. Dieses Unglück
gibt sich leicht politischer Mobilisierung her; ohne Raum zu
bewußter Entwicklung, kann es zum Triebreservoir für eine
neue faschistische Weise zu leben und zu sterben werden.
Aber es gibt viele Wege, auf denen das unter dem glücklichen
Bewußtsein schwelende Unglück in eine Quelle von Stärke und
Zusammenhalt für die gesellschaftliche Ordnung verwandelt
werden kann. Die Konflikte des unglücklichen Individuums
scheinen jetzt einer Heilung weitaus zugänglicher als jene,
die Freuds »Unbehagen in der Kultur« bewirkten, und sie
scheinen unter dem Aspekt der »neurotischen Persönlichkeit
unserer Zeit« (K. Horney) angemessener bestimmt als unter
dem des ewigen Kampfes zwischen Eros und Thanatos.
Die Weise, in der kontrollierte Entsublimierung die
Triebrevolte gegen das bestehende Realitätsprinzip schwächen
kann, läßt sich erhellen an dem Gegensatz zwischen der
Darstellung der Sexualität in der klassischen und romantischen
Literatur und in unserer Gegenwartsliteratur. Wählt man
unter den vielen Werken, die ihrer ganzen Substanz und
inneren Form nach vom erotischen Engagement bestimmt sind,
solche wesentlich verschiedenen Beispiele aus wie Racines
Phädra, Goethes Wahlverwandtschaften, Baudelaires Blumen
des Bösen, Tolstois Anna Karenina, so erscheint die Sexualität
übereinstimmend in hochsublimierter, »vermittelter«,
reflektierter Form – aber in dieser Form ist sie absolut,
kompromißlos, bedingungslos. Der Herrschaftsbereich des
Eros ist seit Anbeginn ebenso der des Thanatos. Erfüllung
- 125 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
ist Zerstörung, nicht in einem moralischen oder soziologischen,
sondern in einem ontologischen Sinne. Sie ist jenseits von
Gut und Böse, jenseits gesellschaftlicher Moral und bleibt so
jenseits der Reichweite des bestehenden Realitätsprinzips,
das von diesem Eros abgelehnt und gesprengt wird.
Demgegenüber greift entsublimierte Sexualität bei O‘Neills
Alkoholikern und den Losgelassenen Faulkners um sich, in der
Endstation Sehnsucht und unter dem Heißen Blechdach, in
Lolita, in all den Geschichten von Orgien in Hollywood und
New York und den Abenteuern vorstädtischer Hausfrauen.
Das ist unendlich realistischer, gewagter, hemmungsloser. Es ist
fester Bestandteil der Gesellschaft, in der es sich ereignet, aber
nirgendwo ihre Negation. Was geschieht, ist sicherlich wild
und obszön, männlich und deftig, ganz unmoralisch – und
eben deshalb völlig harmlos.
Befreit von der sublimierten Form, die gerade das
Zeichen ihrer unversöhnlichen Träume war – eine Form, die
im Stil, in der Sprache sich ausprägt, in der die Geschichte
erzählt wird – , verwandelt Sexualität sich in ein Vehikel der
Bestseller der Unterdrückung. Von keiner der »sexy« Frauen in
der zeitgenössischen Literatur ließe sich sagen, was Balzac von
der Hure Esther sagt: daß sie von einer Zartheit war, die nur in
der Unendlichkeit blüht. Diese Gesellschaft verwandelt alles,
was sie berührt, in eine potentielle Quelle von Fortschritt und
Ausbeutung, von schwerer Arbeit und Befriedigung, von
Freiheit und Unterdrückung. Die Sexualität bildet keine
Ausnahme.
- 126 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Die Vorstellung kontrollierter Entsublimierung würde
die Möglichkeit einschließen, daß gleichzeitig unterdrückte
Sexualität und Aggressivität freigesetzt werden, eine
Möglichkeit, die mit Freuds Begriff des festen Quantums an
Triebenergie unvereinbar scheint, die zur Verteilung auf die
beiden Primärtriebe verfügbar ist. Nach Freud würde die
Stärkung der Sexualität (Libido) notwendig eine Schwächung
der Aggressivität nach sich ziehen und umgekehrt. Wäre
jedoch die gesellschaftlich erlaubte und ermutigte Freisetzung
der Libido die von partieller und lokalisierter Sexualität,
so liefe sie faktisch darauf hinaus, die erotische Energie
zu komprimieren, und diese Entsublimierung wäre mit dem
Anwachsen unsublimierter wie sublimierter Formen der
Aggressivität vereinbar. Letztere greift in der gegenwärtigen
Industriegesellschaft um sich.
Hat sie einen Grad von Normalisierung erreicht, bei dem
sich die Individuen an das Risiko ihrer eigenen Auflösung
und Vernichtung im Sinne normaler nationaler Bereitschaft
gewöhnt haben? Oder geht diese Fügsamkeit gänzlich auf
ihre Ohnmacht zurück, viel auszurichten? Auf jeden Fall
ist das Risiko vermeidbarer, von Menschen herbeigeführter
Zerstörung zum normalen Rüstzeug im seelischen wie
materiellen Haushalt der Menschen geworden, so daß es nicht
mehr dazu dienen kann, das bestehende Gesellschaftssystem
anzuklagen oder zu widerlegen. Mehr noch, als Teil ihres
täglichen Haushalts kann es sie sogar an dieses System binden.
Der ökonomische und politische Zusammenhang zwischen
dem absoluten Feind und dem hohen Lebensstandard (und dem
- 127 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
gewünschten Beschäftigungsstand!) ist durchsichtig genug,
aber auch rational genug, um akzeptiert zu werden.
Angenommen, daß der Destruktionstrieb (in letzter
Instanz: der Todestrieb) eine große Komponente der Energie
bildet, welche die technische Unterjochung von Mensch und
Natur speist, dann scheint es, daß die zunehmende Kapazität
der Gesellschaft, den technischen Fortschritt zu manipulieren,
auch ihre Kapazität erhöht, diesen Trieb zu manipulieren und
zu kontrollieren, das heißt »produktiv« zu befriedigen. Damit
würde der soziale Zusammenhalt an den tiefsten Triebwurzeln
gestärkt. Das höchste Risiko und selbst die Tatsache des
Krieges träfe nicht nur mit hilfloser Hinnahme, sondern auch
mit triebmäßiger Billigung seitens der Opfer zusammen. Auch
hier hätten wir kontrollierte Entsublimierung.
Institutionalisierte Entsublimierung erscheint so als ein
Aspekt der »Bewältigung der Transzendenz«, wie die
eindimensionale Gesellschaft sie erreicht hat. Ganz wie diese
Gesellschaft im Bereich der Politik und höheren Kultur
dazu tendiert, die Opposition (die qualitative Differenz!)
abzubauen, ja aufzusaugen, so auch in der Triebsphäre.
Das Ergebnis ist ein Absterben der geistigen Organe, die
Widersprüche und Alternativen zu erfassen, und in der einen
verbleibenden Dimension technologischer Rationalität gelangt
das Glückliche Bewußtsein zur Vorherrschaft.
Es reflektiert den Glauben, daß das Wirkliche vernünftig
ist und daß das bestehende System trotz allem die
Güter liefert. Die Menschen werden dazu gebracht, im
Produktionsapparat das wirksame Subjekt von Denken und
- 128 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Handeln zu finden, dem ihr persönliches Denken und Handeln
sich ausliefern kann und
muß. Und bei dieser Übertragung nimmt der Apparat die
Rolle einer moralischen Instanz an. Das Gewissen wird durch
die Verdinglichung freigesprochen, durch die allgemeine
Notwendigkeit der Dinge.
In dieser allgemeinen Notwendigkeit hat Schuld keine
Stätte. Ein Mensch kann das Zeichen geben, das hunderte
und tausende von Menschen liquidiert, sich danach von allen
Gewissensbissen frei erklären und glücklich weiter leben.
Die antifaschistischen Mächte, die den Faschismus auf den
Schlachtfeldern besiegten, holen die Ernte der Errungenschaften
nazistischer Wissenschaftler, Generäle und Ingenieure ein;
sie haben den historischen Vorteil der später Kommenden.
Was als der Schrecken der Konzentrationslager begann,
verwandelt sich in die Praxis, Menschen für abnorme
Bedingungen zu trainieren – ein unterirdisches Dasein und
tägliches Einnehmen radioaktiver Nahrung. Ein Geistlicher
erklärt, daß es christlichen Prinzipien nicht zuwiderläuft, seinen
Nachbarn mit allen verfügbaren Mitteln daran zu hindern, den
eigenen Luftschutzbunker zu betreten. Ein anderer Geistlicher
widerspricht seinem Kollegen und sagt, daß ein solches
Handeln christlichen Prinzipien doch zuwiderläuft. Wer hat
recht? Wiederum gibt sich die Neutralität technologischer
Rationalität gegenüber aller Politik zu erkennen und
wiederum als unecht; denn in beiden Fällen dient sie der
Politik der Herrschaft.
- 129 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
»Die Welt der Konzentrationslager . . . war keine besonders
entsetzliche Gesellschaft. Was wir dort sahen, war das Bild, in
gewissem Sinne die Quintessenz der höllischen Gesellschaft,
in der wir jeden Tag stecken«.17
Es scheint, daß selbst die scheußlichsten Vergehen sich derart
verdrängen lassen, daß sie, was alle praktischen Zwecke
angeht, aufgehört haben, eine Gefahr für die Gesellschaft
zu bilden. Oder wenn ihr Hervorbrechen im Individuum
zu funktionellen Störungen führt (wie im Fall des einen
Piloten von Hiroshima), stört es nicht das Funktionieren der
Gesellschaft. Ein Irrenhaus nimmt sich der Störung an.
Das Glückliche Bewußtsein ist schrankenlos – es arrangiert
Spiele mit Tod und Verstümmelung, bei denen Vergnügen,
»teamwork« und strategische Bedeutung sich zu einer
lohnenden gesellschaftlichen Harmonie vermischen. Die RAND
Corporation, die Gelehrsamkeit, Forschung, Militär, Klima
und gutes Leben verbindet, berichtet über solche Spiele in
einem Stil von allem freisprechender Klugheit in ihren
»RANDOM News«, Band 9, Nr 1, unter dem Titel BESSER SICHER
ALS UNGLÜCKLICH . Die Raketen sausen, die H-Bombe wartet,
und die Raumflüge werden durchgeführt, und das Problem
ist, »wie die Nation und die freie Welt zu schützen seien«.
Bei alledem sind die militärischen Planer beunruhigt; »denn
17 E. Ionesco, in: Nouvelle Revue Française, Juli 1956, zitiert in: London Times Literary
Supplement, 4. März 1960. Herman Kahn schlägt in einer RAND-Studie von 1959
(RM-2206-RC) vor, es »sollte eine Studie hinsichtlich des Überlebens von Bevölkerungen
durchgeführt werden, die sich in Umgebungen befinden, die denen überfüllter Bunker
ähnlich sind (Konzentrationslager, die russische und deutsche Verwendung überfüllter
Güterwagen, überfüllte Strafanstalten... usw.). Einige nützliche, richtungweisende
Prinzipien könnten gefunden und dem Bunkerprogramm angepaßt werden«.
- 130 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
die Kosten, wenn man‘s drauf ankommen läßt, experimentiert
und einen Fehler macht, können furchtbar hoch sein«. Aber hier
kommt RAND zum Zuge; RAND schafft Abhilfe, und »Devisen
wie RAND GEHT AUF SICHER kommen ins Bild«. Das Bild, in
das sie kommen, wird nicht klassifiziert. Es ist ein Bild,
auf dem »die Welt eine Landkarte wird, Raketengeschosse
zu bloßen Symbolen werden [lang lebe die besänftigende
Kraft des Symbolismus!], und Kriege nur [nur!] Pläne
und Berechnungen auf dem Papier sind ...« Mit diesem Bild
hat RAND die Welt in ein interessantes technologisches Spiel
überführt, und man kann sich entspannen – die »militärischen
Planer können wertvolle >synthetische< Erfahrung ohne Risiko
gewinnen«.
BEIM SPIEL
Um das Spiel zu verstehen, sollte man an ihm teilnehmen;
denn Verstehen liegt »in der Erfahrung«. Weil SICHERE
Spieler fast aus jeder Abteilung bei RAND wie auch aus der
Luftwaffe hervorgegangen sind, könnten wir bei der Blauen
Mannschaft einen Physiker, einen Ingenieur und einen
Wirtschaftler antreffen. Die Rote Mannschaft wird einen
ähnlichen Querschnitt darstellen.
Der erste Tag wird mit einer gemeinsamen Besprechung
darüber zugebracht, worum es sich bei dem Spiel handelt,
sowie mit dem Erlernen der Regeln. Wenn die Mannschaften
schließlich um die Karten in ihren jeweiligen Räumen Platz
genommen haben, beginnt das Spiel. Jede Mannschaft
nimmt ihren politischen Bericht vom Spielleiter entgegen.
Diese Berichte, gewöhnlich von einem Mitglied der
- 131 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Kontrollgruppe vorbereitet, geben eine Einschätzung der
Weltlage zur Zeit des Spiels, einige Informationen über die
Politik der gegnerischen Mannschaft sowie die von der
Mannschaft zu verfolgenden Ziele und das Budget der
Mannschaft. (Die Politik wird bei jedem Spiel gewechselt,
um eine große Variationsbreite strategischer Möglichkeiten
zu untersuchen.)
Bei unserem hypothetischen Spiel besteht das Ziel von
Blau darin, sich während des Spiels eine abschreckende
Fähigkeit zu erhalten – das heißt eine Kraft, die auf Rot
zurückzuschlagen vermag, so daß Rot nicht gewillt ist,
einen Angriff zu riskieren. (Blau wird auch ein wenig über
die Politik von Rot informiert.)
Die Politik von Rot besteht darin, gegenüber Blau eine
Überlegenheit an Kräften zu erlangen.
Die Budgets von Blau und Rot lassen sich mit den
gegenwärtigen Verteidigungsbudgets vergleichen ...
Es ist tröstlich zu hören, daß das Spiel bei RAND seit
1961 gespielt worden ist, »unten in unserem labyrinthischen
Erdgeschoß – irgendwo unter der Imbißhalle« und daß
»Verzeichnisse an den Wänden der Roten und Blauen Räume
die verfügbaren Waffen und Eisenwaren aufführen, die von den
Mannschaften gekauft werden... Ungefähr siebzig Gegenstände
insgesamt.« Es gibt einen Spielleiter, der die Regeln auslegt;
denn obgleich »das komplette, die Regeln enthaltende Buch
mit Diagrammen und Illustrationen 66 Seiten aufweist«,
ergeben sich während des Spiels unvermeidlich Probleme.
Der Spielleiter hat noch eine wichtige Funktion: »Ohne vorher
- 132 -
H. Marcuse - Der eindimensionale Mensch
die Spieler davon in Kenntnis zu setzen, eröffnet er den
Krieg, um sich ein Bild von der Wirksamkeit der tatsächlich
vorhandenen Streitkräfte zu machen«. Aber dann kündigt der
Bildtext »Kaffee, Kuchen und Ideen« an. Man entspanne sich!
Das »Spiel geht die übrigen Etappen hindurch weiter – bis
1972, wo es aufhört. Dann begraben die Blauen und die
Roten Mannschaften die Raketengeschosse und kommen bei
Kaffee und Kuchen zur Sitzung >post mortem< zusammen«.
Aber man entspanne sich nicht zu sehr: es gibt »eine Situation
in der wirklichen Welt, die auf SICHER nicht wirksam übertragen
werden kann«, und das ist – »Verhandlung«. Dafür sind
wir dankbar: die eine Hoffnung, die bei der realen Weltlage
verbleibt, liegt jenseits der Reichweite von RAND.
Offenbar hat Schuldgefühl im Reich des Glücklichen
Bewußtseins keine Stätte, und der Kalkül nimmt sich des
Gewissens an. Wenn das Ganze auf dem Spiel steht, gibt
es kein Verbrechen außer dem, das Ganze abzulehnen oder
nicht zu verteidigen. Verbrechen, Schuld und Schuldgefühl
sind zu einer Privatangelegenheit geworden. Freud deckte in
der Psyche des Individuums die Verbrechen der Menschheit
auf, in der individuellen Krankengeschichte die Geschichte
des Ganzen. Dieses unheilvolle Bindeglied wird erfolgreich
unterdrückt. Jene, die sich mit dem Ganzen identifizieren,
die als die Führer und Verteidiger des Ganzen eingesetzt sind,
können Fehler machen, aber kein Unrecht tun – sie sind nicht
schuldig. Sie können wieder schuldig werden, wenn diese
Identifikation nicht mehr hält, wenn sie dahin sind.
- 133 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
4 Die Absperrung des Universums der Rede
»Dans l’état présent de l‘Histoire, toute écriture politique
ne peut que confirmer un univers policier, de même toute
écriture intellectuelle ne peut qu’instituer une para-littérature,
qui n’ose plus dire son nom.«
»Aber wie bei dem augenblicklichen Stand der Geschichte
jede politische Schreibweise nur eine Welt der Polizeiherrschaft
bestätigen kann, genauso kann jede intellektuelle
Schreibweise nur eine Para-Literatur stiften, die nicht wagt,
ihren Namen zu bekennen.«
Roland Barthes
Das Glückliche Bewußtsein – der Glaube, daß das
Wirkliche vernünftig ist und das System die Güter liefert
– reflektiert den neuen Konformismus, der eine Facette der
in gesellschaftliches Verhalten übersetzten technologischen
Rationalität ist. Er ist neu, weil er in noch nie dagewesenem
Maße rational ist. Er bestätigt eine Gesellschaft, welche
die primitivere Irrationalität der vorangehenden Stufen
verringert und — in ihren fortgeschrittensten Bereichen
– beseitigt hat, die das Leben planmäßiger als früher
verlängert und verbessert. Der Vernichtungskrieg hat noch
nicht stattgefunden, die nazistischen Ausrottungslager
wurden abgeschafft. Das Glückliche Bewußtsein verdrängt
den Zusammenhang. Die Folter ist als normale Angelegenheit
wieder eingeführt worden, aber in einem Kolonialkrieg, der
sich am Rande der zivilisierten Welt abspielt. Und dort wird
- 134 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
sie mit gutem Gewissen praktiziert; denn Krieg ist Krieg.
Und dieser Krieg ist höchst peripher – er verwüstet nur die
»unterentwickelten« Länder. Sonst herrscht Frieden.
Der Macht, die diese Gesellschaft über den Menschen
gewonnen hat, wird durch ihre Leistungsfähigkeit und
Produktivität täglich Absolution erteilt. Wenn sie sich alles
anähnelt, was sie berührt, wenn sie sich die Opposition
einverleibt, wenn sie mit dem Widerspruch spielt, dann beweist
sie ihre kulturelle Überlegenheit. Und ebenso beweisen die
Zerstörung von Ressourcen und die üppige Verschwendung
ihre Fülle und den »hohen Stand des Wohlergehens« ; »weil es
uns eben so gut geht, daß das alles keine Rolle spielt!«1
Die Sprache der totalen Verwaltung
Diese Art des Wohlergehens, der produktive Oberbau
über der unglücklichen Basis der Gesellschaft, durchdringt
die »Medien«, die zwischen den Herren und ihren Dienern
vermitteln. Ihre Reklameagenten modeln das Universum
der Kommunikation, in dem das eindimensionale Verhalten
sich ausdrückt. Ihre Sprache zeugt von Identifikation und
Vereinigung, von systematischer Förderung positiven Denkens
und Handelns, von dem planmäßigen Angriff auf transzendente,
kritische Begriffe. In den herrschenden Sprechweisen
erscheint der Gegensatz zwischen zweidimensionalen,
1 John K. Galbraith, American Capitalism (Houghton Mifflin, Boston 1956), S. 96, dt.: Der
amerikanische Kapitalismus, Stuttgart 1956, S. 111.
- 135 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
dialektischen Denkweisen und technologischem Verhalten oder
gesellschaftlichen »Denkgewohnheiten«.
Im Ausdruck dieser Denkgewohnheiten verschwindet all-
mählich die Spannung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit,
Faktum und Faktor, Substanz und Attribut. Die Elemente der
Autonomie und Entdeckung, des Beweises und der Kritik wei-
chen der Bezeichnung, Behauptung und Imitation. Magische,
autoritäre und rituelle Elemente durchdringen das Sprechen
und die Sprache. Die Rede wird der Vermittlungen beraubt,
die die Stufen des Erkenntnisprozesses und der erkennenden
Bewertung sind. Die Begriffe, in denen die Tatsachen erfaßt
und damit transzendiert werden, verlieren ihre authentische
sprachliche Repräsentanz. Ohne diese Vermittlungen tendiert
die Sprache dazu, die unmittelbare Identifikation von
Vernunft und Faktum, Wahrheit und etablierter Wahrheit,
Essenz und Existenz, des Dings mit seiner Funktion auszu-
drücken und zu befördern.
Diese Identifikationen, die als ein Zug des Operationalismus
erschienen2, kehren als Züge des Sprechens im gesellschaftlichen
Verhalten wieder. Dabei hilft die Funktionalisierung der
Sprache, nonkonformistische Elemente aus der Struktur
und Bewegung des Sprechens zu verdrängen. Vokabular und
Syntax werden gleichermaßen beeinträchtigt. Die Gesellschaft
drückt ihre Bedürfnisse direkt im sprachlichen Material aus,
wenn auch nicht ohne Opposition; die Volkssprache trifft
die offizielle und halboffizielle Redeweise mit boshaftem
und herausforderndem Humor. Slang und Umgangssprache
2 cf. S. 32.
- 136 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
sind selten so schöpferisch gewesen. Es ist, als setzte der
einfache Mann (oder sein anonymer Wortführer) in seiner
Sprechweise seine Humanität gegen die bestehenden Mächte
durch, als brächen Ablehnung und Revolte, niedergehalten im
politischen Bereich, in einem Vokabular hervor, das die Dinge
bei ihrem Namen nennt: »head shrinker« (Kopfschrumpfer,
für den Psychoanalytiker) und »egghead« (Eierkopf), »boob
tube« (blöder Zylinder), »think tank« (Denk-Tank, für den
Intellektuellen), »beat it« (mach daß du wegkommst) und
»dig it« (kapier doch endlich) und »gone, man, gone« (ich bin
ganz weg).
Die Verteidigungslaboratorien und Vollzugsämter, die
Regierungen und Maschinen, die Aufseher und Manager,
die Leistungsexperten und die politischen Schönheitssalons
(die die Führer mit dem passenden Make-up ausstatten)
reden jedoch eine andere Sprache, und vorläufig scheinen
sie das letzte Wort zu haben. Es ist das Wort, das Befehle
erteilt und organisiert, das die Menschen veranlaßt, etwas
zu tun, zu kaufen und hinzunehmen. Es wird in einem Stil
übermittelt, der eine wahre Sprachschöpfung ist, in einer
Syntax, bei der die Struktur des Satzes derart abgekürzt und
zusammengedrängt wird, daß zwischen den Satzteilen keine
Spannung, kein »Raum« mehr verbleibt. Diese sprachliche
Form widersetzt sich einer Entwicklung des Sinnes. Ich
versuche nun diesen Stil zu erläutern.
Der Grundzug des Operationalismus – den Begriff
gleichbedeutend zu machen mit der entsprechenden Reihe
von Operationen3 – kehrt in der sprachlichen Tendenz
3 cf. S. 33.
- 137 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
wieder, »die Namen der Dinge als zugleich hindeutend
auf ihre Funktionsweise zu betrachten und die Namen von
Eigenschaften und Prozessen als symbolisch für den Apparat,
der gebraucht wird, sie zu ermitteln oder herzustellen4.« Das
ist ein technologisches Denken, das geneigt ist, »Dinge und
ihre Funktionen gleichzusetzen5.«
Als eine Denkgewohnheit außerhalb der wissenschaftlichen
und technischen Sprache bildet solches Denken den
Ausdruck eines spezifischen gesellschaftlichen und politischen
Behaviorismus. In diesem behavioristischen Universum
tendieren Wörter und Begriffe dazu, zusammenzufallen
oder vielmehr der Begriff wird tendenziell durch das Wort
absorbiert. Jener hat keinen anderen Inhalt als den, den das
Wort im öffentlichen und genormten Gebrauch hat, und das
Wort soll nichts über das öffentliche und genormte Verhalten
(Reaktion) hinaus bewirken. Das Wort wird zum Cliché und
beherrscht als Cliché die gesprochene oder geschriebene
Sprache; die Kommunikation beugt so einer wirklichen
Entwicklung des Sinnes vor.
Freilich enthält jede Sprache zahllose Ausdrücke, bei
denen es nicht erforderlich ist, ihren Sinn zu entwickeln,
diejenigen etwa, welche die Gegenstände und Geräte des
täglichen Lebens bezeichnen, die sichtbare Natur, vitale
Bedürfnisse und Wünsche. Diese Ausdrücke werden allgemein
verstanden, so daß ihr bloßes Auftreten eine (sprachliche oder
4 Stanley Gerr, »Language and Science«, in: Philosophy of Science, April 1942, S. 156.
5 Ibid.
- 138 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
operationelle) Reaktion hervorruft, die dem pragmatischen
Zusammenhang genügt, in dem sie benutzt werden.
Völlig anders ist es mit Ausdrücken bestellt, die Dinge oder
Ereignisse jenseits dieses nichtkontroversen Zusammenhangs
bezeichnen. Hier drückt die Funktionalisierung der Sprache
eine Verkürzung des Sinnes aus, die zugleich eine politische
Bedeutung hat. Die Namen der Dinge sind nicht nur
»hindeutend auf ihre Funktionsweise«, sondern ihre
(tatsächliche) Funktionsweise bestimmt und »umschließt« den
Sinn des Dings, indem sie andere Funktionsweisen ausschließt.
Das Substantiv regiert den Satz in einer autoritären und
totalitären Art, und der Satz wird eine zu akzeptierende
Erklärung – er sträubt sich gegen einen Beweis, gegen
die Einschränkung und Negation seines kodifizierten und
erklärten Sinnes.
An den Knotenpunkten des Universums der öffentlichen
Sprache treten Sätze auf, die sich selbst bestätigen, die
analytisch sind und gleich magisch-rituellen Formen
funktionieren. Indem sie dem Geiste des Empfängers immer
wieder eingehämmert werden, bringen sie die Wirkung hervor,
ihn einzuschließen in den von der Formel verordneten
Umkreis von Bedingungen.
Ich habe bereits auf die sich selbst bestätigende Hypothese
als der Satzform im Universum der politischen Sprache
verwiesen6. Substantive wie »Freiheit«, »Gleichheit«,
»Demokratie« und »Frieden« implizieren, analytisch, eine
bestimmte Reihe von Attributen, die immer dann auftreten,
6 Cf. S. 34.
- 139 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
wenn das Substantiv ausgesprochen oder geschrieben wird. Im
Westen besteht die analytische Prädikation in Ausdrücken wie
freie Wirtschaft, Initiative, Wahlen, Individuum; im Osten
sind es Ausdrücke wie Arbeiter und Bauern, Aufbau des
Kommunismus oder Sozialismus, Abschaffung feindlicher
Klassen. Auf beiden Seiten ist das Hinausgehen der Sprache
über die geschlossene analytischen Struktur ungehörig oder
Propaganda, obgleich die Mittel, die Wahrheit durchzusetzen,
und das Strafmaß sehr verschieden sind. In diesem Universum
der öffentlichen Sprache bewegt sich das Sprechen in
Synonymen und Tautologien; auf die qualitative Differenz
bewegt es sich praktisch niemals zu. Die analytische Struktur
isoliert das regierende Substantiv von denjenigen seiner
Inhalte, die den akzeptierten Gebrauch des Substantivs in
Äußerungen der Politik und öffentlichen Meinung ungültig
machen oder zumindest stören würden. Der ritualisierte
Begriff wird gegen Widerspruch immunisiert.
Damit wird die Tatsache, daß die herrschende Art
der Freiheit Knechtschaft ist und die herrschende Art der
Gleichheit von außen auferlegte Ungleichheit durch die
abgeschlossene Definition dieser Begriffe im Sinne der Mächte,
die das jeweilige Universum der Rede modeln, daran gehindert,
Ausdruck zu finden. Das Ergebnis ist die bekannte Orwellsche
Sprache (»Frieden ist Krieg« und »Krieg ist Frieden« usw.),
die keineswegs nur die des terroristischen Totalitarismus ist.
Nicht weniger Orwellsch ist es, wenn der Widerspruch nicht
im Satz expliziert, sondern aufs Substantiv begrenzt wird.
Daß eine politische Partei, die für die Verteidigung und das
Wachstum des Kapitalismus arbeitet, »sozialistisch« genannt
- 140 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
wird, eine despotische Regierung »demokratisch« und eine
farcenhafte Wahl »frei«, sind vertraute sprachliche – und
politische — Merkmale, die es lange vor Orwell gab.
Relativ neu ist, daß die öffentliche und private Meinung
diese Lügen allgemein akzeptiert und ihren ungeheuerlichen
Inhalt vertuscht. Verbreitung und Wirksamkeit dieser Sprache
bezeugen den Triumph der Gesellschaft über die Widersprüche,
die sie enthält; sie werden reproduziert, ohne das soziale
System zu sprengen. Und gerade der ausgesprochene, schreiende
Widerspruch wird zu einem Rede- und Reklamemittel
gemacht. Die Syntax der Abkürzung verkündet die
Versöhnung der Gegensätze, indem sie diese zu einer festen
und vertrauten Struktur zusammenschweißt. Ich werde zu
zeigen versuchen, daß die »saubere Bombe« und der »harmlose
atomare Niederschlag« nur die extremen Schöpfungen eines
normalen Stils sind. Einmal als Hauptverstoß gegen die Logik
betrachtet, erscheint der Widerspruch jetzt als ein Prinzip
der Logik der Manipulation – als die realistische Karikatur
der Dialektik. Es ist die Logik einer Gesellschaft, die es sich
leisten kann, auf Logik zu verzichten und mit der Zerstörung
zu spielen, eine Gesellschaft mit technologischer Macht über
Geist und Materie.
Das Universum der Sprache, in dem die Gegensätze
versöhnt werden, hat eine feste Basis für eine solche
Vereinigung — seine vorteilhafte Destruktivität. Die
totale Kommerzialisierung bringt ehedem antagonistische
Lebensbereiche zusammen, und diese Verbindung tritt darin
zutage, daß einander widerstreitende Bestandteile einer
- 141 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Rede sprachlich bruchlos verknüpft werden. Einem, der
noch nicht hinlänglich »konditioniert« ist, erscheint vieles
von dem, was öffentlich gesagt und gedruckt wird, äußerst
surrealistisch zu sein. Überschriften wie »Die Arbeiterschaft
sucht Harmonie mit den Raketengeschossen«7 und Annoncen
wie ein »Luxusbunker gegen atomaren Niederschlag«8
mögen immer noch die naive Reaktion hervorrufen, daß
»Arbeiterschaft«, »Raketengeschoß« und »Harmonie«
unversöhnliche Widersprüche sind und daß keine Logik und
keine Sprache imstande sein sollten, Luxus und atomaren
Niederschlag zusammenzubringen. Logik und Sprache
werden jedoch völlig rational, wenn wir erfahren, daß
ein »mit Atomkraft betriebenes, ballistische Raketen
feuerndes Unterseeboot« »ein Preisschild mit der Aufschrift
120.000.000 $ trägt« und daß die Ausführung des Bunkers
zu 1000 $ mit »Bodenbelag, Gesellschaftsspielen und einem
Fernsehgerät« versehen ist. Der affirmative Charakter
dieser Sprache liegt nicht in erster Linie darin, daß sie
die unmittelbare Identifikation des besonderen mit dem
allgemeinen Interesse, des Geschäfts mit nationaler Stärke,
der Prosperität mit dem Vernichtungspotential verkauft (das
Geschäft mit dem atomaren Niederschlag war anscheinend
nicht so gut), sondern daß sie diese Identifikation fördert.
Es ist nur ein Ausgleiten in die Wahrheit, wenn ein Theater
als »Sonderabendveranstaltung zu den Wahlen« Strindbergs
Totentanz ankündigt. Die Ankündigung offenbart den
7 New York Times vom 1. Dezember 1960.
8 Ibid., Ausgabe vom 2. November 1960.
- 142 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Zusammenhang in einer weniger ideologischen Form als dies
normalerweise gestattet wird.
Die Vereinigung der Gegensätze, die den kommerziellen
und politischen Stil charakterisiert, ist eine der vielen
Weisen, in der Sprache und Kommunikation sich gegen
den Ausdruck von Protest und Weigerung immunisieren.
Wie können ein solcher Protest und eine solche Weigerung
das rechte Wort finden, wenn die Organe der bestehenden
Ordnung zugeben und in der Reklame verkünden, daß der
Frieden in der Tat am Rande des Krieges gedeiht, daß die
ärgsten Waffen ihre von Profit zeugenden Preisschilder tragen
und der Luftschutzbunker Gemütlichkeit bedeuten kann?
Indem es seine Widersprüche zur Schau stellt, dichtet
dieses Universum der Sprache sich gegen jede andere
Sprechweise ab, die sich seiner Ausdrücke nicht bedient. Und
in seiner Fähigkeit, alle anderen Ausdrücke seinen eigenen
anzuähneln, bietet es die Aussicht, größtmögliche Toleranz mit
größtmöglicher Einheit zu verbinden. Nichtsdestoweniger
bezeugt seine Sprache den repressiven Charakter dieser
Einheit. Diese Sprache spricht in Konstruktionen, die dem
Empfänger einen schiefen und abgekürzten Sinn aufnötigen,
die blockierte Entfaltung des Inhalts, die Hinnahme des
Gebotenen in der Form, in der es geboten wird.
Die analytische Aussage ist eine solche repressive
Konstruktion. Die Tatsache, daß ein besonderes Substantiv
fast immer mit denselben »erläuternden« Adjektiven
und Attributen verbunden wird, verwandelt den Satz in
eine hypnotische Formel, die, endlos wiederholt, auch
- 143 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
die Bedeutung im Bewußtsein des Empfängers befestigt.
Er denkt nicht an wesentlich andere (und möglicherweise
wahre) Erläuterungen des Substantivs. Später werden wir
andere Konstruktionen untersuchen, bei denen der autoritäre
Charakter dieser Sprache zutage tritt. Gemeinsam ist ihnen
ein Zusammendrängen und Verkürzen der Syntax, welches
Verfahren die Entwicklung des Sinnes abschneidet, indem es
starre »Bilder« hervorbringt, die sich mit überwältigender
und versteinerter Konkretheit aufdrängen. Es handelt sich
dabei um die bekannte Technik der Reklameindustrie, in der
es methodisch benutzt wird, »ein Image aufzubauen«, das im
Bewußtsein und am Produkt haften bleibt und dazu beiträgt,
Menschen und Güter zu verkaufen. Sprechen und Schreiben
sind um »gezielte Schlagzeilen« und »publikumswirksame
Sätze« gruppiert, die das Image übermittelt. Dieses »Image«
kann »Freiheit« oder »Frieden« sein, der »nette Kerl« oder
der »Kommunist« oder »Miss Rheingold«. Vom Leser
oder Zuhörer wird erwartet, daß er sie mit einer fixierten
Struktur von Institutionen, Haltungen und Bestrebungen
zusammenbringt, er soll in einer fixierten spezifischen Weise
reagieren – und er tut es auch.
Sieht man von der relativ harmlosen Sphäre des
Warenverkaufs ab, dann sind die Folgen recht ernst;
denn eine solche Sprache ist zugleich »Einschüchterung und
Glorifizierung«.10 Die Sätze nehmen die Form suggestiver
Befehle an — sie sind eher evokativ als demonstrativ. Die
Aussage wird zur Vorschrift; die gesamte Kommunikation hat
10 Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, 1. c., S. 23.
- 144 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
einen hypnotischen Charakter und gleichzeitig einen Anstrich
von falscher Vertraulichkeit – das Ergebnis beständiger
Wiederholung und geschickt gelenkter, ans Volk gerichteter
Unmittelbarkeit der Kommunikation. Diese wendet sich
direkt an den Empfänger – ohne die durch Status, Bildung
und Amt gesetzte Distanz – und findet ihn oder sie in der
zwanglosen Atmosphäre von Wohnzimmer, Küche und
Schlafzimmer vor.
Dieselbe Vertraulichkeit wird durch die personalisierte
Sprache hergestellt, die in der fortgeschrittenen
Kommunikation eine erhebliche Rolle spielt11. Es ist die
Rede von »Ihrem« Kongreßabgeordneten, »Ihrer« Autobahn,
»Ihrem« bevorzugten Drugstore, »Ihrer« Zeitung; »Ihnen«
wird sie gebracht, »Sie« werden eingeladen usw. Auf diese
Weise werden aufgenötigte, genormte und allgemeine
Dinge und Funktionen als »speziell für Sie« dargeboten.
Es verschlägt wenig, ob die so angesprochenen Individuen
daran glauben oder nicht. Der Erfolg deutet darauf hin, daß
die Selbstidentifikation der Individuen mit den Funktionen
befördert wird, die sie und andere ausführen.
In den fortgeschrittensten Bereichen der funktionalen und
manipulierten Kommunikation setzt die Sprache in wahrhaft
schlagenden Konstruktionen die autoritäre Identifikation von
Person und Funktion durch. Das Nachrichtenmagazin Time
kann als extremes Beispiel für diese Tendenz dienen. Sein
Gebrauch des flektierten Genetivs läßt Individuen als bloße
11 Cf. Leo Löwenthal, Literature, Popular Culture, and Society, Prentice-Hall Englewood
Cliffs, N.J. 1961, S. 109 ff., dt.: Literatur und Gesellschaft, Neuwied 1964, S. 196 ff.,
und Richard Hoggart, The Uses of Literacy, Boston, Beacon Press, 1961, S. 161 ff.
- 145 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Anhängsel oder Eigenschaften ihres Ortes, ihrer Tätigkeit,
ihres Arbeitgebers oder Unternehmens erscheinen. Sie
werden eingeführt als »Virginia‘s Byrd, U. S. Steel‘s Blough,
Egypt‘s Nasser«. Eine mit Bindestrichen versehene attributive
Konstruktion erzeugt ein starres Syndrom:
»Georgia‘s high-handed, low-browed governor ... had the
stage all set for one of his wild political rallies last week.«
»Georgias autoritärer, ungebildeter Gouverneur hatte
letzte Woche alles für seine wilden politischen Kundgebungen
vorbereitet.«
Der Gouverneur12, seine Funktion, sein äußerer Habitus
und seine politischen Praktiken verschmelzen zu einer
unteilbaren und unveränderlichen Struktur, die in ihrer
natürlichen Unschuld und Unmittelbarkeit den Geist
des Lesers überwältigt. Diese Struktur läßt keinen Raum
für Unterscheidung, Entwicklung und Differenzierung
des Sinnes; sie bewegt sich und lebt nur als ein Ganzes.
Von solchen personalisierten und hypnotischen »Images«
beherrscht, kann der Artikel im weiteren dazu übergehen,
sogar wesentliche Information zu liefern. Der Bericht bleibt
wohlbehütet im gutaufgemachten Rahmen einer mehr oder
weniger menschliches Interesse erweckenden Geschichte,
wie die Politik des Herausgebers ihn festlegt.
Der Gebrauch von Abkürzungen durch Bindestriche ist
weitverbreitet. Zum Beispiel »brush-browed« (bürstenbrauige)
Teller, der »Vater der H-Bombe«, »>bull-shouldered<
12 Der Satz bezieht sich nicht auf den gegenwärtigen Gouverneur, sondern auf Mr.
Talmadge.
- 146 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
(stiernackig) Rakentenmann von Braun«, »science-military
dinner13« und das »nuclear-powered, ballistic-missile-firing«
(atomkraftgetriebenes, raketenfeuerndes) Unterseeboot. Solche
Konstruktionen sind, vielleicht nicht zufällig, besonders häufig
in Sätzen, die Technik, Politik und Militärisches vereinigen.
Begriffe, die ganz verschiedene Bereiche oder Qualitäten
bezeichnen, werden zu einem festen, überwältigenden Ganzen
zusammengezwungen.
Die Wirkung ist wiederum eine magische und hypnotische
-die Projektion von Bildern, die eine unwiderstehliche
Einheit und Harmonie von Widersprüchen übermitteln. So
bringt der geliebte und gefürchtete Vater, der Spender des
Lebens, die Wasserstoffbombe zur Vernichtung des Lebens
hervor; »science-military« vereinigt die Anstrengungen,
Angst und Leiden zu verringern, mit der Tätigkeit, die
Angst und Leiden hervorruft. Oder, ohne Bindestrich, die
»Freedom Academy« von Spezialisten für Kalten Krieg14 und
die »saubere Bombe« – eine Formulierung, die der Zerstörung
moralische und körperliche Integrität zuspricht. Menschen,
die eine solche Sprache sprechen und hinnehmen, scheinen
gegenüber allem immun – und empfänglich für alles. Das
Verwenden von Bindestrichen (ob explizit oder nicht) versöhnt
das Unversöhnliche nicht immer; oft ist die Verbindung ganz
schwach – wie im Falle des »bull-shouldered« Raketenmannes
13 Die letzten drei Formulierungen fanden sich in The Nation, Ausgabe vom 22. Feb.
1958.
14 Ein Vorschlag der Illustrierten Life, zitiert in The Nation vom 20. August 1960. Nach
David Sarnoff liegt dem Kongreß ein Antrag vor, eine solche Akademie zu errichten.
Cf. John K. Jessup, Adlai Stevenson und andere, The National Purpose (hergestellt
unter der Leitung und mit Hilfe des Redaktionsstabes von Life, New York, Holt,
Rinehart und Winston, 1960), S. 58.
- 147 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
– oder sie übermittelt Drohung oder beflügelnde Dynamik.
Aber die Wirkung ist ähnlich. Die imponierende Struktur
vereinigt in einem jähen Aufblitzen die Akteure und Aktionen
von Gewalt, Macht, Schutz und Propaganda. Wir sehen den
Menschen oder die Sache in Operation und nur in Operation
– anders kann es nicht sein.
Notiz über Abkürzungen. NATO, SEATO, UN, AFL
– CIO, AEC, aber auch UdSSR, DDR usw. Die meisten dieser
Abkürzungen sind durchaus vernünftig und durch die Länge
der unabgekürzten Namen gerechtfertigt. Man könnte jedoch
versucht sein, in einigen von ihnen eine »List der Vernunft« zu
erblicken – die Abkürzung kann helfen, unerwünschte Fragen
zu unterdrücken. NATO läßt nicht an das denken, was »North
Atlantic Treaty Organization« besagt, nämlich an einen
Vertrag zwischen den Nationen im Nordatlantik – in welchem
Falle man über die Mitgliedschaft von Griechenland und der
Türkei Fragen stellen könnte. UdSSR kürzt Sozialismus
und Sowjet ab, DDR demokratisch. UN verzichtet auf eine
übermäßige Hervorhebung von »united«, SEATO auf diejenigen
südostasiatischen Länder, die nicht zu ihr gehören. AFL – CIO
begräbt die radikalen politischen Differenzen, die die beiden
Organisationen einmal trennten, und AEC ist eben nur eine
Verwaltungsagentur unter vielen anderen. Die Abkürzungen
bezeichnen das und nur das, was derart institutionalisiert
ist, daß die transzendierende Nebenbedeutung abgeschnitten
wird. Die Bedeutung ist fixiert, zurechtgestutzt, verfälscht.
Nachdem sie einmal zur offiziellen Vokabel geworden ist,
die im allgemeinen Sprachgebrauch beständig wiederholt
und von den Intellektuellen »sanktioniert« wird, hat sie
- 148 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
allen Erkenntniswert verloren und dient lediglich dazu, eine
unbestreitbare Tatsache anzuerkennen.
Dieser Stil ist von einer überwältigenden Konkretheit. Das
»mit seiner Punktion identifizierte Ding« ist realer als
das von seiner Funktion unterschiedene, und der sprachliche
Ausdruck dieser Identifikation (im funktionalen Substantiv
und in den vielen Formen syntaktischer Abkürzung) schafft
ein grundlegendes Vokabular und eine Syntax, die einer
Differenzierung, Trennung und Unterscheidung im Wege
stehen. Diese Sprache, die den Menschen unausgesetzt
Bilder aufnötigt, widersetzt sich der Entwicklung und dem
Ausdruck von Begriffen. In ihrer Unmittelbarkeit und
Direktheit behindert sie begriffliches Denken und damit
das Denken selbst. Denn der Begriff identifiziert das Ding
und seine Funktion nicht. Eine solche Identifikation kann
durchaus die legitime und vielleicht sogar einzige Bedeutung
des Operationellen und technologischen Begriffs sein, aber
Operationelle und technologische Definitionen sind spezifische
Anwendungen von Begriffen zu spezifischen Zwek-ken. Mehr
noch, sie lösen Begriffe in Operationen auf und schließen
die begriffliche Intention aus, die sich einer solchen Auflösung
widersetzt. Bevor er operationell gebraucht wurde, verneinte
der Begriff die Identifikation des Dings mit seiner Funktion; er
unterschied, was das Ding ist, von den zufälligen Funktionen
des Dings in der bestehenden Wirklichkeit.
Die herrschenden sprachlichen Tendenzen, die diese
Unterscheidungen nicht aufkommen lassen, sind Ausdruck der
in den vorangehenden Kapiteln erörterten Veränderungen
- 149 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
der Denkweisen — die funktionalisierte, abgekürzte und
vereinheitlichte Sprache ist die Sprache des eindimensionalen
Denkens. Um das Neue an ihr zu belegen, werde ich sie kurz
einer klassischen Philosophie der Grammatik gegenüberstellen,
die über die gegebene Realität des Verhaltens hinausgeht und
sprachliche mit ontologischen Kategorien verbindet.
Dieser Philosophie zufolge ist das grammatische Subjekt
eines Satzes zunächst eine »Substanz« und bleibt eine solche
in den verschiedenen Zuständen, Funktionen und Qualitäten,
die der Satz vom Subjekt prädiziert. Es ist aktiv oder
passiv auf seine Prädikate bezogen, bleibt aber von ihnen
verschieden. Wenn es kein Eigenname ist, so ist das Subjekt
mehr als ein Substantiv: es nennt den Begriff eines Dings, ein
Allgemeines, das der Satz, als in einem besonderen Zustand
oder in einer Funktion befindlich bestimmt. Das grammatische
Subjekt besitzt so eine Bedeutung, die mehr als die im Satz
ausgedrückte enthält.
Mit den Worten Wilhelm von Humboldts: das Nomen
als grammatisches Subjekt bezeichnet etwas, das »Beziehungen
eingehen kann15«, aber nicht mit diesen Beziehungen identisch
ist. Mehr noch, es bleibt in diesen Beziehungen und »gegen«
sie, was es ist; es ist ihr »allgemeiner« und wesentlicher
Kern. Die Synthese des Satzes verknüpft die Handlung
(oder den Zustand) in einer solchen Weise mit dem Subjekt,
daß dieses als tätiges (oder Träger) bezeichnet und damit
von dem Zustand oder der Funktion unterschieden wird,
15 W. V. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, Nachdruck
Berlin 1935, S. 254.
- 150 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
worin es sich gerade befindet. Wenn wir sagen: »Der Blitz
schlägt ein«, so »denkt man nicht nur an das Einschlagen
des Blitzes, sondern an den Blitz selbst, der einschlägt«,
an ein Subjekt, das »in Handlung überging«. Und wenn ein
Satz eine Definition seines Subjekts liefert, so löst er es nicht
in seine Zustände und Funktionen auf, sondern definiert es
als etwas, das sich in diesem Zustand befindet oder diese
Funktion ausübt. Sofern es weder in seinen Prädikaten
verschwindet noch als eine Wesenheit vor seinen Prädikaten
und außerhalb ihrer besteht, konstituiert sich das Subjekt in
seinen Prädikaten – das Resultat eines Vermittlungsprozesses,
der sich im Satz ausdrückt16.
Ich habe von der Philosophie der Grammatik gesprochen,
um das Ausmaß zu verdeutlichen, in dem die sprachlichen
Abkürzungen auf eine Verkürzung des Denkens hindeuten,
die sie ihrerseits bekräftigen und fördern. Das Bestehen
auf den philosophischen Elementen der Grammatik, auf
der Verbindung von grammatischem, logischem und
ontologischem »Subjekt« verweist auf die Inhalte, die in
der funktionalen Sprache unterdrückt und von Ausdruck und
Kommunikation abgesperrt werden. Verkürzung des Begriffs
in fixierten Bildern, gehemmte Entwicklung in hypnotischen
Formeln, die sich selbst für gültig erklären, Immunität
gegen Widerspruch, Identifikation des Dings (und der
Person) mit seiner Funktion – diese Tendenzen offenbaren den
eindimensionalen Geist in der Sprache, die er spricht.
16 Cf. zu dieser Philosophie der Grammatik in der dialektischen Logik Hegels den
Begriff der »Substanz als Subjekt« sowie den des »spekulativen Satzes« in der
Vorrede zur Phänomenologie des Geistes.
- 151 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Wenn das sprachliche Verhalten die begriffliche Entfaltung
blockiert, wenn es sich gegen Abstraktion und Vermittlung
sträubt, wenn es vor den unmittelbaren Tatsachen kapituliert,
so wehrt es die Anerkennung der Faktoren hinter den
Fakten ab und damit die Anerkennung der Tatsachen und
ihres historischen Inhalts. In der Gesellschaft und für sie ist
diese Organisation funktionalen Sprechens von höchster
Wichtigkeit; sie dient als Vehikel von Gleichschaltung und
Unterordnung. Die vereinheitlichte, funktionale Sprache ist
eine unversöhnlich anti-kritische und antidialektische Sprache.
In ihr verschlingt die operationelle und verhaltensmäßige
Rationalität die transzendenten, negativen und oppositionellen
Elemente der Vernunft.
Ich werde diese Elemente unter dem Aspekt der
Spannung von »Sein« und »Sollen«, Wesen und
Erscheinung, Potentialität und Aktualität erörtern 17 – dem
Einbruch des Negativen in die positiven Bestimmungen
der Logik. Diese aufrechterhaltene Spannung durchdringt
das zweidimensionale sprachliche Universum, das des
kritischen, abstrakten Denkens. Die beiden Dimensionen
stehen in einem antagonistischen Verhältnis; die Realität
hat an beiden teil, und die dialektischen Begriffe entfalten
die realen Widersprüche. In seiner eigenen Entwicklung
gelangte das dialektische Denken dazu, den geschichtlichen
Charakter dieser Widersprüche und den Prozeß ihrer
Vermittlung als einen geschichtlichen zu begreifen. So erwies
sich die »andere« Dimension des Denkens als geschichtliche
17 Im 5. Kapitel.
- 152 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Dimension – die Potentialität als geschichtliche Möglichkeit,
ihre Verwirklichung als geschichtliches Ereignis.
Die Unterdrückung dieser Dimension im gesellschaftlichen
Universum operationeller Rationalität ist eine Unterdrückung
der Geschichte, und das ist keine akademische, sondern eine
politische Angelegenheit. Sie ist eine Unterdrückung der
eigenen Vergangenheit der Gesellschaft – und ihrer Zukunft
insoweit, als diese Zukunft an die qualitative Änderung,
die Negation der Gegenwart appelliert. Ein Universum
der Sprache, worin die Kategorien der Freiheit mit ihrem
Gegenteil austauschbar, ja identisch geworden sind,
praktiziert nicht nur eine Orwellsche oder Äsopische Sprache,
sondern verdrängt und vergißt die geschichtliche Realität, den
Schrecken des Faschismus, die Idee des Sozialismus, die
Vorbedingungen der Demokratie, den Inhalt der Freiheit. Wenn
eine bürokratische Diktatur die kommunistische Gesellschaft
beherrscht und bestimmt, wenn faschistische Regime als Partner
der Freien Welt fungieren, wenn das Wohlfahrtsprogramm des
aufgeklärten Kapitalismus erfolgreich vereitelt wird, indem
man es mit dem Etikett »Sozialismus« versieht, wenn die
Grundlagen der Demokratie reibungslos in der Demokratie
abgeschafft werden, dann werden die alten geschichtlichen
Begriffe durch hochmoderne operationelle Neubestimmungen
außer Kraft gesetzt. Diese Neubestimmungen sind
Verfälschungen, die dadurch, daß sie von den bestehenden und
faktischen Mächten durchgesetzt werden, dazu dienen, das
Falsche in Wahrheit zu verwandeln.
- 153 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Die funktionale Sprache ist eine radikal antihistorische
Sprache: die operationelle Rationalität hat für historische
Vernunft wenig Raum und Verwendung18. Gehört dieser
Kampf gegen die Geschichte dem Kampf gegen eine
Dimension des Geistes an, in der sich zentrifugale Anlagen
und Kräfte entwickeln könnten — Anlagen und Kräfte,
welche die totale Gleichschaltung des Individuums mit der
Gesellschaft verhindern könnten? Die Erinnerung an die
Vergangenheit kann gefährliche Einsichten aufkommen
lassen, und die etablierte Gesellschaft scheint die subversiven
Inhalte des Gedächtnisses zu fürchten. Das Erinnern ist eine
Weise, sich von den gegebenen Tatsachen abzulösen, eine
Weise der »Vermittlung«, die für kurze Augenblicke die
allgegenwärtige Macht der gegebenen Tatsachen durchbricht.
Das Gedächtnis ruft vergangenen Schrecken wie vergangene
Hoffnung in die Erinnerung zurück. Beide werden wieder
lebendig, aber während jener in der Wirklichkeit in stets neuen
Formen wiederkehrt, bleibt diese eine Hoffnung. Und in den
persönlichen Begebenheiten, die im individuellen Gedächtnis
neu erstehen, setzen sich die Ängste und Sehnsüchte der
Menschheit durch – das Allgemeine im Besonderen. Die
Geschichte ist es, die die Erinnerung bewahrt, aber auch sie
unterliegt der totalitären Gewalt des verhaltensmäßigen
Universums.
18 Das bedeutet nicht, daß die private oder allgemeine Geschichte aus dem Universum
der Sprache verschwindet. Die Vergangenheit wird oft genug beschworen: sei es,
daß an die »Founding Fathers« erinnert wird oder an Marx-Engels-Lenin oder an
die bescheidene Herkunft eines Präsidentschaftskandidaten. Aber auch dies sind
ritualisierte Beschwörungen, die keine Entfaltung des erinnerten Inhalts zu lassen,
häufig dient die bloße Beschwörung dazu, eine solche Entfaltung zu unter binden, die
ihre historische Unangemessenheit zeigen würde.
- 154 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Das »Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung
. . . ist kein bloßes Verfallsprodukt ... sondern es ist mit
der Fortschrittlichkeit des bürgerlichen Prinzips notwendig
verknüpft«. »Ökonomen und Soziologen wie Werner Sombart
und Max Weber haben das Prinzip des Traditionalismus
den feudalen Gesellschaftsformen zugeordnet und das der
Rationalität den bürgerlichen. Das sagt aber nicht weniger,
als daß Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden
bürgerlichen Gesellschaft selber als eine Art irrationaler Rest
liquidiert wird .. .«19
Wenn die fortschreitende Rationalität der avancierten
Industriegesellschaft dazu tendiert, die störenden Elemente
von Zeit und Gedächtnis als »irrationalen Rest« zu
liquidieren, dann tendiert sie auch dazu, die störende
Rationalität in diesem irrationalen Rest zu liquidieren. Die
Anerkennung der Vergangenheit und die Beziehung zu ihr
als einem Gegenwärtigen wirkt der Funktionalisierung des
Denkens durch die bestehende Realität und in ihr entgegen.
Sie widersetzt sich der Abriegelung des Universums von
Sprache und Verhalten; sie ermöglicht die Entfaltung von
Begriffen, die das geschlossene Universum aus seiner Festigkeit
lösen und überschreiten, indem sie es als geschichtliches
Universum begreifen. Der gegebenen Gesellschaft als dem
Gegenstand seiner Reflexion gegenübergestellt, wird das
kritische Denken geschichtliches Bewußtsein und ist als solches
19 Th. W. Adorno, »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?«, in: Bericht über die
Erzieherkonferenz am 6 und 7 November in Wiesbaden, Frankfurt a. M. 1960, S. 14.
Der Kampf gegen die Geschichte wird im 7. Kapitel weiter diskutiert.
- 155 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
wesentlich Urteil20. Weit davon entfernt, einen gleichgültigen
Relativismus zu erfordern, forscht es in der wirklichen
Geschichte des Menschen nach den Kriterien von Wahrheit
und Falschheit, Fortschritt und Regression21. Die Vermittlung
der Vergangenheit mit der Gegenwart entdeckt die Faktoren,
welche die Fakten hervorbrachten, die die Lebensweise
determinierten und Herren und Knechte einführten; sie
entwirft die Grenzen und die Alternativen. Wenn dieses
kritische Bewußtsein spricht, so spricht es »die Sprache
der Erkenntnis« (Roland Barthes), die das geschlossene
Universum der Sprache und seine versteinerte Struktur
aufbricht. Die Schlüsselbegriffe dieser Sprache sind keine
hypnotischen Nomina, die endlos dieselben eingefrorenen
Prädikate beschwören. Sie gestatten vielmehr eine offene
Entwicklung; sie entfalten ihren Inhalt selbst in Prädikaten,
die einander widersprechen.
Das Kommunistische Manifest ist dafür ein klassisches
Beispiel. Hier »regieren« die beiden Schlüsselbegriffe,
Bourgeoisie und Proletariat, jeweils entgegengesetzte
Prädikate. Die »Bourgeoisie« ist das Subjekt des technischen
Fortschritts, der Befreiung, des Sieges über die Natur, der
Schaffung gesellschaftlichen Reichtums und der Entstellung
und Zerstörung dieser Errungenschaften. Entsprechend hat
das »Proletariat« die Attribute totaler Unterdrückung und
totaler Aufhebung der Unterdrückung.
20 Cf. S. 12 und Kapitel 5.
21 Zur weiteren Diskussion dieser Kriterien cf. Kapitel 8.
- 156 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Eine solche dialektische Beziehung von Gegensätzen im
Satz und durch ihn wird dadurch ermöglicht, daß das Subjekt
als ein geschichtliches Agens anerkannt wird, dessen Identität
sich in seiner geschichtlichen Praxis und gegen sie konstituiert,
in seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit und gegen sie. Die
Rede entfaltet und erklärt den Konflikt zwischen dem Ding und
seiner Funktion, und dieser Konflikt drückt sich sprachlich
in Sätzen aus, die einander widersprechende Prädikate zu
einer logischen Einheit verbinden – begriffliches Gegenstück
zur objektiven Realität. Im Gegensatz zu aller Orwellschen
Sprache wird der Widerspruch dargelegt, expliziert, begründet
und denunziert.
Ich habe den Gegensatz der beiden Sprachen veranschaulicht,
indem ich mich auf den Stil der Marxschen Theorie bezog,
aber die kritischen, erkenntnismäßigen Qualitäten sind nicht
ausschließlich für den Marxschen Stil charakteristisch.
Sie finden sich auch (wenngleich auf andere Weise) im Stil
der großen konservativen und liberalen Kritik der sich
entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Zum Beispiel ist die
Sprache von Burke und Tocqueville auf der einen Seite, von
John Stuart Mill auf der anderen eine höchst beweiskräftige,
begriffliche, »offene« Sprache, die den hypnotisch-rituellen
Formeln des gegenwärtigen Neokonservativismus und
Neoliberalismus noch nicht erlegen ist.
Die autoritäre Ritualisierung der Rede fällt jedoch dort
besonders auf, wo sie die dialektische Sprache selbst in
Mitleidenschaft zieht. Die Erfordernisse der auf Konkurrenz
abgestellten Industrialisierung und die totale Unterwerfung
- 157 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
des Menschen unter den Produktionsapparat erscheinen in der
autoritären Umwandlung der marxistischen in die stalinistische
und nachstalinistische Sprache. Diese Erfordernisse, wie
sie von der Führung interpretiert werden, die den Apparat
kontrolliert, befinden darüber, was Recht und Unrecht, wahr
und falsch ist. Sie lassen keine Zeit und keinen Raum für eine
Diskussion, die auflösend wirkende Alternativen entwerfen
würde. Diese Sprache gibt sich überhaupt zu keiner »Rede«
mehr her. Sie spricht Tatsachen aus und setzt Tatsachen ein
aufgrund der Macht des Apparats — sie ist Kundgebung,
die sich selbst für gültig erklärt. Hier22 muß es genügen, den
Abschnitt anzuführen und zu para-phrasieren, in dem Roland
Barthes ihre magisch-autoritären Züge beschreibt:
Il n‘y a plus aucun sursis entre la dénomination et le
jugement, et la clôture du langage est parfaite ...23
Die geschlossene Sprache beweist und begründet nicht
– sie teilt Entscheidung, Diktum und Kommando mit. Wo sie
definiert, wird die Definition zur »Trennung von Gut und
Böse«; sie stellt unbezweifelbares Recht und Unrecht her und
den einen Wert zur Rechtfertigung eines anderen. Sie bewegt
sich in Tautologien, aber die Tautologien sind erschreckend
wirksame »Urteile«. Sie fällen Urteile in einer bereits
vorentschiedenen Form; sie sprechen Verdammung aus. Zum
Beispiel ist der »objektive Gehalt«, das heißt die Definition
solcher Ausdrücke wie »Abweichler«, »Revisionist« der des
Strafgesetzbuches, und diese Art von Bekräftigung befördert
22 Cf. mein Buch. Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, 1. c., S. 94 ff.
23 »Es gibt keinen Aufschub mehr zwischen Benennung und Urteil, die Geschlossenheit der
Sprache ist vollkommen . . .«, 1. c., S. 26.
- 158 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
ein Bewußtsein, für das die Sprache der bestehenden Mächte
die Sprache der Wahrheit ist24.
Das ist leider noch nicht alles. Das produktive Wachstum
der etablierten kommunistischen Gesellschaft verdammt
auch die freiheitliche kommunistische Opposition; die
Sprache, die versucht, die ursprüngliche Wahrheit ins
Gedächtnis zurückzurufen und zu erhalten, unterliegt
deren Ritualisierung. Die Orientierung des Sprechens
(und Handelns) an Ausdrücken wie »das Proletariat«,
»Arbeiterräte«, die »Diktatur des stalinistischen Apparats«
wird dort zur Orientierung an rituellen Formeln, wo
das »Proletariat« nicht mehr oder noch nicht existiert, wo
direkte Kontrolle »von unten« störend auf den Fortschritt
der Massenproduktion wirken und der Kampf gegen die
Bürokratie die Wirksamkeit der einzigen realen Kraft
schwächen würde, die in internationalem Maßstab gegen
den Kapitalismus mobilisiert werden kann. Hier wird streng
an der Vergangenheit festgehalten, diese aber nicht mit der
Gegenwart vermittelt. Man widersetzt sich den Begriffen, die
eine historische Lage erfaßten, ohne sie bis zur gegenwärtigen
fortzuentwickeln – man stellt ihre Dialektik still.
Die rituell-autoritäre Sprache verbreitet sich über die
heutige Welt, über demokratische und nichtdemokratische,
kapitalistische und nichtkapitalistische Länder25. Nach Roland
24 Roland Barthes, 1. c., S. 26 f.
25 Was Westdeutschland angeht cf. die gründlichen Studien des Frankfurter Instituts
für Sozialforschung aus den Jahren 1950/51: Gruppenexperiment, herausgegeben
von F. Pollock, Frankfurt a. M. 1955, besonders S. 545 f. Cf. zu beiden Teilen
Deutschlands auch Karl Korn, Spracht in der verwalteten Welt, Frankfurt a. M.
1958.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Barthes ist sie die Sprache, die allen autoritären Regimen
eigen ist, aber gibt es heute im Umkreis der fortgeschrittenen
industriellen Zivilisation eine Gesellschaft, die nicht
einem autoritären Regime untersteht? Da die Substanz
der verschiedenen Regime nicht mehr in alternativen
Lebensweisen erscheint, besteht sie nurmehr in den
alternativen Techniken der Manipulation und Kontrolle.
Nicht nur reflektiert die Sprache diese Kontrolle, sondern
sie wird selbst dort zu einem Kontrollinstrument, wo sie
nicht Befehle, sondern Information übermittelt; wo sie nicht
Gehorsam, sondern Wahl, keine Unterwerfung, sondern
Freiheit erfordert.
Diese Sprache übt Kontrolle aus, indem sie die sprachlichen
Formen und Symbole der Reflexion, Abstraktion, der
Entwicklung und des Widerspruchs reduziert; indem sie
Bilder an die Stelle von Begriffen setzt. Sie leugnet oder
absorbiert den transzendierenden Wortschatz; sie sucht
nicht nach Wahrheit und Falschheit, sondern setzt sie ein und
durch. Dabei ist diese Art des Sprechens nicht terroristisch. Es
scheint nicht berechtigt anzunehmen, daß die Zuhörer glauben
oder zu glauben veranlaßt werden, was man ihnen sagt. Die
neue Note der magisch-rituellen Sprache besteht vielmehr
darin, daß die Menschen nicht daran glauben oder nichts
darauf geben und doch entsprechend handeln. Man »glaubt«
der Aussage eines operationellen Begriffs nicht, aber sie
rechtfertigt sich selbst im Handeln – dadurch, daß die Arbeit
verrichtet, daß verkauft und gekauft wird, in der Weigerung,
anderen zuzuhören usw.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Wenn die Sprache der Politik dazu tendiert, die der
Reklame zu werden und dadurch den Bruch zwischen zwei
früher sehr verschiedenen Bereichen der Gesellschaft schließt,
dann scheint diese Tendenz den Grad auszudrücken, in dem
Herrschaft und Verwaltung aufgehört haben, getrennte und
unabhängige Funktionen in der technologischen Gesellschaft
zu sein. Das bedeutet nicht, daß die Macht der Berufspolitiker
abgenommen hat. Das Gegenteil ist der Fall. Je globaler die
Herausforderung ist, die sie aufbauen, um ihr zu begegnen,
je normaler die Nachbarschaft totaler Zerstörung, desto
größer ist ihre Freiheit von wirksamer Volkssouveränität.
Ihre Herrschaft ist indessen in die täglichen Verrichtungen und
in die Erholung der Bürger eingewandert, und die »Symbole«
der Politik sind zugleich die von Geschäft, Kommerz und
Vergnügen.
Was der Sprache widerfuhr, hat seine Parallele in den
Wandlungen des politischen Verhaltens. Im Verlauf von Artikeln
zur entspannenden Unterhaltung in Luftschutzkellern, in der
Fernsehsendung von Kandidaten, die um die Führung der
Nation konkurrieren, ist die Verbindung von Politik, Geschäft
und Vergnügen vollkommen. Aber diese Verbindung ist
trügerisch und hängnisvoll verfrüht – Geschäft und Vergnügen
unterstehen immer noch der Politik der Herrschaft. Es geht
hier nicht um das satirische Stück nach der Tragödie, nicht
um finis tragoediae – die Tragödie kann jetzt beginnen.
Und wiederum wird nicht der Held das rituelle Opfer sein,
sondern das Volk.
- 161 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Die Forschung der totalen Verwaltung
Die funktionale Kommunikation ist nur die Außenschicht
des eindimensionalen Universums, in dem der Mensch
gedrillt wird, daß er vergessen lernt, das Negative ins
Positive zu übersetzen, so daß er weiterfunktionieren
kann – reduziert, aber tauglich und einigermaßen gut.
Die Institutionen der Rede- und Denkfreiheit behindern
die geistige Gleichschaltung mit der etablierten Wirklichkeit
nicht. Was stattfindet, ist eine durchgreifende Neubestimmung
des Denkens selbst, seiner Funktion und seines Inhalts. Die
Gleichschaltung des Individuums mit seiner Gesellschaft reicht
in jene Schichten des Geistes hinein, in denen gerade diejenigen
Begriffe ausgearbeitet werden, die bestimmt sind, die etablierte
Wirklichkeit zu erfassen. Die Begriffe werden der geistigen
Tradition entnommen und in operationelle Termini übersetzt –
eine Übersetzung, bei der die Spannung zwischen Denken und
Wirklichkeit dadurch vermindert wird, daß sie die negative
Macht des Denkens schwächt.
Das ist eine philosophische Entwicklung, und um das
Ausmaß zu erhellen, in dem sie mit der Tradition bricht,
wird die Analyse zunehmend abstrakt und ideologisch
werden müssen. Es handelt sich um die von der Konkretion
der Gesellschaft am weitesten entfernte Sphäre, die am
deutlichsten zeigen kann, wie sehr die Gesellschaft sich
das Denken unterworfen hat. Ferner wird die Analyse in die
Geschichte der philosophischen Tradition zurückgehen und
versuchen müssen, die Tendenzen ausfindig zu machen, die zu
jenem Bruch führten.
- 162 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Ehe wir jedoch in die philosophische Analyse eintreten,
werde ich – zugleich als Übergang in den abstrakteren und
theoretischeren Bereich – kurz zwei (nach meiner Ansicht
repräsentative) Beispiele aus dem dazwischen liegenden
Gebiet, nämlich der empirischen Sozialforschung erörtern,
die es unmittelbar mit bestimmten für die fortgeschrittene
Industriegesellschaft charakteristischen Verhältnissen zu tun
hat. Ob es hierbei um Fragen der Sprache oder des Denkens,
der Worte oder der Begriffe geht, um eine sprachliche oder
eine erkenntnistheoretische Analyse – die zu diskutierende
Sache widerstrebt solchen sauberen akademischen
Unterscheidungen. Die Trennung einer rein sprachlichen
von einer begrifflichen Analyse ist selbst ein Ausdruck der
Umorientierung des Denkens, die zu erklären die nächsten
Kapitel versuchen werden. Da die folgende Kritik der
empirischen Sozialforschung unternommen wird, um auf die
anschließende philosophische Analyse vorzubereiten und
auch in deren Licht steht, mag eine vorläufige Darlegung über
den Gebrauch des Termins »Begriff«, von dem die Kritik sich
leiten läßt, zur Einführung dienen.
»Begriff« soll die geistige Vorstellung von etwas
bezeichnen, das als Ergebnis eines Reflexionsprozesses
verstanden, erfaßt und gewußt wird. Dieses Etwas kann ein
Gegenstand der täglichen Praxis oder eine Situation sein,
eine Gesellschaft, ein Roman. Wenn sie begriffen, auf ihren
Begriff gebracht sind, sind sie auf jeden Fall Gegenstände
des Denkens geworden, und damit sind ihr Inhalt und ihre
Bedeutung identisch mit den realen Gegenständen der
unmittelbaren Erfahrung und doch von diesen verschieden.
- 163 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
»Identisch« insofern, als der Begriff dasselbe Ding bezeichnet,
»verschieden« insofern, als er das Ergebnis einer Reflexion
ist, die das Ding im Zusammenhang (und im Licht) anderer
Dinge verstanden hat, die in der unmittelbaren Erfahrung
nicht erschienen und die das Ding »erklären« (Vermittlung).
Wenn der Begriff niemals ein besonderes, konkretes
Ding bezeichnet, wenn er stets abstrakt und allgemein ist,
so deshalb, weil er mehr und anderes begreift als ein
besonderes Ding – eine allgemeine, dem besonderen Ding
wesentliche Beschaffenheit oder Beziehung, welche die
Form bestimmt, unter der es als konkreter Gegenstand
der Erfahrung erscheint. Wenn der Begriff von etwas
Konkretem das Produkt geistiger Klassifikation, Organisation
und Abstraktion ist, so führen diese geistigen Prozesse doch
nur insoweit zum Begreifen, als sie das besondere Ding in seiner
allgemeinen Beschaffenheit und Beziehung wiederherstellen
und dabei seine unmittelbare Erscheinung in Richtung auf
seine Wirklichkeit transzendieren.
Dementsprechend bedeuten alle Begriffe der Erkenntnis
ein Übergehen: sie gehen über die deskriptive Bezogenheit
auf besondere Tatsachen hinaus. Und wenn die Tatsachen
solche der Gesellschaft sind, dann gehen die Begriffe der
Erkenntnis auch über jeden besonderen Zusammenhang von
Tatsachen hinaus -in die Prozesse und Verhältnisse hinein,
auf denen die jeweilige Gesellschaft beruht und die in alle
besonderen Tatsachen eingehen und dabei diese Gesellschaft
konstituieren, erhalten und zerstören. Aufgrund ihrer Beziehung
zu dieser historischen Totalität transzendieren die Begriffe der
- 164 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Erkenntnis allen operationellen Zusammenhang, aber ihre
Transzendenz ist empirisch, weil sie die Tatsachen als das
erkennbar macht, was sie wirklich sind.
Das »Mehr« an Bedeutung gegenüber dem Operationellen
Begriff wirft Licht auf die beschränkte, ja trügerische
Form, unter der es den Tatsachen gestattet ist, erfahren zu
werden. Daher die Spannung, die Diskrepanz, der Konflikt
zwischen dem Begriff und der unmittelbaren Tatsache – dem
konkreten Ding; zwischen dem Wort, das sich auf den Begriff
bezieht und dem, das sich auf die Dinge bezieht. Daher der
Begriff der »Wirklichkeit des Allgemeinen«. Daher auch der
unkritische, sich anpassende Charakter jener Denkweisen, die
Begriffe als geistige Instrumente behandeln und allgemeine
Begriffe in Termini mit partikularen, objektiven Merkmalen
übersetzen.
Wo diese reduzierten Begriffe die Analyse der menschli-
chen, individuellen oder gesellschaftlichen, geistigen oder
materiellen Wirklichkeit leiten, gelangen sie zu einer
falschen Konkretheit – einer Konkretheit, die von den
Bedingungen, die ihre Wirklichkeit ausmachen, isoliert ist. In
diesem Zusammenhang nimmt die operationelle Behandlung
des Begriffs eine politische Funktion an. Das Individuum
und sein Verhalten werden in einem therapeutischen Sinne
analysiert: Anpassung an seine Gesellschaft. Denken und
Ausdruck, Theorie und Praxis sollen mit den Tatsachen sei-
ner Existenz in Übereinstimmung gebracht werden, ohne daß
für die begriffliche Kritik dieser Tatsachen Raum bleibt.
- 165 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Der therapeutische Charakter des Operationellen Begriffs
tritt am klarsten dort zutage, wo das begriffliche Denken
methodisch in den Dienst der Erforschung und Verbesserung
der bestehenden sozialen Verhältnisse innerhalb der
bestehenden gesellschaftlichen Institutionen gestellt wird – in
der Industriesoziologie, in der Motivforschung und in den
Studien über den Markt und die öffentliche Meinung.
Wenn die gegebene Gesellschaftsform das oberste
Bezugssystem für Theorie und Praxis ist und bleibt, dann
ist an dieser Art Soziologie und Psychologie nichts falsch. Es
ist menschlicher und produktiver, gute Beziehungen zwischen
Belegschaft und Betriebsleitung zu haben als schlechte;
angenehme Arbeitsbedingungen anstatt unangenehmer;
Harmonie anstatt Konflikt zwischen den Kundenwünschen
und den Bedürfnissen von Geschäft und Politik.
Aber die Rationalität dieser Art von Sozialwissenschaft
erscheint in einem anderen Licht, wenn die gegebene
Gesellschaft, die dabei das Bezugssystem bildet, zum
Gegenstand einer kritischen Theorie wird, die gerade auf die
Struktur dieser Gesellschaft abzielt, die in allen besonderen
Tatsachen und Bedingungen präsent ist und deren Ort und
Funktion bestimmt. Dann wird ihr ideologischer und poli-
tischer Charakter offenkundig, und die Ausarbeitung ange-
messener Begriffe der Erkenntnis macht es erforderlich, über
die trügerische Konkretheit des positivistischen Empirismus
hinauszugehen. Der therapeutische und operationelle Begriff
wird in dem Maße falsch, wie er die Tatsachen isoliert, atomi-
siert und innerhalb des repressiven Ganzen befestigt und da-
- 166 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
bei die Termini dieses Ganzen als die der Analyse hinnimmt.
Die methodologisch geforderte Übersetzung des Allgemeinen
in den Operationellen Begriff wird dann zur repressiven
Einschränkung des Denkens26.
Ich wähle als Beispiel ein »klassisches« Werk der
Industriesoziologie: die Studie über die Arbeitsverhältnisse in
den Hawthorne Betrieben der Western Electric Company27.
Es handelt sich um eine alte Studie, die ungefähr vor einem
Vierteljahrhundert angestellt wurde, und die Methoden sind
seitdem sehr verfeinert worden. Nach meiner Ansicht sind
jedoch Substanz und Funktion dieselben geblieben. Außerdem
ist diese Denkweise inzwischen nicht nur in andere Zweige
der Sozialwissenschaft und in die Philosophie vorgedrungen,
sondern hat auch dazu beigetragen, die menschlichen Subjekte
zu formen, mit denen sie es zu tun hat. Die operationellen
Begriffe münden in Methoden verbesserter sozialer Kontrolle
ein: sie werden Teil der Wissenschaft von der Betriebsführung,
26 In der Theorie des Funktionalismus tritt der therapeutische und ideologische Charakter der
Analyse nicht hervor; er wird durch die abstrakte Allgemeinheit der Begriffe (»System«,
»Teil«, »Einheit«, »Einzeltatbestand«, »mehrfache Konsequenzen«, »Funktion«)
verdeckt. Sie sind im Prinzip auf jedes »System« anwendbar, das der Soziologe zum
Gegenstand seiner Analyse wählt – von der kleinsten Gruppe bis zur Gesellschaft
als solcher. Die funktionale Analyse bleibt auf das gewählte System begrenzt,
das selbst kein Gegenstand einer kritischen Analyse ist, welche die Schranken des
Systems in Richtung auf das geschichtliche Kontinuum überschreitet, in dem seine
Funktionen und Dysfunktionen zu dem werden, was sie sind. Damit entfaltet sich
in der funktionalen Theorie der Irrtum einer unangebrachten Abstraktheit. Die
Allgemeinheit ihrer Begriffe wird dadurch erreicht, daß gerade von den Qualitäten
abstrahiert wird, die das System zu einem historischen machen und seinen Funktionen
und Dysfunktionen eine kritisch-transzendente Bedeutung verleihen.
27 Die Zitate stammen von Roethlisberger und Dickson, Management and the Worker,
Cambridge, Harvard University Press, 1947. Cf. die vorzügliche Diskussion in: Loren
Baritz, The Servants of Power. A History of the Use of Social Science in American Industry,
Middletown, Wesley an University Press, 1960, Kapitel 5 und 6.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Abteilung Menschliche Beziehungen. In Labor Looks at Labor
stehen diese Worte eines Automobilarbeiters: »Die Betriebsleitung
konnte unseren Streiks nicht beikommen, sie konnte uns mit der
Taktik der direkten Gewalt nicht zum Halten bringen, deshalb
haben sie >Beziehungen< auf ökonomischem, gesellschaftlichem
und politischem Gebiet studiert, um herauszubekommen, wie man
die Gewerkschaften zum Halten bringt«.
Bei der Untersuchung der Beschwerden von Arbeitern über
Arbeitsbedingungen und Löhne stießen die Forscher auf die
Tatsache, daß die meisten dieser Beschwerden in Sätzen formuliert
waren, die »vage, unbestimmte Ausdrücke« enthielten, denen es
an »objektivem Bezug« zu solchen »Maßstäben« fehlte, »die
allgemein akzeptiert werden«, und daß sie Charakteristika
aufwiesen, »die von den Eigenschaften, die im allgemeinen
mit gewöhnlichen Tatsachen zusammengebracht werden,
wesentlich verschieden waren«28. Mit anderen Worten, die
Beschwerden waren in allgemeinen Feststellungen formuliert
wie »die Waschräume sind unhygienisch«, »die Arbeit ist
gefährlich«, »die Tarife sind zu niedrig«.
Geleitet vom Prinzip des operationellen Denkens,
machten sich die Forscher daran, diese Feststellungen
derart zu übersetzen oder neuzuformulieren, daß ihre vage
Allgemeinheit auf besondere Merkmale reduziert werden
konnte, auf Termini, die die besondere Situation bezeichneten,
in der die Beschwerde entstanden war, und schilderten so
»genau die Verhältnisse bei der Company«. Die allgemeine
Form wurde in Feststellungen aufgelöst, die die besonderen
28 Roethlisberger und Dickson, 1. c., S. 255 f.
- 168 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Vorgänge und Bedingungen ausfindig machten, welche die
Beschwerde veranlaßten, und man nahm sich der Beschwerde
an, indem man diese besonderen Vorgänge und Bedingungen
änderte.
Zum Beispiel wurde die Feststellung »die Waschräume
sind unhygienisch« übersetzt in »bei der und der Gelegenheit
ging ich in diesen Waschraum, und das Waschbecken war
etwas schmutzig«. Nachfragen ermittelten dann, daß dies »in
hohem Maße auf die Unachtsamkeit einiger Angestellter
zurückzuführen« war; eine Kampagne gegen das Wegwerfen
von Abfallpapier, das Spucken auf den Boden und ähnliches
wurde ins Leben gerufen, und ein Wärter wurde zum ständigen
Dienst in den Waschräumen bestellt. »Auf diese Weise wurden
viele der Beschwerden uminterpretiert und zum Anlaß
genommen, Verbesserungen durchzuführen«29.
Ein anderes Beispiel: ein Arbeiter B trifft die allgemeine
Feststellung, daß die Stücktarife für seine Arbeit zu niedrig
sind. Das Interview ergibt, daß »seine Frau im Krankenhaus
liegt und er sich Sorgen macht wegen der Arztrechnungen, die
auf ihn zukommen. In diesem Fall besteht der latente Inhalt der
Beschwerde in der Tatsache, daß B‘s gegenwärtiger Verdienst
infolge der Krankheit seiner Frau nicht zureicht, seinen
laufenden finanziellen Verpflichtungen nachzukommen«30.
Eine solche Übersetzung ändert den Sinn des tatsächlichen
Satzes in bedeutsamer Weise. Die unübersetzte Feststellung
formuliert einen allgemeinen Umstand in seiner Allgemeinheit
29 Ibid., S. 256.
30 Ibid., S. 267.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
(»die Löhne sind zu niedrig«). Sie geht über die besonderen
Zustände in der besonderen Fabrik und über die besondere
Lage des Arbeiters hinaus. In dieser Allgemeinheit, und nur in
dieser Allgemeinheit, drückt die Feststellung eine weittragende
Anklage aus, die den besonderen Fall als die Manifestation
eines allgemeinen Zustands ansieht und zu verstehen gibt,
daß dieser nicht dadurch geändert werden kann, daß in jenem
Abhilfe geschaffen wird.
So stellte die unübersetzte Aussage eine konkrete Beziehung
zwischen dem besonderen Fall und dem Ganzen her, dessen
Fall er ist – und dieses Ganze schließt die Verhältnisse
außerhalb der jeweiligen Arbeit, der jeweiligen Fabrik, der
jeweiligen persönlichen Lage ein. Dieses Ganze wird in der
Übersetzung beseitigt, und eben diese Operation macht
die Heilung möglich. Der Arbeiter mag sich dessen nicht
bewußt sein, für ihn mag seine Beschwerde in der Tat jenen
partikularen und persönlichen Sinn haben, den die Übersetzung
als ihren »latenten Inhalt« herausfindet. Aber dann setzt die
von ihm benutzte Sprache ihre objektive Gültigkeit gegen
sein Bewußtsein durch – sie drückt Verhältnisse aus, die sind,
obgleich nicht »für ihn«. Die von der Übersetzung erreichte
Konkretheit des besonderen Falles ist das Ergebnis einer Reihe
von Abstraktionen von seiner wirklichen Konkretheit, die im
allgemeinen Charakter des Falles besteht.
Die Übersetzung bezieht die allgemeine Aussage auf die
persönliche Erfahrung des Arbeiters, der sie macht, hört
aber an dem Punkt auf, wo der individuelle Arbeiter sich
als »den Arbeiter« erfahren würde und seine Beschäftigung
- 170 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
als »die Beschäftigung« der arbeitenden Klasse erschiene.
Ist es notwendig, darauf aufmerksam zu machen, daß der
operationelle Forscher bei seinen Übersetzungen bloß dem
Prozeß der Wirklichkeit folgt und wahrscheinlich sogar
den Übersetzungen des Arbeiters selbst? Die unterbrochene
Erfahrung ist nicht sein Werk, und es ist nicht seine Aufgabe,
im Sinne einer kritischen Theorie zu denken, sondern Aufseher
»in menschlicheren und wirksameren Methoden« zu schulen,
»mit ihren Arbeitern umzugehen«31 (nur der Ausdruck
»menschlich« scheint nichtoperationell und einer Analyse
bedürftig).
Da aber diese managerhafte Denk- und Forschungsweise
sich auf andere Dimensionen geistigen Bemühens ausbreitet,
werden die von ihr geleisteten Dienste immer weniger
von ihrer wissenschaftlichen Gültigkeit trennbar. In diesem
Zusammenhang hat die Funktionalisierung einen wahrhaft
therapeutischen Effekt. Ist die persönliche Unzufriedenheit
einmal vom allgemeinen Unglück isoliert, sind die allgemeinen
Begriffe, die sich ihrer Funktionalisierung widersetzen, einmal
in partikulare Merkmale aufgelöst, dann wird der Fall zu
einem heilbaren, leicht zu handhabenden Vorkommnis.
Zwar bleibt der Fall der eines Allgemeinen – kein
Denken kann ohne Universalien auskommen – aber auf eine
Weise, die von der in der unübersetzten Aussage gemeinten
sehr verschieden ist. Hat man sich erst seiner Arztrechnungen
angenommen, so wird der Arbeiter B anerkennen, daß
– allgemein gesprochen – der Lohn nicht zu niedrig ist und
3l Loc. cit., S. VIII.
- 171 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
nur in seiner individuellen Lage (die anderen individuellen
Lagen ähnlich sein kann) eine Härte bedeutete. Sein Fall
ist unter eine andere Gattung subsumiert worden – unter
die der persönlichen Härtefälle. Er ist kein »Arbeiter« oder
»Angestellter« (Angehöriger einer Klasse) mehr, sondern der
Arbeiter oder Angestellte B im Hawthornewerk der Western
Electric Company.
Die Verfasser von Management and the Worker waren
sich dieser Implikation durchaus bewußt. Sie sagen, daß
eine der grundlegenden Funktionen, die in einer industriellen
Organisation ausgeübt werden muß, »die spezifische Funktion
der Personalarbeit« ist, und diese Funktion erfordert,
daß man bei der Behandlung von Beziehungen zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern »an das denken muß, was
sich ein besonderer Arbeitnehmer vorstellt, als ein Arbeiter,
der eine besondere persönliche Geschichte gehabt hat, oder
als ein Angestellter, der einen besonderen Arbeitsplatz in
der Fabrik einnimmt, der ihn mit besonderen Personen und
Personengruppen in Verbindung bringt...« Demgegenüber
weisen die Verfasser eine Haltung als mit der »spezifischen
Funktion der Personalarbeit« unverträglich zurück, die sich
an den »durchschnittlichen« oder »typischen« Arbeitnehmer
oder an das richtet, »was sich der Arbeiter im allgemeinen
vorstellt«32.
Wir können diese Beispiele zusammenfassen, indem wir
den ursprünglichen Aussagen die funktionale Form ihrer
Übersetzung gegenüberstellen. Wir nehmen die Aussagen in
32 Ibid., S. 591.
- 172 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
beiden Formen für bare Münze und lassen das Problem ihrer
Verifikation beiseite.
1) »Der Lohn ist zu niedrig«. Das Subjekt des Satzes
ist »Lohn«, nicht die besondere Vergütung eines mit einer
besonderen Tätigkeit befaßten besonderen Arbeiters. Es
könnte sein, daß der Mann, der diese Aussage macht, nur an
seine individuelle Erfahrung denkt, in der Form aber, in der
er seine Aussage vorbringt, geht er über diese individuelle
Erfahrung hinaus. Das Prädikat »zu niedrig« ist ein
relationales Adjektiv, das einen Bezug erfordert, der in
dem Satz nicht genannt ist — zu niedrig für wen oder wofür?
Dieser Bezug könnte wiederum das Individuum sein,
das die Aussage macht, oder seine Arbeitskollegen, aber das
allgemeine Substantiv (Lohn) trägt die ganze, durch den Satz
ausgedrückte Denkbewegung und läßt die anderen Satzteile
an diesem allgemeinen Charakter teilhaben. Der Bezug bleibt
unbestimmt – »zu niedrig im allgemeinen« oder »zu niedrig
für jeden, der, wie der Sprecher, ein Lohnempfänger ist«. Der
Satz ist abstrakt. Er bezieht sich auf umfassende Verhältnisse,
die durch keinen besonderen Fall ersetzbar sind; sein Sinn ist
»transitiv« gegenüber jedem individuellen Fall. Der Satz
verlangt in der Tat, daß er in einen konkreteren Zusammenhang
»übersetzt« wird, aber in einen, worin die allgemeinen Begriffe
nicht durch irgendeine besondere Reihe von Operation en (wie
die persönliche Geschichte des Arbeiters B und seine spezielle
Funktion im Werk W) bestimmt werden können. Der Begriff
»Lohn« bezieht sich auf die Gruppe »Lohnempfänger« und
integriert alle persönlichen Geschichten und speziellen Arbeiten
zu einem Konkret-Allgemeinen.
- 173 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
2) »Infolge der Krankheit seiner Frau sind die
augenblicklichen Einkünfte von B unzureichend, um seinen
laufenden Verpflichtungen nachzukommen«. Man beachte,
daß in dieser Übersetzung von (I) das Subjektiv verlagert
worden ist. Der allgemeine Begriff »Lohn« wird durch die
»augenblicklichen Einkünfte von B« ersetzt, ein Ausdruck, dessen
Sinn durch die besondere Reihe von Operationen voll bestimmt
wird, die B auszuführen hat, um für seine Familie Lebensmittel,
Kleidung, Wohnung, Medikamente usw. zu besorgen. Der
»transitive« Charakter des Sinns ist abgeschafft; die Einstufung
»Lohnempfänger« ist mit dem Subjekt »Lohn« verschwunden,
und was übrig bleibt, ist ein besonderer Fall, der, seines transitiven
Sinnes beraubt, den akzeptierten Behandlungsmaßstäben der
Company zugänglich wird, deren Fall er ist.
Was ist daran falsch? Nichts. Die Übersetzung der Begriffe und
des Satzes als eines Ganzen wird durch die Gesellschaft bestätigt,
an die der Forscher sich wendet. Die Therapie wirkt, weil
das Werk oder die Regierung es sich leisten kann, zumindest
einen beträchtlichen Teil der Kosten zu tragen, weil sie bereit
sind, es zu tun, und weil der Patient gewillt ist, sich in einer
Erfolg versprechenden Weise behandeln zu lassen. Die vagen,
unbestimmten, allgemeinen Begriffe, die in der unübersetzten
Beschwerde auftraten, waren in der Tat Überbleibsel der
Vergangenheit; ihr Fortbestehen im Sprechen und Denken war
in der Tat ein (wenn auch geringfügiges) Hemmnis für Verständnis
und Zusammenarbeit. Soweit operationelle Soziologie und
Psychologie dazu beigetragen haben, unmenschliche Verhältnisse
zu mildern, gehören sie zum geistigen wie materiellen Fortschritt.
Aber sie zeugen auch von der ambivalenten Rationalität des
- 174 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Fortschritts, der in seiner repressiven Macht zufrieden stellt und
in den Befriedigungen, die er gewährt, repressiv ist.
Die Beseitigung des transitiven Sinnes ist ein Zug der em-
pirischen Soziologie geblieben. Sie charakterisiert sogar eine
große Anzahl von Studien, die nicht dazu bestimmt sind, eine
therapeutische Funktion in irgendeinem partikularen Interesse zu
erfüllen. Das Ergebnis: ist einmal das »unrealistische« Mehr
an Sinn abgeschafft, dann ist die Untersuchung in die umfas-
senden Grenzen eingeschlossen, innerhalb derer die bestehende
Gesellschaft Sätze bestätigt oder für ungültig erklärt. Aufgrund
seiner Methodologie ist dieser Empirismus ideologisch. Um sei-
nen ideologischen Charakter zu verdeutlichen, wollen wir eine
Studie über die politische Aktivität in den Vereinigten Staaten
betrachten.
In ihrem Aufsatz »Konkurrenzdruck und demokratische
Zustimmung« wollen Morris Janowitz und Dwaine Marvick
»das Maß abschätzen, in dem eine Wahl tatsächlich Ausdruck
des demokratischen Prozesses ist«. Eine solche Bewertung
schließt ein, daß der Wahlvorgang »im Hinblick auf die
Erfordernisse, eine demokratische Gesellschaft aufrechtzu-
erhalten«, beurteilt wird, und dies wiederum erfordert eine
Definition von »demokratisch«. Die Verfasser stellen zwei
alternative Definitionen zur Auswahl, die »Mandats«theorie
und die »Konkurrenz«theorie der Demokratie: »Die
>Mandats<theorien, die ihren Ursprung in den klassischen
Konzeptionen der Demokratie haben, fordern, daß der
Prozeß der Repräsentation aus einer klar umrissenen Anzahl
von Direktiven hervorgeht, die die Wählerschaft ihren
Vertretern auferlegt. Eine Wahl ist eine bequeme Arbeitsweise
- 175 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
und Methode, sicherzustellen, daß die Vertreter den von den
Wählern stammenden Direktiven Genüge tun33.«
Nun wurde diese »vorgefaßte Meinung von vornherein als
unrealistisch abgelehnt, weil sie ein Niveau von artikulierter
Meinung und Ideologie hinsichtlich der den Wahlkampf
betreffenden Tatbestände voraussetzt, das in den Vereinigten
Staaten höchstwahrscheinlich nicht zu finden ist«. Diese
recht offene Feststellung der Tatsachen wird zwar durch
den tröstenden Zweifel gemildert, ob denn »ein derartiges
Niveau artikulierter Meinung in irgendeiner demokratischen
Wählerschaft seit der Erweiterung des Stimmrechts im
neunzehnten Jahrhundert bestanden« habe. Auf jeden Fall
akzeptieren die Verfasser statt der abgelehnten vorgefaßten
Meinung die »Konkurrenz«theorie der Demokratie,
derzufolge eine demokratische Wahl ein Prozeß ist, »in
dem Kandidaten gewählt und abgelehnt werden«, die »um ein
öffentliches Amt konkurrieren«. Um wirklich operationell zu
sein, erfordert diese Definition »Kriterien«, aufgrund deren der
Charakter politischer Konkurrenz zu veranschlagen ist. Wann
bringt politische Konkurrenz einen »Prozeß der Zustimmung«
und wann einen »Prozeß der Manipulation« hervor? Angeboten
werden drei Kriterien:
1)
Eine demokratische Wahl erfordert eine Konkurrenz zwischen
entgegengesetzten Kandidaten, die den gesamten Wahlbezirk
33 H. Eulau, S. J. Eldersveld, M. Janowitz (Herausgeber), Political Behavior (Glencoe
Free Press, 1956), S. 275.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
durchherrscht. Die Wählerschaft gewinnt Macht aus ihrer
Fähigkeit, zwischen wenigstens zwei konkurrierenden Kandi-
daten eine Wahl zu treffen, von denen einem eine vernünftige
Gewinnchance zugesprochen wird.
2)
Eine demokratische Wahl erfordert, daß beide [!] Parteien
gleichermaßen bemüht sind, sich etablierte Wahlbezirke zu
erhalten, unabhängige Wähler sowie Überläufer von den
Oppositionsparteien zu gewinnen.
3)
Eine demokratische Wahl erfordert, daß beide [!] Parteien
energisch darauf aus sind, die laufende Wahl zu gewinnen;
aber, ob sie nun gewinnen oder verlieren, beide Parteien
müssen ebenso bestrebt sein, ihre Erfolgschancen in den
nächsten und folgenden Wahlen zu erhöhen ...34
Ich glaube, diese Definitionen beschreiben ziemlich genau
die tatsächliche Lage der Dinge bei der amerikanischen Wahl
von 1952, die Gegenstand der Analyse ist. Mit anderen Worten,
die Kriterien zur Beurteilung eines gegebenen Zustands sind die
vom gegebenen Zustand angebotenen (oder, da sie die eines
wohlfunktionierenden und fest etablierten Gesellschaftssystems
sind, die durchgesetzten) Kriterien. Die Analyse ist »abgeriegelt«;
die Reichweite des Urteils ist auf einen Zusammenhang von
Tatsachen begrenzt, der ausschließt, daß der Zusammenhang
beurteilt wird, in dem Tatsachen gemacht, von Menschen gemacht,
34 Ibid., S. 276.
- 177 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
und nach Bedeutung, Funktion und Entwicklung bestimmt
werden.
Aufgrund dieses Bezugsrahmens bewegt sich die
Untersuchung im Kreise und bestätigt sich selbst. Wenn
»demokratisch« in den beschränkenden, aber realistischen
Begriffen des tatsächlichen Wahlvorgangs definiert wird, dann
ist dieser Vorgang demokratisch, was immer die Untersuchung
ergeben mag. Zwar gestattet der operationelle Bezugsrahmen
noch die Unterscheidung zwischen Zustimmung und
Manipulation (er verlangt sie sogar); die Wahl kann mehr
oder weniger demokratisch sein, je nach dem ermittelten Grad
von Zustimmung und Manipulation. Die Verfasser kommen
zu dem Schluß, daß die Wahl von 1952 »in höherem Maße
durch einen Prozeß genuiner Zustimmung charakterisiert
war als impressionistische Schätzungen hätten unterstellen
können«35 – obgleich es ein »schwerwiegender Irrtum«
wäre, die »Schranken« der Zustimmung zu übersehen und
zu leugnen, daß »manipulativer Druck vorlag«36. Über
diese kaum erhellende Feststellung kann die Operationelle
Analyse nicht hinausgehen. Mit anderen Worten, sie kann die
entscheidende Frage nicht aufwerfen, ob nicht die Zustimmung
selbst das Werk von Manipulation war – eine Frage, die
durch den tatsächlichen Zustand der Dinge in hohem Maße
gerechtfertigt ist. Die Analyse kann sie nicht aufwerfen,
weil das ihre Begriffe in Richtung auf einen transitiven Sinn
überschritte – in Richtung auf einen Begriff von Demokratie,
35 Ibid., S. 284.
36 Ibid., S. 285.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
der die demokratische Wahl als einen ziemlich beschränkten
»demokratischen Prozeß« erwiese.
Ein solcher nichtoperationeller Begriff ist gerade der, den
die Autoren als »unrealistisch« ablehnen, weil er Demokratie
auf einem allzu artikulierten Niveau als die festumrissene
Kontrolle der Repräsentanz durch die Wählerschaft
definiert – Kontrolle durch das Volk als Kennzeichen der
Volkssouveränität. Und dieser nichtoperationelle Begriff
kommt keineswegs von außen. Er ist keineswegs der
Einbildung oder Spekulation verdankt, sondern bestimmt
vielmehr die geschichtliche Intention der Demokratie, die
Verhältnisse, für die der Kampf um Demokratie ausgefochten
wurde und die immer noch herzustellen sind.
Außerdem ist dieser Begriff in seiner semantischen
Exaktheit unfehlbar, weil er genau das meint, was er sagt — daß
es nämlich wirklich die Wählerschaft ist, die den Vertretern ihre
Direktiven erteilt und daß nicht die Vertreter ihre Direktiven
einer Wählerschaft erteilen, die dann die Vertreter wählt und
wiederwählt. Eine autonome Wählerschaft, die frei ist, weil sie
von »Schulung« und Manipulation frei ist, befände sich in der
Tat auf einem »Niveau artikulierter Meinung und Ideologie«,
von dem unwahrscheinlich ist, daß es angetroffen wird. Deshalb
muß der Begriff als »unrealistisch« abgelehnt werden – und
zwar dann, wenn man das tatsächlich vorherrschende Niveau
von Meinung und Ideologie als dasjenige gelten läßt, was der
soziologischen Analyse gültige Kriterien vorschreibt. Und
wenn »Schulung« und Manipulation die Stufe erreicht haben,
auf der das herrschende Meinungsniveau ein Niveau der
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Unwahrheit geworden ist und der tatsächliche Zustand nicht
mehr als das erkannt wird, was er ist, dann bindet sich
eine Analyse, die methodologisch verpflichtet ist, transitive
Begriffe abzulehnen, an ein falsches Bewußtsein. Gerade ihr
Empirimus ist ideologisch.
Die Verfasser sind sich des Problems durchaus bewußt.
»Ideologische Strenge« stellt eine »ernst zu nehmende
Implikation« beim Einschätzen einer demokratischen
Zustimmung dar. Allerdings, aber wem wird zugestimmt?
Natürlich den politischen Kandidaten und ihrer Politik. Aber
das genügt nicht; denn dann wäre auch die Zustimmung zu
einem faschistischen Regime (und man kann durchaus von einer
genuinen Zustimmung zu einem solchen Regime sprechen)
ein »demokratischer Prozeß«. Mithin muß die Zustimmung
selbst eingeschätzt werden — hinsichtlich ihres Inhalts, ihrer
Zielsetzungen, ihrer »Werte« – und dieser Schritt scheint den
transitiven Charakter des Sinnes einzuschließen. Ein solcher
»unwissenschaftlicher« Schritt läßt sich jedoch vermeiden,
wenn die einzuschätzende ideologische Orientierung keine
andere als die der bestehenden und »effektiv« miteinander
konkurrierenden beiden Parteien ist, zu der die »ambivalent-
neutralisierte« Orientierung der Wähler hinzutritt37.
Die Tabelle, auf der die Ergebnisse der Abstimmung
hinsichtlich der ideologischen Orientierung verzeichnet sind,
zeigt drei Grade der Verbundenheit mit den Republikanischen
und Demokratischen Parteiideologien sowie die »ambivalenten
und neutralisierten« Meinungen38. Die bestehenden Parteien
37 Ibid., S. 280.
38 Ibid., S. 138 ff.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
selbst, ihre politischen Praktiken und Machinationen werden
nicht in Frage gestellt, ebensowenig wie ihr tatsächlicher
Unterschied hinsichtlich höchst wichtiger Tatbestände
(solche der Atompolitik und der totalen Kriegsbereitschaft),
Fragen, die für die Einschätzung der Demokratie wesentlich
scheinen, sofern die Analyse nicht mit einem Begriff von
Demokratie operiert, der bloß die Züge der etablierten
Form von Demokratie zusammenstellt. Solch ein
operationeller Begriff ist dem Gegenstand der Untersuchung
nicht gänzlich unangemessen. Er verweist klar genug auf die
Qualitäten, die in der gegenwärtigen Periode demokratische
und nichtdemokratische Systeme voneinander unterscheiden
(zum Beispiel wirksame Konkurrenz zwischen Kandidaten, die
verschiedene Parteien vertreten; Freiheit der Wählerschaft,
sich zwischen diesen Kandidaten zu entscheiden), aber
diese Angemessenheit reicht nicht aus, wenn die Aufgabe
der theoretischen Analyse mehr und etwas anderes als eine
deskriptive sein soll – wenn sie darin besteht, die Tatsachen
zu begreifen, zu erkennen als das, was sie sind, was sie für
diejenigen bedeuten, denen man sie als Tatsachen gegeben hat
und die mit ihnen leben müssen. In der Gesellschaftstheorie
ist die Anerkennung der Tatsachen die Kritik der Tatsachen.
Dabei genügen die operationellen Begriffe nicht einmal zur
Beschreibung der Tatsachen. Sie erreichen gewisse Aspekte und
Segmente der Tatsachen, die, wenn sie fürs Ganze gehalten
werden, die Beschreibung ihres objektiven, empirischen
Charakters berauben. Als Beispiel hierfür wollen wir den
Begriff der »politischen Aktivität« in der Studie von Julian
L. Woodward und Elmo Roper über »Die politische Aktivität
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
amerikanischer Bürger« betrachten39. Die Verfasser liefern
eine »Operationelle Définition des Ausdrucks politische
Aktivität«, die aus »fünf Verhaltensweisen« besteht: 1)
Wahlbeteiligung; 2) Unterstützung möglicher »pressure
groups«. . . 3) persönliche, direkte Kontaktaufnähme mit
Gesetzgebern; 4) Teilnahme an parteipolitischer Tätigkeit...
5) Gewohnheitsmäßiges Verbreiten politischer Meinungen im
Gespräch ...
Sicherlich handelt es sich hierbei um »Kanäle möglichen
Einflusses auf Gesetzgeber und Regierungsbeamte«, aber kann
ihre Messung wirklich »eine Methode« liefern, »diejenigen
Leute, die in politischen Fragen der Nation verhältnismäßig
aktiv sind, von denen zu unterscheiden, die verhältnismäßig
inaktiv sind«? Sind hierin solche entscheidenden Tätigkeiten
»in den Fragen der Nation« wie die technischen und
ökonomischen Kontakte zwischen Konzernleitungen und
Regierung und zwischen den führenden Konzernen selbst
enthalten? Sind die Formulierung und Verbreitung von
»unpolitischer« Meinung, Information und Unterhaltung
seitens der großen Reklamemedien hierin enthalten?
Trägt man dem sehr verschiedenen politischen Gewicht der
verschiedenen Organisationen Rechnung, die zu öffentlichen
Gegenständen Stellung nehmen?
Wenn die Antwort negativ ist (wie ich glaube), dann
werden die Tatsachen der politischen Tätigkeit nicht angemessen
beschrieben und ermittelt. Viele, und wie ich meine, die
bestimmenden, konstitutiven Tatsachen bleiben außerhalb der
39 Ibid., S. 133.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Reichweite des operationellen Begriffs. Und aufgrund dieser
Beschränkung – dieses methodologischen Verbots transitiver
Begriffe, welche die Tatsachen in ihrem wahren Licht zeigen
und bei ihrem wahren Namen nennen könnten – hemmt
die deskriptive Analyse der Tatsachen deren Erfassung und
wird zu einem Element der Ideologie, die die Tatsachen stützt.
Indem sie die bestehende gesellschaftliche Wirklichkeit als
ihre eigene Norm proklamiert, befestigt diese Soziologie in den
Individuen den »glaubenslosen Glauben« an die Wirklichkeit,
deren Opfer sie sind: »Nichts bleibt als Ideologie zurück
denn die Anerkennung des Bestehenden selber, Modelle eines
Verhaltens, das der Übermacht der Verhältnisse sich fügt«40.
Gegen diesen ideologischen Empirismus macht sich der
einfache Widerspruch erneut geltend: »Das, was ist, kann
nicht wahr sein«41.
40 Theodor W. Adorno, »Ideologie«, in: Kurt Lenk (Herausgeber) Ideologie, Neuwied
1961, S. 262, 263.
41 Ernst Bloch, Philosophische Grundfragen /, Frankfurt 1961, S. 65.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Das eindimensionale Denken
5 Negatives Denken: die besiegte Logik des Protests
»Das was ist, kann nicht wahr sein«. Für unsere
wohltrainierten Ohren und Augen ist diese Behauptung
leichtfertig und lächerlich oder so unerhört wie jene andere,
die das Gegenteil zu sagen scheint: »Was wirklich ist, das
ist vernünftig«. Und doch offenbaren beide, in der Tradition
des abendländischen Denkens gesehen, in provokatorisch
abgekürzter Form die Idee der Vernunft, von der die Logik
jener Tradition sich leiten ließ. Mehr noch, beide drücken
denselben Begriff aus, nämlich die antagonistische Struktur
der Wirklichkeit und des Denkens, das diese zu verstehen
sucht. Die Welt der unmittelbaren Erfahrung — die Welt, in
der lebend wir uns vorfinden – muß begriffen, verändert,
sogar umgestürzt werden, um zu dem zu werden, was sie
wirklich ist.
In der Gleichung Vernunft = Wahrheit = Wirklichkeit,
welche die subjektive und objektive Welt zu einer
antagonistischen Einheit verbindet, ist die Vernunft die
umstürzende Macht, die »Macht des Negativen«, die als
theoretische und praktische Vernunft die Wahrheit für die
Menschen und Dinge darlegt — das heißt die Bedingungen,
unter denen die Menschen und Dinge zu dem werden, was sie
wirklich sind. Der Versuch zu zeigen, daß diese Wahrheit von
Theorie und Praxis keine subjektive, sondern eine objektive
Beschaffenheit ist, war das ursprüngliche Interesse des
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
abendländischen Denkens und der Ursprung seiner Logik -
Logik nicht im Sinne einer Sonderdisziplin der Philosophie,
sondern als die Denkweise, die geeignet war, das Wirkliche als
vernünftig zu begreifen.
Das totalitäre Ganze technologischer Rationalität ist
die letzte Umbildung der Idee der Vernunft. In diesem und
dem folgenden Kapitel werde ich versuchen, einige der
Hauptstufen der Entwicklung dieser Idee zu bestimmen – den
Prozeß, wodurch Logik zur Logik der Herrschaft wurde.
Eine solche ideologische Analyse kann zum Verständnis der
realen Entwicklung insofern beitragen, als sie sich auf die
Vereinigung (und Trennung) von Theorie und Praxis, Denken
und Handeln im geschichtlichen Prozeß – einer Entfaltung
von theoretischer und praktischer Vernunft zugleich
– konzentriert.
Das geschlossene operationelle Universum der
fortgeschrittenen industriellen Zivilisation mit ihrer
bestürzenden Harmonie von Freiheit und Unterdrückung,
Produktivität und Zerstörung, Wachstum und Regression
ist in dieser Idee der Vernunft als eines spezifischen
geschichtlichen Entwurfs bereits vorgezeichnet. Die technischen
und die vortechnischen Stufen haben gewisse gemeinsame
Grundbegriffe von Mensch und Natur, in denen die
Kontinuität der abendländischen Tradition sich ausdrückt.
Innerhalb dieses Kontinuums stoßen verschiedene Denkweisen
aufeinander; sie gehören zu verschiedenen Weisen, Gesellschaft
und Natur zu erfassen, zu organisieren und zu verändern. Die
stabilisierenden Tendenzen widerstreiten den zerstörenden
- 185 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Elementen der Vernunft, die Macht des positiven der des
negativen Denkens, bis schließlich die Errungenschaften der
fortgeschrittenen industriellen Zivilisation zum Triumph
der eindimensionalen Wirklichkeit über allen Widerspruch
führen.
Dieser Konflikt geht bis auf die Ursprünge des philosophischen
Denkens selbst zurück und kommt im Gegensatz zwischen
Platons dialektischer Logik und der formalen Logik des
Aristotelischen Organon schlagend zum Ausdruck. Der
folgende Umriß des klassischen Modells dialektischen Denkens
mag einer Analyse der einander entgegengesetzten Züge
technologischer Rationalität den Boden bereiten.
In der klassischen griechischen Philosophie ist Vernunft
insofern das Erkenntnisvermögen, zu unterscheiden, was
wahr und was falsch ist, als Wahrheit (und Falschheit) in erster
Linie eine Beschaffenheit des Seins, der Wirklichkeit ist – und
nur aus diesem Grund eine Eigenschaft von Sätzen. Die wahre
Rede, die Logik, enthüllt und drückt aus, was wirklich ist – als
unterschieden von dem, was (wirklich) zu sein scheint. Und
vermöge dieser Gleichung von Wahrheit und (wirklichem) Sein
ist Wahrheit ein Wert; denn Sein ist besser als Nichtsein. Dieses
ist nicht einfach Nichts; es ist Potentialität und Bedrohung des
Seins – Zerstörung. Der Kampf um Wahrheit ist ein Kampf
gegen Zerstörung, für die »Rettung« (σώζειν) des Seins (ein
Bemühen, das selbst zerstörerisch scheint, wenn es die bestehende
Wirklichkeit als »unwahr« angreift: Sokrates gegenüber dem
athenischen Stadtstaat). Sofern der Kampf um Wahrheit die
Wirklichkeit vor Zerstörung »bewahrt«, verpflichtet und
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
engagiert die Wahrheit die menschliche Existenz. Sie ist der
wesentlich menschliche Entwurf. Wenn der Mensch gelernt hat,
zu sehen und zu wissen, was wirklich ist, wird er im Einklang
mit der Wahrheit handeln. Erkenntnistheorie ist an sich Ethik,
und Ethik ist Erkenntnistheorie.
Diese Konzeption spiegelt die Erfahrung einer in sich
antagonistischen Welt – einer Welt, die an Mangel und
Negativität krankt und beständig von Zerstörung bedroht
ist, aber auch eine Welt, die ein Kosmos ist, strukturiert
im Einklang mit Endursachen. In dem Maße, wie die
Erfahrung einer antagonistischen Welt die Entwicklung
der philosophischen Kategorien leitet, bewegt sich die
Philosophie in einem Universum, das in sich entzweit ist
(déchirement ontologique) – zweidimensional ist. Erscheinung
und Wirklichkeit, Unwahrheit und Wahrheit (und, wie wir
sehen werden, Unfreiheit und Freiheit) sind ontologische
Verhältnisse.
Diese Unterscheidung gründet nicht im abstrakten
Denken, nicht in dessen Fehlbarkeit; sie ist vielmehr in der
Erfahrung des Universums verwurzelt, an dem das Denken
in Theorie und Praxis teil hat. In diesem Universum gibt es
Seinsweisen, in denen die Menschen und Dinge »durch sich«
und als »sie selbst« sind, und andere, in denen sie es nicht sind
– das heißt unter Verzerrung, Beschränkung oder Verneinung
ihrer Natur (ihres Wesens) existieren. Die Überwindung dieser
negativen Beschaffenheiten ist der Prozeß des Seins und des
Denkens. Philosophie hat ihren Ursprung in der Dialektik;
- 187 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
das Ganze, worin ihre Rede sich bewegt, antwortet auf die
Tatsachen einer antagonistischen Wirklichkeit.
Was sind die Kriterien für diese Unterscheidung? Auf
welcher Grundlage wird der Status der »Wahrheit« eher
der einen Weise oder Beschaffenheit zugesprochen denn der
anderen? Die klassische griechische Philosophie vertraut in
hohem Maße dem, was später (in einem ziemlich abschätzigen
Sinne) »Intuition« genannt wurde, das heißt einer
Erkenntnisform, unter der das Objekt des Denkens klar
als das erscheint, was es wirklich (in seinen wesentlichen
Qualitäten) ist und das in antagonistischer Beziehung zu
seinem kontingenten unmittelbaren Zustand steht. Freilich
ist dieser Aufweis aus Intuition vom Cartesianischen nicht
allzu verschieden. Sie ist kein geheimnisvolles Vermögen des
Geistes, keine eigenartige unmittelbare Erfahrung, noch ist
sie von der begrifflichen Analyse abgespalten. Intuition ist
vielmehr der (vorläufige) Endpunkt einer solchen Analyse
– das Ergebnis methodischer geistiger Vermittlung. Als solche
ist sie die Vermittlung konkreter Erfahrung.
Der Begriff des Wesens des Menschen mag das erläutern.
Analysiert man den Menschen in der Lage, in der er sich
in seinem Universum befindet, so scheint er bestimmte
Vermögen und Kräfte zu besitzen, die ihn befähigen würden,
ein »gutes Leben« zu führen, das heißt ein Leben, das so
weit als möglich frei ist von harter Arbeit, Abhängigkeit und
Häßlichkeit. Ein solches Leben erreichen, heißt das »beste
Leben« erreichen: dem Wesen der Natur oder des Menschen
gemäß leben.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Freilich ist dies noch das Diktum des Philosophen; er ist
es, der die menschliche Situation analysiert. Er unterwirft
die Erfahrung seinem kritischen Urteil, und dieses enthält
ein Werturteil: daß Freiheit von harter Arbeit harter Arbeit
vorzuziehen ist und ein intelligentes Leben einem dummen.
So wurde die Philosophie mit diesen Werten geboren. Das
wissenschaftliche Denken mußte diese Einheit von Werturteil
und Analyse zerbrechen; denn es wurde immer klarer, daß
die philosophischen Werte weder für die Organisation
der Gesellschaft noch für die Umgestaltung der Natur
richtungweisend waren. Sie waren unwirksam, unwirklich.
Bereits die griechische Konzeption enthält das geschichtliche
Element – das Wesen des Menschen ist anders im Sklaven
als im freien Bürger, anders im Griechen als im Barbaren.
Die Zivilisation hat die ontologische Stabilisierung dieses
Unterschieds (zumindest in der Theorie) überwunden.
Aber diese Entwicklung stößt die Unterscheidung zwischen
wesentlicher und kontingenter Natur, zwischen wahren und
falschen Daseinsweisen noch nicht um — vorausgesetzt
nur, daß die Unterscheidung aus einer logischen Analyse der
empirischen Situation hervorgeht und deren Potential wie
Kontingenz versteht.
Für den Platon der späteren Dialoge und für Aristoteles
sind die Seinsweisen Weisen der Bewegung – Übergang von
Potentialität in Aktualität, Verwirklichung. Endliches Sein ist
unvollkommene Verwirklichung, dem Wandel unterworfen.
Sein Entstehen ist Verfall; es ist von Negativität
durchdrungen. Daher ist es keine wahre Wirklichkeit – keine
Wahrheit. Das philosophische Forschen schreitet von der
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
endlichen Welt fort zur Konstruktion einer Wirklichkeit, die
der schmerzhaften Differenz von Potentialität und Aktualität
nicht unterworfen ist, ihre Negativität bezwungen hat und
vollkommen und unabhängig in sich ist – frei.
Diese Entdeckung ist das Werk von Logos und Eros. Diese
beiden Schlüsselbegriffe bezeichnen zwei Weisen der Negation;
die erotische wie die logische Erkenntnis durchbrechen die
Gewalt der bestehenden, kontingenten Wirklichkeit und
streben nach einer mit ihr unvereinbaren Wahrheit. Logos und
Eros sind subjektiv und objektiv zugleich. Der Aufstieg von
den »niederen« zu den »höheren« Formen der Wirklichkeit
ist ebenso Bewegung der Materie wie des Geistes. Nach
Aristoteles zieht die vollkommene Wirklichkeit, Gott, die
Welt unten ώς έοώµενον an; er ist die Endursache allen
Seins. Logos und Eros sind in sich die Einheit des Positiven
und Negativen, Schöpfung und Zerstörung. In der Strenge des
Denkens und in der Narrheit der Liebe liegt die zerstörische
Absage an die bestehenden Lebensformen. Die Wahrheit
gestaltet die Weisen des Denkens und Daseins um. Vernunft
und Freiheit konvergieren.
Diese Dynamik hat jedoch insofern ihre immanenten
Schranken, als der antagonistische Charakter der Wirklichkeit,
ihr Auseinanderbrechen in wahre und unwahre Daseinsweisen,
ein unwandelbarer ontologischer Sachverhalt zu sein scheint.
Es gibt Daseinsweisen, die niemals »wahr« sein können, weil
sie niemals in der Verwirklichung ihrer Potentialitäten, in
der Seligkeit des Seins zur Ruhe gelangen können. In der
menschlichen Wirklichkeit ist damit alle Existenz, die sich darin
- 190 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
erschöpft, die Vorbedingungen des Daseins herbeizuschaffen,
ein »unwahres« und unfreies Dasein. Offenkundig reflektiert
dies den keineswegs ontologischen Sachverhalt einer
Gesellschaft, die auf der Behauptung beruht, daß Freiheit
mit der Tätigkeit, das Lebensnotwendige herbeizuschaffen,
unverträglich ist, daß diese Tätigkeit die »natürliche«
Funktion einer besonderen Klasse ist und daß Erkenntnis
der Wahrheit und wahres Dasein die Freiheit von der
gesamten Dimension einer solchen Tätigkeit einschließen.
Das ist allerdings die vor- und antitechnische Konstellation
par excellence.
Die wirkliche Trennungslinie zwischen vortechnischer und
technischer Rationalität ist indessen nicht die zwischen einer
auf Unfreiheit und einer auf Freiheit beruhenden Gesellschaft.
Die Gesellschaft ist immer noch derart organisiert, daß das
Herbeischaffen des Lebensnotwendigen die gesamte Zeit
und lebenslängliche Beschäftigung besonderer sozialer
Klassen ausmacht, die infolgedessen unfrei und an einem
menschlichen Dasein gehindert sind. In diesem Sinne gilt die
klassische Behauptung, nach der Wahrheit mit Versklavung
an gesellschaftlich notwendige Arbeit unvereinbar ist, noch
immer.
Das klassische Konzept schließt die Behauptung ein,
daß Denk- und Redefreiheit ein Klassenvorrecht bleiben
müssen, solange diese Versklavung herrscht. Denn Denken
und Sprache sind die eines denkenden und sprechenden
Subjekts, und wenn dessen Leben vom Verrichten einer
auferlegten Funktion abhängt, hängt es davon ab, daß
- 191 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
es den Erfordernissen dieser Funktion nachkommt – und
damit von denen, die diese Erfordernisse kontrollieren. Die
Demarkationslinie zwischen dem vortechnischen und dem
technischen Entwurf besteht vielmehr in der Art, wie die
Unterordnung unter die Lebensnotwendigkeiten – die,
»seinen Lebensunterhalt zu verdienen« — organisiert ist sowie
in den neuen Weisen von Freiheit und Unfreiheit, Wahrheit
und Falschheit, die dieser Organisation entsprechen.
Wer ist nach der klassischen Konzeption das Subjekt, das die
ontologische Beschaffenheit von Wahrheit und Unwahrheit
begreift? Es ist der Herr der reinen Kontemplation (theoria)
und der Herr einer von Theorie geleiteten Praxis, das heißt
der Philosoph als Staatsmann. Zwar ist die Wahrheit, die
er kennt und auslegt, potentiell jedermann zugänglich. Vom
Philosophen geführt, ist der Sklave in Platons Menon imstande,
die Wahrheit eines geometrischen Axioms zu erfassen, das
heißt eine Wahrheit jenseits von Wandel und Verfall. Aber da
Wahrheit ebenso ein Zustand des Seins wie des Denkens ist und
sich in diesem jenes ausdrückt und manifestiert, bleibt der
Zugang zur Wahrheit bloße Potentialität, solange der Mensch
nicht in und mit der Wahrheit lebt. Diese Daseinsweise aber
ist dem Sklaven verschlossen — und jedem, der sein Leben
damit zubringen muß, für das Lebensnotwendige zu sorgen.
Deshalb wäre Wahrheit und ein wahres menschliches Dasein
in einem strengen und realen Sinne allgemein, wenn die
Menschen ihr Leben nicht mehr im Reich der Notwendigkeit
zuzubringen hätten. Philosophie faßt die Gleichheit der
Menschen ins Auge, unterwirft sich aber zur selben Zeit
der faktischen Verweigerung der Gleichheit; denn in der
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
gegebenen Wirklichkeit ist das Besorgen des Notwendigen
die lebenslängliche Beschäftigung der Mehrheit, und das
Notwendige muß besorgt und befriedigt werden, damit
Wahrheit (die Freiheit von materiellen Notwendigkeiten
ist) sein kann.
Hier hemmt und verzerrt die historische Schranke das
Suchen nach Wahrheit; die gesellschaftliche Arbeitsteilung
erlangt die Würde einer ontologischen Beschaffenheit. Wenn
Wahrheit Freiheit von harter Arbeit voraussetzt und wenn
diese Freiheit in der gesellschaftlichen Realität das Vorrecht
einer Minderheit ist, dann gestattet die Realität eine solche
Wahrheit nur annähernd und nur einer privilegierten Gruppe.
Dieser Zustand widerspricht dem allgemeinen Charakter der
Wahrheit, die nicht nur ein theoretisches Ziel festlegt und
»vorschreibt«, sondern das beste Leben des Menschen qua
Mensch, im Hinblick auf das Wesen des Menschen. Für
die Philosophie ist der Widerspruch unlösbar oder erscheint
deshalb nicht als Widerspruch, weil diese Philosophie über
die Struktur der Sklaven- oder Leibeigenengesellschaft
nicht hinausgeht. Damit läßt sie die Geschichte hinter sich,
unbeherrscht, und erhebt die Wahrheit unversehrt über die
geschichtliche Wirklichkeit. Dort bleibt die Wahrheit intakt,
nicht als Leistung des Himmels oder im Himmel, sondern als
Leistung des Denkens — intakt, weil sie ihrem ganzen Begriff
nach die Einsicht ausdrückt, daß jene, die ihr Leben dem
Broterwerb hingeben, außerstande sind, ein menschliches
Dasein zu führen.
- 193 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Der ontologische Begriff der Wahrheit steht im Zentrum
einer Logik, die als ein Modell für vortechnische Rationalität
dienen kann. Es ist die Rationalität eines zweidimensionalen
Universums der Sprache, das im Gegensatz zu den
eindimensionalen Denk- und Verhaltensweisen steht, die sich
mit der Ausgestaltung des technischen Entwurfs entwickeln.
Aristoteles gebraucht den Terminus »apophantischer
Logos«, um einen besonderen Typ von Logos (Sprache,
Mitteilung) hervorzuheben – den, der Wahrheit und Falschheit
aufdeckt und in seiner Entwicklung durch den Unterschied
zwischen Wahrheit und Falschheit bestimmt wird (De
Interpretatione, 16b-17a). Er ist die Logik des Urteils, aber
im emphatischen Sinne eines (richterlichen) Rechtsspruchs:
p wird S zugesprochen, weil und sofern es zu S gehört, als
eine Eigenschaft von S; oder p wird S abgesprochen, weil und
sofern es nicht zu S gehört; usw. Von dieser ontologischen Basis
schreitet die Aristotelische Philosophie fort zur Begründung
der »reinen Formen« aller möglichen wahren (und falschen)
Aussagen; sie wird die formale Logik der Urteile.
Als Husserl die Idee einer Aussagenlogik wiederbelebte,
betonte er ihre ursprünglich kritische Intention. Und er sah
diese eben in der Idee einer Logik der Urteile — das heißt in
der Tatsache, daß das Denken es nicht direkt mit dem Seienden
selbst, sondern vielmehr mit »Prätentionen«1, mit Aussagen
über das Seiende zu tun hat.
Husserl sieht in dieser Orientierung an Urteilen eine
Beschränkung und ein Vorurteil hinsichtlich der Aufgabe und
Reichweite der Logik.
1 Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Halle 1929, bes. S. 42 f. und 115 f.
- 194 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Die klassische Idee der Logik zeigt allerdings ein
ontologisches Vorurteil – die Struktur des Urteils (des Satzes)
bezieht sich auf eine gespaltene Wirklichkeit. Die Rede bewegt
sich zwischen der Erfahrung von Sein und Nichtsein, Wesen
und Tatsache, Entstehen und Vergehen, Potentialität und
Aktualität. Das Aristotelische Organon abstrahiert von dieser
Einheit von Gegensätzen die allgemeinen Satzformen und ihre
(richtigen oder unrichtigen) Verbindungen; dennoch bleiben
entscheidende Teile dieser formalen Logik der Aristotelischen
Metaphysik verpflichtet2.
Vor dieser Formalisierung fand die Erfahrung der
gespaltenen Welt ihre Logik in der Platonischen Dialektik.
Hier werden die Begriffe »Sein«, »Nichtsein«, »Bewegung«,
»das Eine und das Viele«, »Identität« und »Widerspruch«
methodisch offengehalten, bleiben zweideutig und werden
nicht völlig definiert. Sie haben einen offenen Horizont,
ein ganzes Universum von Bedeutung, das sich im Prozeß
der Kommunikation selbst allmählich strukturiert, das aber
nie geschlossen wird. Die Sätze werden in einem Dialog
vorgetragen, entwickelt und untersucht, in dem der Partner dazu
gebracht wird, das normalerweise unbefragt hingenommene
Universum des Erfahrens und Sprechens in Frage zu stellen
und in eine neue Dimension der Rede einzutreten – wenn
anders er frei ist und die Rede sich an seine Freiheit wendet.
Er soll über das hinausgehen, was ihm gegeben ist – ganz wie
der Sprecher in seinem Satz über die Ausgangskonstellation der
Begriffe hinausgeht. Diese Begriffe haben viele Bedeutungen,
2 Carl Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande, Darmstadt I957, Band I, S. 135, 211. Zum
Argument gegen diese Interpretation cf. S. 152.
- 195 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
weil die Verhältnisse, auf die sie sich beziehen, viele Seiten,
Implikationen und Wirkungen haben, die nicht abgesondert
und festgelegt werden können. Ihre logische Entwicklung
entspricht dem Prozeß der Wirklichkeit oder der Sache selbst.
Die Gesetze des Denkens sind Gesetze der Wirklichkeit oder
werden vielmehr zu diesen, sobald das Denken die Wahrheit
der unmittelbaren Erfahrung als die Erscheinung einer
anderen Wahrheit versteht, welche die der wahren Formen
der Wirklichkeit ist – der Ideen. So besteht eher Widerspruch
als Entsprechung zwischen dem dialektischen Denken und der
gegebenen Wirklichkeit; das wahre Urteil beurteilt diese
Wirklichkeit nicht nach ihren eigenen Begriffen, sondern nach
Begriffen, die auf die Vernichtung jener Wirklichkeit abzielen.
Und in dieser Vernichtung gelangt die Wirklichkeit zu ihrer
eigenen Wahrheit.
In der klassischen Logik wurde das Urteil, das den
ursprünglichen Kern des dialektischen Denkens ausmachte,
in der Form des Satzes »S ist p« formalisiert. Aber diese Form
verbirgt mehr den grundlegenden dialektischen Satz, der den
negativen Charakter der empirischen Wirklichkeit feststellt,
als daß sie ihn offenbart. Im Licht ihres Wesens und ihrer
Idee beurteilt, existieren die Menschen und Dinge als etwas
anderes als was sie sind; folglich widerspricht das Denken
dem, was (gegeben) ist und setzt seine Wahrheit der der
gegebenen Wirklichkeit entgegen. Die vom Denken geschaute
Wahrheit ist die Idee. Als solche ist sie, im Sinne der gegebenen
Wirklichkeit, »bloße« Idee, »bloßes« Wesen – Potentialität.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Die wesentliche Potentialität aber ist nicht gleich den vielen
Möglichkeiten, die im gegebenen Universum von Sprache und
Handeln enthalten sind; die wesentliche Potentialität ist von
einer völlig anderen Ordnung. Ihre Verwirklichung macht die
Vernichtung der bestehenden Ordnung notwendig; denn
Denken im Einklang mit der Wahrheit ist die Verpflichtung,
im Einklang mit der Wahrheit zu existieren. (Bei Platon
sind die extremen Vorstellungen, die diese Vernichtung
veranschaulichen, der Tod als Anfang des Lebens des
Philosophen und die gewaltsame Befreiung aus der Höhle.)
So erlegt der umstürzende Charakter der Wahrheit dem
Denken eine imperativische Qualität auf. Die Logik ist um
Urteile zentriert, die als beweiskräftige Sätze Imperative sind
– die Kopula »ist« impliziert ein »Sollen«.
Dieser widerspruchsvolle, zweidimensionale Denkstil ist
die innere Form nicht nur der dialektischen Logik, sondern
aller Philosophie, die die Wirklichkeit in den Griff bekommt.
Die Sätze, welche die Wirklichkeit bestimmen, behaupten
etwas als wahr, das nicht (unmittelbar) der Fall ist; damit
widersprechen sie dem, was der Fall ist und leugnen dessen
Wahrheit. Das affirmative Urteil enthält eine Negation, die
in der Form des Satzes verschwindet (S ist p). Zum Beispiel,
»Tugend ist Erkenntnis«; »Gerechtigkeit ist derjenige Zustand,
in dem ein jeder die Funktion ausübt, für die seine Natur
am besten geeignet ist«; »das vollkommen Wirkliche ist das
vollkommen Wißbare« ; »verum est id, quod est«; »der Mensch
ist frei«; »der Staat ist die Wirklichkeit der Vernunft«.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Wenn diese Sätze wahr sein sollen, dann stellt die
Kopula »ist« ein »Sollen«, ein Desiderat fest. Sie verurteilt
Verhältnisse, unter denen Tugend keine Erkenntnis ist, unter
denen die Menschen nicht die Funktion ausüben, für die
ihre Natur sie am besten ausgestattet hat, in denen sie nicht
frei sind usw. Anders gesagt: die kategorische S-p-Form
stellt fest, daß S nicht S ist; S ist bestimmt als ein anderes
als es selbst. Die Verifikation des Satzes macht ebenso einen
faktischen wie einen gedanklichen Prozeß notwendig: S muß
zu dem werden, was es ist. Die kategorische Feststellung verkehrt
sich so in einen kategorischen Imperativ; sie stellt keine Tatsache
fest, sondern die Notwendigkeit, eine Tatsache zu schaffen. Zum
Beispiel könnte sie so lauten: der Mensch ist (in Wirklichkeit)
nicht frei, nicht ausgestattet mit unveräußerlichen Rechten usw.,
aber er sollte es sein, weil er frei ist in den Augen Gottes, seiner
Natur nach usw.3
Das dialektische Denken versteht die kritische Spannung
zwischen »ist« und »sollte sein« zunächst als einen ontologischen
Sachverhalt, der der Struktur des Seins selbst zukommt. Die
Erkenntnis dieses Seinszustandes — seine Theorie – intendiert
jedoch von Anfang an eine konkrete Praxis. Im Licht einer
3 Aber warum sagt der Satz nicht »sollte sein«, wenn er »sollte sein« meint? Warum verschwindet
die Negation in der Affirmation? Bestimmten die metaphysischen Ursprünge der Logik
vielleicht die Form des Satzes? Das vorsokratische wie das Sokratische Denken geht der
Trennung der Logik von der Ethik voraus. Wenn nur das, was wahr ist (der Logos, die
Idee) wirklich ist, dann hat die Wirklichkeit der unmittelbaren Erfahrung teil am µή όν,
an dem, was nicht ist.. Und doch ist dieses µή όν, und für die unmittelbare Erfahrung
(die für die große Mehrheit der Menschen die einzige Wirklichkeit ist) ist es die einzige
Wirklichkeit, die ist. Die zweifache Bedeutung von »ist« würde so die zweidimensionale
Struktur der einen Welt ausdrücken.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Wahrheit gesehen, die in ihnen verfälscht oder negiert erscheint,
erscheinen die gegebenen Tatsachen selbst als falsch und negativ.
Das Denken wird folglich durch die Situation seiner Objekte
dazu geführt, deren Wahrheit in den Begriffen einer anderen
Logik, eines anderen Universums der Sprache zu beurteilen.
Und diese Logik entwirft eine andere Daseinsweise: die
Verwirklichung der Wahrheit in den Worten und Taten der
Menschen. Und insofern, als dieser Entwurf den Menschen
als »gesellschaftliches Wesen« einschließt, die Polis, hat die
Denkbewegung einen politischen Inhalt. Damit ist die Sokratische
Rede insofern politische Rede, als sie den bestehenden politischen
Institutionen widerspricht. Die Suche nach der richtigen Definition,
nach dem »Begriff« der Tugend, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und
Erkenntnis wird zu einem umstürzlerischen Unternehmen; denn
der Begriff intendiert eine neue Polis.
Das Denken hat keine Macht, einen solchen Wandel
herbeizuführen, wenn es nicht in Praxis übergeht, und
gerade die Abspaltung von der materiellen Praxis, in der die
Philosophie ihren Ursprung hat, verleiht dem philosophischen
Denken seine abstrakte und ideologische Qualität. Aufgrund
dieser Abspaltung ist das kritische philosophische Denken
notwendig transzendent und abstrakt. Philosophie teilt diese
Abstraktheit mit allem genuinen Denken; denn niemand
denkt wirklich, der nicht von dem abstrahiert, was
gegeben ist, der nicht die Fakten auf die Faktoren bezieht,
die sie hervorgebracht haben, der nicht – in seinem Geiste
– die Fakten auflöst. Abstraktheit ist das innerste Leben des
Denkens, das Wahrzeichen seiner Authentizität.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Aber es gibt falsche und wahre Abstraktionen. Abstraktion
ist ein geschichtliches Ereignis in einem geschichtlichen
Kontinuum. Sie spielt sich auf geschichtlichem Boden ab,
und sie bleibt mit eben der Basis verbunden, von der sie sich
wegbewegt: das bestehende gesellschaftliche Universum. Selbst
wo die kritische Abstraktion zur Negation des bestehenden
Universums der Sprache gelangt, überlebt die Basis in der
Negation (Zerstörung) und schränkt die Möglichkeiten der
neuen Position ein.
An den klassischen Ursprüngen des philosophischen Denkens
blieben die transzendierenden Begriffe der herrschenden
Trennung von geistiger und manueller Arbeit verhaftet – der
bestehenden Sklavenhaltergesellschaft. Platons »Ideal«staat
behält die Sklaverei bei und gestaltet sie um, wobei er sie
im Einklang mit einer ewigen Wahrheit organisiert. Und in
Aristoteles weicht der Philosophenkönig (in dem Theorie
und Praxis noch verbunden waren) dem Vorrang des bios
theoretikos, der kaum eine umstürzlerische Funktion und
einen umstürzlerischen Inhalt beanspruchen kann. Jene, die
der Gewalt der unwahren Wirklichkeit ausgesetzt waren
und deshalb höchst bedürftig schienen, diese umzustürzen,
gingen die Philosophie nichts an. Sie abstrahierte von ihnen
und abstrahierte auch in der Folge von ihnen.
In diesem Sinne gehört der »Idealismus« wesentlich zum
philosophischen Denken; denn der Begriff des Vorrangs
des Denkens (Bewußtseins) spricht auch die Ohnmacht
des Denkens in einer empirischen Welt aus, die von der
Philosophie transzendiert und berichtigt wird – im Denken.
- 200 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Die Rationalität, in deren Name Philosophie ihre Urteile
aussprach, nahm jene abstrakte und allgemeine »Reinheit« an,
die sie gegen die Welt immunisierte, in der man leben mußte.
Mit Ausnahme der materialistischen »Häretiker« wurde das
philosophische Denken selten von den Heimsuchungen des
menschlichen Daseins heimgesucht.
Paradoxerweise ist es gerade die kritische Intention im
philosophischen Denken, die zur idealistischen Reinigung
führt – eine kritische Intention, die auf die empirische Welt
als Ganzes abzielt und nicht nur auf bestimmte Denk- und
Verhaltensweisen innerhalb ihrer. Indem sie ihre Begriffe
im Hinblick auf Potentialitäten bestimmt, die von einer
wesentlich anderen Ordnung des Denkens und Seins sind,
findet die philosophische Kritik sich durch die Wirklichkeit
behindert, von der sie sich ablöst, und geht dazu über, ein
Reich der Vernunft zu konstruieren, das von empirischer
Kontingenz gereinigt ist. Die beiden Dimensionen des
Denkens – die der wesentlichen und die der erscheinenden
Wahrheiten – wirken nicht mehr aufeinander ein, und ihre
konkrete dialektische Beziehung wird zu einer abstrakten
erkenntnistheoretischen oder ontologischen. An die Stelle
der über die gegebene Wirklichkeit ausgesprochenen Urteile
treten Sätze, die die allgemeinen Formen des Denkens, die
Gegenstände des Denkens und die Beziehungen zwischen dem
Denken und seinen Gegenständen bestimmen. Das Subjekt
des Denkens wird zur reinen und allgemeinen Form der
Subjektivität, aus der alle Besonderheiten entfernt sind.
- 201 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Für ein derartig formales Subjekt ist die Beziehung
zwischen όν und µή όν, Wechsel und Dauer, Potentialität
und Aktualität, Wahrheit und Falschheit keine existentielle
Beunruhigung mehr4; sie ist vielmehr eine Sache reiner
Philosophie. Der Gegensatz zwischen Platons dialektischer
und Aristoteles‘ formaler Logik ist auffällig.
Im Aristotelischen Organen ist der syllogistische »Terminus«
(horos) »so leer an substantieller Bedeutung, daß ein
Buchstabe des Alphabets einen völlig gleichwertigen Ersatz
abgibt«. Er ist so gänzlich verschieden vom »metaphysischen«
Terminus (auch horos), der das Ergebnis der Wesensdefinition
bezeichnet, die Antwort auf die Frage: »τί έστίν;« 5. Kapp
behauptet gegenüber Prantl, daß die »beiden verschiedenen
Bezeichnungen gänzlich unabhängig voneinander sind und von
Aristoteles selbst niemals vermengt wurden«. Auf jeden Fall ist
das Denken in der formalen Logik in einer Weise organisiert,
die von der des Platonischen Dialogs sehr verschieden ist.
In dieser formalen Logik ist das Denken gegenüber seinen
Gegenständen indifferent. Ob sie geistig oder körperlich
sind, ob sie die Gesellschaft oder die Natur betreffen, sie
werden denselben allgemeinen Gesetzen der Organisation,
4 Um ein Mißverständnis zu vermeiden: ich glaube nicht, daß die Frage nach
dem Sein und ähnliche Fragen von einem existentiellen Interesse sind oder sein
sollten. Was an den Ursprüngen des philosophischen Denkens bedeutsam war,
kann an seinem Ende durchaus bedeutungslos geworden sein, und der Verlust
an Bedeutung muß nicht auf denkerisches Unvermögen zurückzuführen sein.
Die Geschichte der Menschheit hat auf die »Seinsfrage« bestimmte Antworten
gegeben, und zwar in sehr konkreten Begriffen, die ihre Wirksamkeit bewiesen
haben. Das technologische Universum ist eine von ihnen. Zur weiteren
Diskussion cf. Kapitel 6.
5 Ernst Kapp, Greek Foundations of Traditional Logic, New York: Columbia University
Press 1942, S. 29.
- 202 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Kalkulation und Schlußfolgerung unterworfen — aber als
fungible Zeichen oder Symbole, unter Abstraktion von
ihrer besonderen »Substanz«. Diese allgemeine Qualität
(quantitative Qualität) ist die Vorbedingung von Gesetz und
Ordnung — in der Logik wie in der Gesellschaft – der Preis
umfassender Kontrolle. »Die Allgemeinheit der Gedanken,
wie die diskursive Logik sie entwickelt, erhebt sich auf dem
Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit«6.
Die Metaphysik des Aristoteles stellt den Zusammenhang
zwischen Begriff und Herrschaft fest: die Erkenntnis der
»ersten Ursachen« ist – als Erkenntnis des Allgemeinen – die
wirksamste und sicherste Erkenntnis; denn über die Ursachen
verfügen heißt über ihre Wirkungen verfügen. Vermöge
des Allgemeinbegriffs gelangt das Denken zur Herrschaft
über die besonderen Fälle. Jedoch bezieht sich noch das
formalisierteste Universum der Logik auf die allgemeinste
Struktur der gegebenen, erfahrenen Welt; die reine Form ist
immer noch die des Inhalts, den sie formalisiert. Die Idee
der formalen Logik selbst ist ein historisches Ereignis in
der Entwicklung der geistigen und physischen Instrumente
zur umfassenden Kontrolle und Kalkulierbarkeit. Bei
diesem Unterrnehmen mußte der Mensch aus tatsächlicher
Dissonanz theoretische Harmonie erzeugen, das Denken
von Widersprüchen reinigen und feststellbare and fungible
Einheiten im komplexen Prozeß von Gesellschaft und Natur
hypostasieren.
6 M. Horkheimer und Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S.25.
- 203 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Unter der Herrschaft der formalen Logik ist der Begriff des
Konflikts von Wesen und Erscheinung entbehrlich, wo nicht
sinnlos; »der materiale Inhalt ist neutralisiert«; das Prinzip
der Identität wird vom Prinzip des Widerspruchs getrennt
(Widersprüche sind unrichtigem Denken zuzuschreiben);
Endursachen werden aus der logischen Ordnung entfernt.
Wohldefiniert in ihrer Reichweite und Funktion, werden
die Begriffe zu Instrumenten der Voraussage und Kontrolle.
Die formale Logik ist so der erste Schritt auf dem langen
Wege zum wissenschaftlichen Denken – nur der erste Schritt;
denn es ist ein noch viel höherer Grad von Abstraktion und
Mathematisierung erforderlich, um die Denkweisen der
technologischen Rationalität anzupassen.
Die Methoden des logischen Vorgehens sind in der antiken
und modernen Logik sehr verschieden, aber hinter allem
Unterschied steht der Aufbau einer allgemeingültigen Ordnung
des Denkens, die hinsichtlich des materialen Inhalts neutral ist.
Lange bevor der technische Mensch und die technische Natur
als Objekte rationaler Kontrolle und Kalkulation aufkamen,
wurde der Geist für abstrakte Verallgemeinerung empfänglich
gemacht. Die Begriffe, die zu einem kohärenten logischen
System, widerspruchsfrei oder mit leicht zu handhabendem
Widerspruch, organisiert werden konnten, wurden von jenen
abgesondert, bei denen das nicht der Fall war. Unterschieden
wurde zwischen der allgemeinen, kalkulierbaren »objektiven«
und der besonderen, nichtkalkulierbaren, subjektiven
Dimension des Denkens; diese, ging in die Wissenschaft nur
durch eine Reihe von Reduktionen ein.
- 204 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Die formale Logik nimmt die Reduktion der sekundären
auf primäre Qualitäten vorweg, bei der jene zu den meß-
und kontrollierbaren Eigenschaften der Physik werden.
Die Elemente des Denkens lassen sich dann wissenschaftlich
organisieren – wie sich die menschlichen Elemente in der
gesellschaftlichen Realität organisieren lassen. Vortechnische
und technische Herrschaftsweisen sind der Grundlage nach
verschieden – so verschieden wie Sklaverei von freier
Lohnarbeit, Heidentum von Christentum, der Stadtstaat von
der Nation, das Gemetzel an der Bevölkerung einer eroberten
Stadt von den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.
Jedoch ist die Geschichte immer noch die der Herrschaft, und
die Logik des Denkens bleibt die Logik der Herrschaft.
Die formale Logik war auf Allgemeingültigkeit der
Denkgesetze aus. Und in der Tat wäre das Denken ohne
Allgemeinheit eine private, unverbindliche Angelegenheit,
außerstande, auch nur den schmälsten Teil des Daseins
zu verstehen. Denken ist stets mehr und etwas anderes als
individuelles Denken; wenn ich mir vornehme, an individuelle
Personen in einer spezifischen Lage zu denken, finde ich sie in
einem überindividuellen Zusammenhang, an dem sie teilhaben,
und ich denke in allgemeinen Begriffen. Alle Gegenstände des
Denkens sind Allgemeinheiten. Ebenso wahr aber ist, daß die
überindividuelle Bedeutung, die Allgemeinheit des Begriffs,
niemals eine bloß formale ist; sie konstituiert sich in der
Wechselbeziehung zwischen den (denkenden und handelnden)
Subjekten und ihrer Welt7. Logische Abstraktion ist ebenso
7 Cf. Th. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Stuttgart 1956, Kapitel
I, Kritik des logischen Absolutismus.
- 205 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
soziologische Abstraktion. Es gibt eine logische Mimesis, die
die Gesetze des Denkens in vorsorglicher Übereinstimmung
mit den Gesetzen der Gesellschaft formuliert, aber das ist nur
eine Denkweise unter anderen.
Die Unfruchtbarkeit der Aristotelischen formalen
Logik ist oft hervorgehoben worden. Das philosophische
Denken entwickelte sich neben und selbst außerhalb dieser
Logik. In ihren Hauptbestrebungen scheinen ihr weder
die idealistische noch die materialistische, weder die
rationalistische noch die empiristische Schule etwas zu
verdanken. Die formale Logik war ihrer ganzen Struktur
nach nichttranszendent. Sie kanonisierte und organisierte
das Denken innerhalb eines starren Rahmens, den kein
Syllogismus überschreiten kann – sie blieb »Analytik«..
Die Logik bestand als eine Sonderdisziplin neben der
wirklichen Entwicklung des philosophischen Denkens fort,
ohne sich trotz der neuen Begriffe und Inhalte, die diese
Entwicklung kennzeichneten, wesentlich zu ändern.
Freilich hatten weder die Scholastiker noch der Rationalismus
und Empirismus der frühen Neuzeit irgendeinen Grund,
gegen die Denkweise Einwand zu erheben, die ihre
allgemeinen Formen in der Aristotelischen Logik kanonisiert
hatte. Ihre Intention stimmte zumindest mit wissenschaftlicher
Gültigkeit und Exaktheit überein, und das Übrige störte die
begriffliche Ausarbeitung der neuen Erfahrung und der neuen
Tatsachen nicht.
Die gegenwärtige mathematische und symbolische Logik
ist sicher von ihrer klassischen Vorläuferin sehr verschieden,
- 206 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
aber der radikale Gegensatz zur dialektischen Logik ist
ihnen gemeinsam. Hinsichtlich dieses Gegensatzes drücken
die alte und die neue formale Logik dieselbe Denkweise
aus. Sie ist von jenem »Negativen« gereinigt, das an den
Anfängen der Logik und des philosophischen Denkens
von so großer Bedeutung erschien — die Erfahrung der
verneinenden, trügerischen, die Hoffnung vereitelnden Macht
der bestehenden Wirklichkeit. Und mit dem Ausschalten
dieser Erfahrung wird zugleich die begriffliche Anstrengung,
die Spannung zwischen »Sein« und »Sollen« auszuhalten
und das bestehende Universum der Sprache im Namen
seiner eigenen Wahrheit umzustülpen, aus allem Denken
ausgeschaltet, das objektiv, exakt und wissenschaftlich sein
soll. Denn die wissenschaftliche Zerstörung der unmittelbaren
Erfahrung, die die Wahrheit der Wissenschaft gegenüber der
der unmittelbaren Erfahrung etabliert, entwickelt nicht
die Begriffe, die den Protest und die Ablehnung in sich
tragen. Die neue wissenschaftliche Wahrheit, die man der
bloß hingenommenen entgegensetzt, enthält in sich nicht
das Urteil, das die bestehende Wirklichkeit verdammt.
Demgegenüber ist und bleibt das dialektische Denken in
dem Maße unwissenschaftlich, wie es ein solches Urteil ist,
und dieses Urteil wird dem dialektischen Denken durch
die Natur seines Objekts auferlegt – durch seine Objektivität.
Dieses Objekt ist die Wirklichkeit in ihrer wahren Konkretion;
die dialektische Logik schließt alle Abstraktion aus, die den
konkreten Inhalt isoliert und unbegriffen hinter sich läßt.
Hegel weist der kritischen Philosophie seiner Zeit »Angst
vor dem Objekt« nach, und er fordert, daß ein wahrhaft
- 207 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
wissenschaftliches Denken diesen ängstlichen Standpunkt
überwinden und das Logische, das Rein-Vernünftige, in der
ganzen Konkretheit seiner Gegenstände begreifen möge. 8
Die dialektische Logik kann nicht formal sein, weil sie
bestimmt ist durch das Wirkliche, das konkret ist. Und weit
davon entfernt, sich einem System allgemeiner Prinzipien
und Begriffe zu widersetzen, erfordert diese Konkretheit
ein solches System der Logik, weil sie sich nach allgemeinen
Gesetzen bewegt, die die Vernünftigkeit des Wirklichen
ausmachen. Es ist die Vernünftigkeit des Widerspruchs, des
Gegensatzes von Kräften, Tendenzen und Elementen, welche
die Bewegung des Wirklichen konstituiert und, sofern es
begriffen ist, den Begriff des Wirklichen.
Indem sie als der lebendige Widerspruch von Wesen und
Erscheinung existieren, sind die Gegenstände des Denkens
von jener »inneren Negativität«9, die die spezifische Qualität
ihres Begriffs ist. Die dialektische Definition definiert die
Bewegung der Dinge, indem sie von dem, was sie nicht sind,
übergeht zu dem, was sie sind. Die Entwicklung einander
widersprechender Elemente, die die Struktur ihres Objekts
bestimmt, bestimmt auch die Struktur des dialektischen
Denkens. Der Gegenstand der dialektischen Logik ist
weder die abstrakte, allgemeine Form der Objektivität
noch die abstrakte, allgemeine Form des Denkens – noch
die Daten der unmittelbaren Erfahrung. Die dialektische
Logik löst die Abstraktionen der formalen Logik und der
Transzendentalphilosophie auf, aber sie verneint ebenso
8 Wissenschaft der Logik, ed. Lasson (Leipzig, Meiner, 1923), Band I, S.32.
9 Ibid., S. 38.
- 208 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
die Konkretheit unmittelbarer Erfahrung. In dem Maße,
wie diese Erfahrung sich bei den Dingen beruhigt, wie sie
erscheinen und zufällig sind, ist sie eine beschränkte und
sogar falsche Erfahrung. Sie erlangt ihre Wahrheit, wenn sie
sich von der täuschenden Objektivität befreit hat, welche die
Faktoren hinter den Fakten verbirgt – das heißt, wenn sie ihre
Welt als ein geschichtliches Universum versteht, worin die
bestehenden Tatsachen das Werk der geschichtlichen Praxis des
Menschen sind. Diese (intellektuelle und materielle) Praxis
ist die Wirklichkeit in den Daten der Erfahrung; sie ist auch
die Wirklichkeit, die von der dialektischen Logik begriffen
wird. Wenn der geschichtliche Inhalt in den dialektischen
Begriff eingeht und dessen Entwicklung und Funktion
methodologisch bestimmt, dann gelangt das dialektische
Denken zu derjenigen Konkretheit, welche die Struktur
des Denkens mit der der Wirklichkeit verknüpft. Logische
Wahrheit wird zu geschichtlicher Wahrheit. Die ontologische
Spannung zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen »Sein«
und »Sollen« wird zur geschichtlichen, und die »innere
Negativität« der Objektwelt wird verstanden als das Werk des
geschichtlichen Subjekts – der Mensch in seinem Kampf mit
Natur und Gesellschaft. Vernunft wird geschichtliche Vernunft.
Sie widerspricht der bestehenden Ordnung der Menschen und
Dinge im Interesse bestehender gesellschaftlicher Kräfte,
die den irrationalen Charakter dieser Ordnung offenbaren
– denn »rational« ist eine Denk- und Handlungsweise, die
darauf abzielt, Unwissenheit, Zerstörung, Brutalität und
Unterdrückung zu verringern.
- 209 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Die Überführung der ontologischen in eine historische
Dialektik hält an der Zweidimensionalität des philosophischen
als eines kritischen, negativen Denkens fest. Jetzt aber stehen
Wesen und Erscheinung, »Sein« und »Sollen« einander
gegenüber im Konflikt zwischen den vorliegenden Kräften
und Fähigkeiten der Gesellschaft. Und sie stehen einander
nicht wie Vernunft und Unvernunft, Recht und Unrecht
gegenüber – denn beide sind innerer Bestandteil des
nämlichen bestehenden Universums, und beide haben teil an
Vernunft, Recht und Unrecht. Der Sklave ist imstande, die
Herren abzuschaffen und mit ihnen zusammenzuarbeiten;
die Herren sind imstande, das Leben des Sklaven und seine
Ausbeutung zu verbessern. Die Idee der Vernunft erstreckt
sich auf die Bewegung des Denkens und des Handelns. Sie
ist ein theoretisches und ein praktisches Bedürfnis.
Wenn die dialektische Logik den Widerspruch
als »Notwendigkeit« versteht, die zur »Natur der
Denkbestimmungen«10 gehört, so deshalb, weil der Widerspruch
zur Natur des Denkobjekts selbst, zu einer Wirklichkeit gehört,
in der Vernunft noch Unvernunft und das Irrationale noch
das Rationale ist. Umgekehrt rebelliert alle bestehende
Wirklichkeit gegen die Logik der Widersprüche – sie begünstigt
die Denkweisen, welche die bestehenden Lebensformen und die
Verhaltensweisen stützen, die sie reproduzieren und verbessern.
Die gegebene Wirklichkeit hat ihre eigene Wahrheit; die
Anstrengung, sie als solche zu begreifen und über sie
hinauszugehen, setzt eine andere Logik, eine widersprechende
10 Ibid.
- 210 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Wahrheit voraus. Sie gehören Denkweisen an, die ihrer
ganzen Struktur nach nichtoperationell sind; sie sind dem
wissenschaftlichen Operationalismus ebenso fremd wie dem
gesunden Menschenverstand. Ihre geschichtliche Konkretheit
widersetzt sich der Quantifizierung und Mathematisierung
auf der einen Seite, dem Positivismus und Empirismus auf der
anderen. So erscheinen diese Denkweisen als ein Überbleibsel
der Vergangenheit wie alle nichtwissenschaftliche und
nichtempirische Philosophie. Sie weichen einer wirksameren
Theorie und Praxis der Vernunft.
- 211 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
6 Vom negativen zum positiven Denken:
technologische Rationalität und die Logik der Herrschaft
Bei allem Wechsel ist die Herrschaft des Menschen über
den Menschen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch
immer das geschichtliche Kontinuum, das vortechnische und
technische Vernunft verbindet. Jedoch ändert die Gesellschaft,
welche die technische Umgestaltung der Natur entwirft und
ausführt, die Basis der Herrschaft, indem sie allmählich die
persönliche Abhängigkeit (des Sklaven vom Herrn, des
Leibeigenen vom Grundherrn, des Herrn vom Lehnsherrn
usw.) durch die Abhängigkeit von der »objektiven Ordnung
der Dinge« (von ökonomischen Gesetzen, vom Markt usw.)
ersetzt. Freilich ist die »objektive Ordnung der Dinge« selbst
ein Resultat der Herrschaft, aber bei alledem ist wahr, daß
die Herrschaft jetzt eine höhere Rationalität hervorbringt – die
einer Gesellschaft, die ihre hierarchische Struktur beibehält,
während sie die natürlichen und geistigen Ressourcen stets
wirksamer ausbeutet und die Erträge dieser Ausbeutung in
stets wachsendem Größenverhältnis verteilt. Die Grenzen
dieser Rationalität und ihre unheilvolle Kraft erscheinen in
der fortschreitenden Versklavung des Menschen durch einen
Produktionsapparat, der den Kampf ums Dasein verewigt und
zu einem totalen, internationalen Kampf ausweitet, der das
Leben jener zugrunde richtet, die diesen Apparat aufbauen
und benutzen.
Auf dieser Stufe wird klar, daß etwas mit der
Rationalität des Systems selbst nicht stimmen muß. Was nicht
stimmt, ist die Weise, wie die Menschen ihre gesellschaftliche
- 212 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Arbeit organisiert haben. Das steht heute nicht mehr in Frage,
wo auf der einen Seite die großen Unternehmer selbst gewillt
sind, die Segnungen der freien Wirtschaft und der »freien«
Konkurrenz den Segnungen von Regierungsaufträgen
und -regulierungen zu opfern, während auf der anderen
Seite der sozialistische Aufbau weiterhin auf dem Wege
fortschreitender Herrschaft vor sich geht. Dennoch muß
man die Frage weiterverfolgen. Die falsche Organisation
der Gesellschaft verlangt eine nähere Erklärung über die
Lage der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, in der die
Integration der einst negativen und transzendierenden
gesellschaftlichen Kräfte in das bestehende System eine neue
Sozialstruktur herbeizuführen scheint.
Die Umwandlung der negativen in positive Opposition
verweist auf das Problem: indem sie aus inneren Gründen
totalitär wird, sperrt die »falsche« Organisation sich gegen
Alternativen. Gewiß ist es natürlich und bedarf wohl keiner
tiefgehenderen Erklärung, daß die handgreiflichen Vorteile
des Systems einer Verteidigung für wert gehalten werden
– besonders im Hinblick auf die abstoßende Gewalt, die
der heutige Kommunismus darstellt, der die geschichtliche
Alternative zu sein scheint. Aber das ist nur für eine Denk- und
Verhaltensweise natürlich, die nicht gewillt und vielleicht
sogar außerstande ist zu begreifen, was geschieht und warum
es geschieht, eine Denk- und Verhaltensweise, die gegen
jede andere als die bestehende Rationalität immun ist. Tn
dem Maße, wie sie der gegebenen Wirklichkeit entsprechen,
drücken Denken und Verhalten ein falsches Bewußtsein
aus, das einer falschen Ordnung der Tatsachen genügt und
- 213 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
zu ihr beiträgt. Und dieses falsche Bewußtsein hat sich im
herrschenden technischen Apparat verkörpert, der es wiederum
reproduziert.
Wir leben und sterben rational und produktiv. Wir wissen,
daß Zerstörung der Preis des Fortschritts ist wie der Tod der
Preis des Lebens, daß Versagung und Mühe die Vorbedingungen
für Genuß und Freude sind, daß die Geschäfte weiter gehen
müssen und die Alternativen utopisch sind. Diese Ideologie
gehört zum bestehenden Gesellschaftsapparat; sie ist für sein
beständiges Funktionieren erforderlich und ein Teil seiner
Rationalität.
Der Apparat vereitelt jedoch seinen eigenen Zweck, sofern
es sein Zweck ist, ein humanes Dasein auf der Basis einer
humanisierten Natur herbeizuführen. Und ist dies nicht
sein Zweck, dann ist seine Rationalität umso verdächtiger.
Aber auch konsequenter; denn seit Anbeginn ist das Negative
im Positiven enthalten, das Inhumane in der Humanisierung,
Versklavung in der Befreiung. Diese Dynamik ist die der
Wirklichkeit und nicht des Geistes, aber einer Wirklichkeit,
worin der szientifische Geist beim Verbinden von theoretischer
und praktischer Vernunft eine entscheidende Rolle spielte.
Die Gesellschaft reproduzierte sich in einem wachsenden
technischen Ensemble von Dingen und Beziehungen, das
die technische Nutzbarmachung der Menschen einschloß – mit
anderen Worten, der Kampf ums Dasein und die Ausbeutung
von Mensch und Natur wurden immer wissenschaftlicher und
rationaler. Die doppelte Bedeutung von »Rationalisierung«
ist in diesem Zusammenhang von Belang. Wissenschaftliche
- 214 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Betriebsführung und wissenschaftliche Arbeitsteilung erhöhten
in starkem Maße die Produktivität des ökonomischen,
politischen und kulturellen Unternehmens. Das Ergebnis war
der höhere Lebensstandard. Gleichzeitig und aus demselben
Grunde produzierte dieses rationale Unternehmen ein
Denk- und Verhaltensschema, das die zerstörerischsten und
grausamsten Züge dieses Unternehmens rechtfertigte und
sogar freisprach. Wissenschaftlich-technische Rationalität
und Manipulationen werden zu neuen Formen sozialer
Kontrolle zusammengeschweißt. Kann man bei der Annahme
stehenbleiben, daß diese nichtwissenschaftliche Folge das
Ergebnis einer spezifischen gesellschaftlichen Anwendung
der Wissenschaft ist? Ich bin der Ansicht, daß die allgemeine
Richtung, in der sie angewandt wurde, der reinen Wissenschaft
bereits innewohnte, als noch keine praktischen Zwecke
beabsichtigt waren, und daß der Punkt festgestellt werden
kann, an dem theoretische Vernunft in gesellschaftliche Praxis
übergeht. Indem ich versuche, ihn zu bezeichnen, will ich kurz
an die methodologischen Ursprünge der neuen Rationalität
erinnern und sie dabei mit den Zügen des im vorigen Kapitel
diskutierten vortechnischen Modells vergleichen.
Die Quantifizierung der Natur, die zu ihrer Erklärung in
mathematischen Strukturen führte, löste die Wirklichkeit
von allen immanenten Zwecken ab und trennte folglich
das Wahre vom Guten, die Wissenschaft von der Ethik. Wie
immer die Wissenschaft die Objektivität der Natur und die
Wechselbeziehungen ihrer Teile bestimmen mag, sie kann sie
wissenschaftlich nicht unter »Zweckursachen« begreifen…
Und wie konstitutiv auch die Rolle des Subjekts als Ort
- 215 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
von Beobachtung, Messung und Berechnung sein mag
– dieses Subjekt kann seine Rolle nicht als ethisch, ästhetisch
oder politisch handelndes spielen. Die Spannung zwischen
der Vernunft auf der einen Seite und den Bedürfnissen und
Wünschen der Völker (die das Objekt, kaum aber das
Subjekt der Vernunft gewesen sind) auf der anderen hat
seit dem Beginn des philosophischen und wissenschaftlichen
Denkens bestanden. Die »Natur der Dinge«, einschließlich
der Natur der Gesellschaft, wurde so definiert, daß sie
Verdrängung und selbst Unterdrückung als völlig rational
rechtfertigte. Wahre Erkenntnis und Vernunft verlangen
Herrschaft über die Sinne - wenn nicht Befreiung von ihnen.
Die Einheit von Logos und Eros führte schon bei Platon
zum Vorrang des Logos; bei Aristoteles ist die Beziehung
zwischen dem Gott und der von ihm bewegten Welt nur im
Sinne einer Analogie »erotisch«. In der Folge wird das prekäre
ontologische Bindeglied zwischen Logos und Eros zerbrochen,
und die wissenschaftliche Rationalität entsteht als wesentlich
neutral. Wonach die Natur (einschließlich des Menschen)
streben mag, ist wissenschaftlich rational nur in der Form der
allgemeinen – physikalischen, chemischen oder biologischen
– Bewegungsgesetze.
Außerhalb dieser Rationalität lebt man in einer Welt
von Werten, und Werte, die aus der objektiven Realität
herausgelöst sind, werden subjektiv. Der einzige Weg, einige
abstrakte und harmlose Gültigkeit für sie zu retten, scheint eine
metaphysische Sanktionierung (göttliches und Naturrecht) zu
sein. Aber solche Sanktionierung ist nicht verifizierbar und
daher nicht wirklich objektiv. Werte mögen (moralisch und
- 216 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
geistig) eine höhere Dignität haben, sind aber nicht wirklich
und zählen deshalb weniger im wirklichen Lebensvollzug
– und zwar umso weniger, je mehr sie über die Wirklichkeit
erhoben werden.
Dieselbe Entwirklichung ergreift alle Ideen, die ihrer
ganzen Natur nach von der wissenschaftlichen Methode
nicht verifiziert werden können. Ganz gleich, wie sehr sie
anerkannt, respektiert und geheiligt sein mögen, sie leiden
von Hause aus darunter, daß sie nicht-objektiv sind. Aber
gerade ihr Mangel an Objektivität macht sie zu Faktoren
des sozialen Zusammenhalts. Humanitäre, religiöse und
moralische Ideen sind nur »ideell«; sie stören die bestehende
Lebensweise nicht allzusehr und werden durch die Tatsache,
daß ihnen ein Verhalten widerspricht, das durch die täglichen
Notwendigkeiten von Geschäft und Politik diktiert ist, nicht
umgestoßen.
Wenn das Gute und das Schöne, Frieden und Gerechtigkeit
weder aus ontologischen noch aus wissenschaftlich-rationalen
Bedingungen abgeleitet werden können, dann können
sie logisch keine Allgemeingültigkeit und Verwirklichung
beanspruchen. Im Sinne wissenschaftlicher Vernunft bleiben
sie eine Sache des Beliebens, und keine Wiedererweckung
irgendeiner Aristotelischen oder Thomistischen Philosophie
kann die Lage retten; denn sie ist a priori durch die
wissenschaftliche Vernunft widerlegt. Der unwissenschaftliche
Charakter dieser Ideen schwächt in verhängnisvoller Weise
die Opposition gegenüber der bestehenden Wirklichkeit; die
Ideen werden zu bloßen Idealen, und ihr konkreter, kritischer
- 217 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Inhalt verflüchtigt sich in die ethische oder metaphysische
Atmosphäre.
Paradoxerweise wird jedoch die objektive Welt, von der
nur quantifizierbare Qualitäten bestehen bleiben, in ihrer
Objektivität mehr und mehr abhängig vom Subjekt. Dieser
lange Prozeß beginnt mit der Algebraisierung der Geometrie,
die die »sichtbaren« geometrischen Figuren durch rein
geistige Operationen ersetzt. Er nimmt extreme Gestalt an in
einigen Konzeptionen der gegenwärtigen Wissenschaftlichen
Philosophie, denen zufolge alle Materie der physikalischen
Wissenschaft dazu tendiert, sich in mathematische oder
logische Beziehungen aufzulösen. Selbst der Begriff einer
objektiven Substanz, die sich gegen das Subjekt abhebt, scheint
zu zerfallen. Aus sehr verschiedenen Richtungen gelangen
Wissenschaftler und Wissenschaftsphilosophen zu ähnlichen
Hypothesen darüber, daß so etwas wie besondere Arten von
Entitäten auszuschließen sei.
Zum Beispiel »mißt« die Physik »die objektiven Qualitäten
der äußeren und materiellen Welt nicht – diese sind nur die
Resultate, die im Vollzug solcher Operationen gewonnen
werden«1. Objekte bestehen nur als »bequeme Vermittler«
fort, als veraltete »kulturelle Setzungen«2. Die Dichte und
1 Herbert Dingler, in: Nature, Band 168 (1951), S. 630.
2 W. V. O. Quine, From a Logical Point of View, Cambridge, Harvard University
Press I953, S. 44. Quine spricht vom »Mythos physikalischer Objekte« und sagt, daß
»hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Fundierung die physikalischen Objekte und die
Götter [Homers] nur dem Grad, nicht der Art nach verschieden sind« (ibid.). Aber der
Mythos physikalischer Objekte ist »insofern« erkenntnistheoretisch überlegen, »wie er sich
als wirksamer als andere Mythen erwiesen hat, als Mittel, eine praktikable Struktur in den
Fluß der Erfahrung hineinzuarbeiten«. Die Einschätzung des wissenschaftlichen Begriffs im
Sinne von »wirksam«, »Mittel«, »praktikabel« offenbart seine manipulativ-technologischen
Elemente.
- 218 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Undurchdringlichkeit der Dinge verdunsten: die objektive
Welt verliert ihren »anstößigen« Charakter, ihren Gegensatz
zum Subjekt. Kaum weniger als in ihrer Interpretation im
Sinne der Pythagoreisch-Platonischen Metaphysik erscheint
die mathematische Natur, die wissenschaftliche Wirklichkeit,
als ideelle Wirklichkeit.
Dies sind extreme Behauptungen, und sie werden von
konservativeren Interpretationen abgelehnt, die darauf
bestehen, daß sich die Sätze in der zeitgenössischen Physik
immer noch auf »körperliche Dinge«3 beziehen. Aber diese
erweisen sich als »physikalische Ereignisse«, und dann
beziehen sich die Sätze (und zwar ausschließlich) auf Attribute
und Beziehungen, die verschiedene Arten körperlicher Dinge
und Prozesse charakterisieren4. Max Born stellt fest:
»… the theory of relativity… has never abandoned all
attemps to assign properties to matter«. But »often a measurable
quantity is not a property of a thing, but a property of its
relation to other things… Most measurements in physics are
not directly concerned with the things which interest us, but
with some kind of projection, the word taken in the widest
possible sense«5. Und W. Heisenberg: »Was wir mathematisch
3 H. Reichenbach, in Philipp G. Frank (ed ) The Validation of Scientific Theories Boston-
Beacon Press 1954, S. 85 f (Zitiert von Adolf Grünbaum).
4 Adolf Grünbaum, ibid. S. 87 f.
5 »…die Relativitätstheorie hat niemals alle Versuche aufgegeben, der Materie Eigenschaften
beizulegen« Aber »oft ist eine meßbare Quantität keine Eigenschaft eines Dings, sondern eine
Eigenschaft seiner Beziehung zu anderen Dingen… Die meisten Messungen in der Physik
haben es nicht direkt mit den uns interessierenden Dingen zu tun, sondern mit einer Art von
Projektion, das Wort im weitest möglichen Sinne genommen « Max Born, Physical Reality,
in: Philosophical Quarterly, 3, 143 (1953) (Hervorhebung von mir)
- 219 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
festlegen, ist nur zum kleinen Teil ein >objektives Faktums<,
zum größeren Teil eine Übersicht über Möglichkeiten«6.
Nun können »Ereignisse«, »Beziehungen«, »Projektionen«,
»Möglichkeiten« nur für ein Subjekt objektiv bedeutsam
werden – nicht nur im Hinblick auf Beobachtbarkeit und
Meßbarkeit, sondern auch im Hinblick auf die Struktur des
Ereignisses oder der Beziehung selbst. Mit anderen Worten,
das hier geforderte Subjekt ist ein konstitutives – das heißt
ein mögliches Subjekt, für das einige Daten denkbar sein
müssen oder können – als Ereignis oder als Beziehung.
Wenn dem so ist, würde Reichenbachs Feststellung weiter
gelten, daß Sätze in der Physik ohne Beziehung auf einen
tatsächlichen Beobachter formuliert werden können und die
»Störung vermittels der Beobachtung« nicht dem menschlichen
Beobachter, sondern dem Instrument als einem »physikalischen
Ding« zuzuschreiben ist7.
Freilich können wir annehmen, daß die von der
mathematischen Physik aufgestellten Gleichungen
die tatsächliche Konstellation der Atome ausdrücken
(formulieren), das heißt die objektive Struktur der Materie.
Abgesehen von jedem beobachtenden und messenden
»äußeren« Subjekt kann das Subjekt A B »einschließen«,
B »vorhergehen«, B »zum Ergebnis haben«; B kann »unter«
C »fallen«, »größer als« C sein usw. – dennoch bliebe wahr,
daß diese Beziehungen Lage, Unterscheidung und Identität in
6 »Über den Begriff Abgeschlossene Theone< «, in. Dialectica, Bd VI, Nr. 1, S. 333
7 Philipp G Frank, 10C. cit , S. 8j
- 220 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
der Differenz von A, B und C implizieren. Sie implizieren so
das Vermögen, in der Differenz identisch zu sein, bezogen zu
sein auf… in einer bestimmten Weise, anderen Beziehungen
gegenüber widerstandsfähig zu sein usw. Nur dieses Vermögen
käme der Materie selbst zu, und dann wäre die Materie selbst
objektiv von der Struktur des Geistes – eine Interpretation,
die ein stark idealistisches Element enthält: »… die Dinge
der unbelebten Natur… integrieren die Gleichungen, von
denen sie nichts wissen, ohne Zögern und fehlerlos, durch ihr
bloßes Sein. Die Natur ist nicht subjektiv geistig; sie denkt
nicht mathematisch. Aber sie ist objektiv geistig; sie kann
mathematisch gedacht werden«.8
Eine weniger idealistische Interpretation wird von Karl
Popper9 geboten, der der Ansicht ist, daß die Naturwissenschaft
in ihrer historischen Entwicklung verschiedene Schichten ein
und derselben objektiven Realität aufdeckt und bestimmt. In
diesem Prozeß werden die geschichtlich überholten Begriffe
aufgehoben und ihre Bedeutung den nachfolgenden einverleibt
– eine Interpretation, die einen Fortschritt zum wirklichen Kern
der Realität, das heißt zur absoluten Wahrheit einzuschließen
scheint. Oder aber die Realität kann sich als Zwiebel ohne
Kern erweisen, und der Begriff der wissenschaftlichen Wahrheit
selbst kann in Frage gestellt werden.
Damit will ich nicht behaupten, daß die Philosophie
der heutigen Physik die Realität der Außenwelt leugnet
8 C. F. von Weizsäcker, Die Geschichte der Natur, Göttingen 1962, S. 17 f
9 In. British Philosophy in the Mid-Century, New York- Macmillan 1957, ed. C. A.
Mace, S. 155 ff. Ähnlich: Mario Bunge, Metascientific Queries, Springfield, Ill.:
Charles C Thomas 1959, S 108 ff
- 221 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
oder auch nur in Frage stellt, sondern daß sie auf die eine
oder andere Art das Urteil darüber suspendiert, was die
Realität selbst sein mag und schon die Frage als sinnlos und
unbeantwortbar betrachtet. Wird diese Suspension zu einem
methodologischen Prinzip gemacht, so hat sie eine doppelte
Folge: a) fördert sie die Verlagerung des theoretischen
Akzents vom metaphysischen »Was ist… ?« (τί έστίν) aufs
funktionale »Wie…?« und b) stellt sie eine praktische
(obgleich keineswegs absolute) Gewißheit her, die bei
ihren Operationen mit der Materie guten Gewissens frei
ist von der Bindung an irgendeine Substanz außerhalb
des operationellen Zusammenhangs. Mit anderen Worten:
theoretisch hat die Umformung von Mensch und Natur keine
anderen objektiven Schranken als solche wie sie von der
rohen Faktizität der Materie und ihrem noch unbeherrschten
Widerstand gegenüber Erkenntnis und Kontrolle gesetzt
werden. In dem Maße, wie diese Auffassung in der Realität
anwendbar und wirksam wird, tritt man an diese als an ein
(hypothetisches) System von Mitteln heran; das metaphysische
»Sein als solches« weicht einem »Instrument-Sein«. In ihrer
Wirksamkeit erprobt, wirkt diese Auffassung überdies als
Apriori – sie legt die Erfahrung im vorhinein fest, sie entwirft
die Richtung, in der die Natur umgeformt wird, sie organisiert
das Ganze. Wir sahen soeben, daß die gegenwärtige
Philosophie der Naturwissenschaft gegen ein idealistisches
Element zu kämpfen und in ihren extremen Formulierungen
einem idealistischen Naturbegriff gefährlich nahe zu kommen
schien. Die neue Denkweise stellt jedoch den Idealismus wieder
»auf seine Füße«. Hegel umriß die idealistische Ontologie so:
- 222 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
wenn die Vernunft der gemeinsame Nenner von Subjekt und
Objekt ist, so ist sie das als Synthesis von Gegensätzen.
Mit dieser Idee begriff Ontologie die Spannung zwischen
Subjekt und Objekt; sie war mit Konkretheit gesättigt. Die
Wirklichkeit der Vernunft bestand im Austragen dieser
Spannung in Natur, Geschichte und Philosophie. Selbst das
extrem monistische System hielt derart an der Idee einer
Substanz fest, die sich in Subjekt und Objekt entfaltet – die
Idee einer antagonistischen Wirklichkeit. Der szientifische
Geist hat diesen Antagonismus zunehmend abgeschwächt.
Die moderne wissenschaftliche Philosophie kann wohl mit
dem Begriff der beiden Substanzen, res cogitans und res
extensa, beginnen – aber indem die ausgedehnte Materie in
mathematischen Gleichungen begreifbar ist, die, in Technik
übersetzt, diese Materie »wiederherstellen«, verliert die res
extensa ihren Charakter als unabhängige Substanz. »Die alte
Einteilung der Welt in einen objektiven Ablauf in Raum
und Zeit auf der einen Seite und die Seele, in der sich dieser
Ablauf spiegelt, auf der anderen, also die Descartes’sche
Unterscheidung von res cogitans und res extensa, eignet sich
nicht mehr als Ausgangspunkt zum Verständnis der modernen
Naturwissenschaft«.10
Die Cartesianische Aufteilung der Welt ist auch von
ihren eigenen Grundlagen aus in Zweifel gezogen worden.
Husserl legt dar, daß das Cartesianische Ego letztlich keine
10 W. Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik, Hamburg 1963, S. 21. In
seinem Buch Physik und Philosophie, Frankfurt/Main-Berlin 1959, S. 70, schreibt
Heisenberg: »Für den Atomphysiker ist das >Ding an sich<, sofern er diesen Begriff
überhaupt gebraucht, schließlich eine mathematische Struktur. Aber diese Struktur
wird, im Gegensatz zu Kant, indirekt aus der Erfahrung erschlossen«.
- 223 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
wirklich unabhängige Substanz war, sondern vielmehr das
»Residuum« oder die Grenze der Quantifizierung; es
scheint, daß Galileis Idee der Welt als einer »universalen
und absolut puren« res extensa die Cartesianische Konzeption
a priori beherrschte.11 In diesem Falle wäre der Cartesianische
Dualismus trügerisch, und Descartes’ denkende
Ichsubstanz wäre der res extensa verwandt und nähme das
wissenschaftliche Subjekt quantifizierbarer Beobachtung und
Messung vorweg. Descartes’ Dualismus enthielte bereits
in sich seine Negation; er würde den Weg zur Errichtung
des eindimensionalen wissenschaftlichen Universums, in dem
Natur »objektiv geistig«, das heißt Subjekt ist, eher ebnen
als versperren. Und dieses Subjekt ist mit seiner Welt auf
eine sehr spezielle Weise verbunden:
»… la nature est mise sous le signe de l’homme actif, de
l’homme inscrivant la technique dans la nature.«12
Die Wissenschaft von der Natur entwickelt sich unter dem
technologischen Apriori, das die Natur als potentielles
Mittel, als Stoff für Kontrolle und Organisation entwirft.
Und das Erfassen der Natur als (hypothetisches) Mittel geht
der Entwicklung aller besonderen technischen Organisation
voraus:
11 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie,
ed. W. Biemel, Den Haag: Nijhoff 1954, S. 81.
12 »Die Natur wird unter das Zeichen des tätigen Menschen gestellt, des Menschen,
der die Technik der Natur eingräbt.« Gaston Bachelard, L’Activité rationaliste de la
physique contemporaine (Paris, Presses Universitaires, 1951), S. 7 unter Bezugnahme
auf Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin 1953, S. 40 ff.
- 224 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
»Der neuzeitliche Mensch stellt sich… als den heraus,
der… als der sich durchsetzende Hersteller aufsteht…
Das Ganze des gegenständlichen Bestandes ist dem sich
durchsetzenden Herstellen anheimgestellt, anbefohlen…
und wird im vorhinein… zum Material«. »Denn überhaupt
ist die Benutzung von Maschinerien und die Fabrikation
von Maschinen nicht schon die Technik selbst, sondern nur
ein ihr gemäßes Instrument der Einrichtung ihres Wesens im
Gegenständlichen ihrer Rohstoffe«.13
Das technologische Apriori ist insofern ein politisches
Apriori, als die Umgestaltung der Natur die des Menschen
zur Folge hat und als die »vom Menschen hervorgebrachten
Schöpfungen« aus einem gesellschaftlichen Ganzen hervor
– und in es zurückgehen. Dennoch kann man darauf bestehen,
daß die Maschinerie des technologischen Universums »als
solche« politischen Zwecken gegenüber indifferent ist – sie
kann eine Gesellschaft nur beschleunigen oder hemmen. Eine
elektronische Rechenmaschine kann einem kapitalistischen
wie einem sozialistischen Regime dienen; ein Zyklotron
kann für eine Kriegs- wie für eine Friedenspartei ein
gleich gutes Werkzeug sein. Diese Neutralität wird in
Marx’ polemischer Behauptung angefochten, daß die
»Handmühle eine Gesellschaft mit Feudalherren ergibt, die
Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten«.14
Nun wird diese Behauptung in der Marxschen Theorie selbst
eingeschränkt: die gesellschaftliche Produktionsweise, nicht
13 Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt 1950, S. 266 ff. Cf. auch seine Vorträge und Aufsätze,
Pfullingen 1954, S. 22, 29.
14 Das Elend der Philosophie, Berlin 1952, S. 130.
- 225 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
die Technik, ist der grundlegende historische Faktor. Wird
die Technik jedoch zur umfassenden Form der materiellen
Produktion, so umschreibt sie eine ganze Kultur; sie entwirft
eine geschichtliche Totalität – eine »Welt«.
Können wir sagen, daß die Entwicklung der
naturwissenschaftlichen Methode die Umgestaltung der
natürlichen in eine technische Realität im Prozeß der
industriellen Zivilisation bloß »widerspiegelt«? Das
Verhältnis von Naturwissenschaft und Gesellschaft auf
diese Weise formulieren heißt zwei getrennte Bereiche und
Ereignisse annehmen, die zusammentreffen, nämlich 1. die
Naturwissenschaft und das naturwissenschaftliche Denken
mit ihren immanenten Begriffen und ihrer immanenten
Wahrheit und 2. der Gebrauch und die Anwendung der
Naturwissenschaft in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Mit
anderen Worten, wie eng auch der Zusammenhang zwischen
den beiden Entwicklungen sein mag, sie implizieren und
bestimmen einander nicht. Reine Wissenschaft ist keine
angewandte Wissenschaft; sie behält ihre Identität und
Gültigkeit auch unabhängig von ihrer Nutzbarmachung.
Außerdem wird diese Vorstellung von der wesentlichen
Neutralität der Naturwissenschaft auch auf die Technik
ausgedehnt. Die Maschine ist indifferent gegenüber den
gesellschaftlichen Anwendungen, denen sie unterworfen wird,
vorausgesetzt, diese Anwendungen verbleiben im Rahmen
ihres technischen Vermögens.
In Anbetracht des zuinnerst instrumentalistischen
Charakters der naturwissenschaftlichen Methode erscheint
- 226 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
diese Interpretation unangemessen. Zwischen dem naturwis-
senschaftlichen Denken und seiner Anwendung, zwischen dem
Universum der naturwissenschaftlichen Sprache und dem des
alltäglichen Sprechens und Verhaltens scheint eine engere
Beziehung zu herrschen – eine Beziehung, worin sich beide
unter derselben Logik und Rationalität von Herrschaft be-
wegen.
In einer paradoxen Entwicklung führten die
wissenschaftlichen Anstrengungen, die strenge Objektivität
der Natur zu statuieren, zu einer fortschreitenden
Entstofflichung der Natur: »Die Vorstellung der an sich
seienden unendlichen Natur, auf die wir verzichten müssen, ist
der Mythos der neuzeitlichen Wissenschaft. Die Wissenschaft
begann damit, den Mythos des Mittelalters zu zerstören; jetzt
zwingt ihre eigene Konsequenz sie zu der Einsicht, daß sie
einen anderen Mythos an seine Stelle gesetzt hatte«.15
Der Prozeß, der mit der Beseitigung unabhängiger
Substanzen und Endursachen beginnt, führt zur Vergeistigung
der Objektivität. Aber es handelt sich um eine sehr spezifische
Vergeistigung, bei der das Objekt sich in einer durchaus
praktischen Beziehung zum Subjekt konstituiert:
»Was ist denn Materie? In der Atomphysik definieren wir
die Materie durch ihre möglichen Reaktionen auf Experimente
des Menschen und durch die mathematischen – also geistigen
– Gesetze, denen sie genügt. Wir definieren Materie als einen
möglichen Gegenstand des Menschen«.16
15 C. F. von Weizsäcker, Dit Geschichte der Natur, 1. c. S. 51.
16 Ibid. S. 9j (Hervorhebung von mir).
- 227 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Wenn dem so ist, dann ist Wissenschaft in sich technologisch
geworden: »Die pragmatische Wissenschaft hat das Bild von
der Natur, das einem technischen Zeitalter gemäß ist«.17
In dem Maße, wie der Operationalismus ins Zentrum des
wissenschaftlichen Unternehmens tritt, nimmt die Rationalität
die Form methodischer Konstitution, Organisation und
Handhabung der Materie als bloßen Stoffs der Kontrolle an,
als Mittel, das sich für alle Ziele und Zwecke eignet – Mittel
per se, »an sich«.
Die »richtige« Einstellung zum Mittel ist der technische
Ansatz, der richtige Logos ist Technologie, die eine
technologische Wirklichkeit entwirft und eine Antwort auf sie
ist.18 In dieser Wirklichkeit ist die Materie ebenso »neutral«
wie die Wissenschaft; die Objektivität trägt weder ein
Telos in sich noch ist sie auf ein Telos hingeordnet. Aber
es ist gerade ihr neutraler Charakter, der die Objektivität
mit einem spezifischen geschichtlichen Subjekt verbindet
– nämlich mit dem Bewußtsein, das in der Gesellschaft
herrscht, durch und für welche diese Neutralität eingeführt
wird. Es ist gerade in den Abstraktionen wirksam, die die
neue Rationalität ausmachen – mehr als innerer denn als
äußerer Faktor. Reiner und angewandter Operationalismus,
17 Ibid. S. 51.
18 Ich hoffe, nicht so mißverstanden zu werden, als wollte ich sagen, daß die Begriffe
der mathematischen Physik von vornherein als »Werkzeuge« vorgesehen sind, daß
sie eine technische, praktische Zielsetzung haben. Technologisch ist vielmehr die
apriorische »Intuition« oder Auffassung des Universums, in dem die Wissenschaft
sich bewegt und sich als reine Wissenschaft konstituiert. Reine Wissenschaft bleibt
dem Apriori verpflichtet, von dem sie abstrahiert. Vielleicht ist es klarer, von dem
instrumentalistischen Horizont der mathematischen Physik zu sprechen. Cf. Suzanne
Bachelard, La conscience de rationalité (Pans, Presses Universitaires, 1958), S. 31.
- 228 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
theoretische und praktische Vernunft, das wissenschaftliche
und das Geschäftsunternehmen vollziehen die Reduktion von
sekundären auf primäre Qualitäten, die Quantifizierung und
Abstraktion von »besonderen Arten von Entitäten«.
Zwar ist die Rationalität reiner Wissenschaft wertfrei
und setzt keinerlei praktische Zwecke fest; sie ist allen von
außen kommenden Werten gegenüber »neutral«, die an sie
herangetragen werden können. Aber diese Neutralität ist ein
positives Merkmal. Wissenschaftliche Rationalität bewirkt
eben deshalb eine spezifische gesellschaftliche Organisation,
weil sie die bloße Form (oder bloße Materie – hier konvergieren
die sonst entgegengesetzten Begriffe) entwirft, die praktisch
allen Zwecken unterworfen werden kann. Formalisierung
und Funktionalisierung sind vor aller Anwendung die
»reine Form« einer konkret-gesellschaftlichen Praxis.
Während die Wissenschaft die Natur von allen immanenten
Zwecken befreite und die Materie aller Qualitäten, mit
Ausnahme quantifizierbarer, entkleidete, befreite die
Gesellschaft die Menschen von der »natürlichen« Hierarchie
persönlicher Abhängigkeit und verband sie miteinander nach
quantifizierbaren Qualitäten – nämlich als Einheiten abstrakter
Arbeitskraft, berechenbar in Zeiteinheiten. »Die Eliminierung
der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen überträgt
sich von der Wissenschaft vermöge der rationalisierten
Arbeitsweisen auf die Erfahrungswelt«.19
Besteht zwischen den beiden Prozessen wissenschaftlicher
und gesellschaftlicher Quantifizierung Parallelität und
19 M. Horkheimer und Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 1 c. S. 50.
- 229 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Ursächlichkeit oder entspringt ihr Zusammenhang einfach
einer nachträglichen soziologischen Sicht? Die vorangehende
Diskussion nahm an, daß die neue wissenschaftliche
Rationalität an sich, gerade in ihrer Abstraktheit und
Reinheit, insofern Operationen war, als sie sich unter einem
instrumentalistischen Horizont entwickelte. Beobachtung
und Experiment, die methodische Organisation und
Zusammenfassung der Daten, Sätze und Schlußfolgerungen
gehen niemals in einem unstrukturierten, neutralen,
theoretischen Raum vonstatten. Als Entwurf umfaßt
Erkenntnis Einwirkungen auf Objekte oder Abstraktionen
von Objekten, was sich in einem gegebenen Universum von
Sprache und Handeln abspielt. Die Wissenschaft beobachtet,
berechnet und theoretisiert, indem sie von einer Position in
diesem Universum ausgeht. Die von Galilei beobachteten
Sterne waren dieselben im klassischen Altertum, aber das
andere Universum von Sprache und Handeln – kurzum, die
andere gesellschaftliche Realität – eröffnete die neue Richtung
und Reichweite des Beobachtens sowie die Möglichkeiten, die
beobachteten Daten zu ordnen. Ich beschäftige mich hier nicht
mit dem historischen Verhältnis von wissenschaftlicher und
gesellschaftlicher Rationalität zu Beginn der Neuzeit. Ich
möchte den zuinnerst instrumentalistischen Charakter dieser
wissenschaftlichen Rationalität darlegen, kraft dessen sie
a priori Technologie ist und das Apriori einer spezifischen
Technologie – nämlich Technologie als Form sozialer
Kontrolle und Herrschaft.
Als reines Denken entwirft das moderne wissenschaftliche
Denken weder besondere praktische Ziele noch besondere
- 230 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Herrschaftsformen. So etwas wie Herrschaft per se gibt es
jedoch nicht. Indem die Theorie fortschreitet, abstrahiert sie
von einem tatsächlichen teleologischen Zusammenhang
oder verwirft ihn – den des gegebenen, konkreten Universums
von Sprache und Handeln. Innerhalb dieses Universums selbst
findet nun der wissenschaftliche Entwurf statt oder nicht,
begreift die Theorie die möglichen Alternativen oder nicht,
stoßen die Hypothesen die vorgegebene Realität um oder
erweitern sie.
Die Prinzipien der modernen Wissenschaft waren a
priori so strukturiert, daß sie als begriffliche Instrumente
einem Universum sich automatisch vollziehender,
produktiver Kontrolle dienen konnten; der theoretische
Operationalismus entsprach schließlich dem praktischen.
Die wissenschaftliche Methode, die zur stets wirksamer
werdenden Naturbeherrschung führte, lieferte dann auch
die reinen Begriffe wie die Instrumente zur stets wirksamer
werdenden Herrschaft des Menschen über den Menschen
vermittels der Naturbeherrschung. Theoretische Vernunft trat
in den Dienst praktischer Vernunft und blieb dabei stets rein
und neutral. Die Verschmelzung erwies sich als vorteilhaft
für beide. Heute verewigt und erweitert sich die Herrschaft
nicht nur vermittels der Technologie, sondern als Technologie,
und diese liefert der expansiven politischen Macht, die alle
Kulturbereiche in sich aufnimmt, die große Legitimation.
In diesem Universum liefert die Technologie auch die
große Rationalisierung der Unfreiheit des Menschen und
beweist die »technische« Unmöglichkeit, autonom zu sein,
sein Leben selbst zu bestimmen. Denn diese Unfreiheit
- 231 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
erscheint weder als irrational noch als politisch, sondern
vielmehr als Unterwerfung unter den technischen Apparat,
der die Bequemlichkeiten des Lebens erweitert und die
Arbeitsproduktivität erhöht. Technologische Rationalität
schützt auf diese Weise eher die Rechtmäßigkeit von Herrschaft,
als daß sie sie abschafft, und der instrumentalistische
Horizont der Vernunft eröffnet sich zu einer auf rationale Art
totalitären Gesellschaft:
»On pourrait nommer philosophie autocratique des
techniques celle qui prend l’ensemble technique comme un lieu
où l’on utilise les machines pour obtenir de la puissance. La
machine est seulement un moyen; la fin est la conquête de la
nature, la domestication des forces naturelles au moyen d’un
premier asservissement: la machine est un esclave qui sert à
faire d’autres esclaves. Une pareille inspiration dominatrice
et esclavagiste peut se rencontrer avec une requête de
liberté pour l’homme. Mais il est difficile de se libérer en
transférant l’esclavage sur d’autres êtres, hommes, animaux
ou machines; régner sur un peuple de machines asservissant
le monde entier, c’est encore régner, et tout règne suppose
l’acceptation des schemes d’asservissement.«20
20 »Man könnte diejenige Philosophie der Technik autokratisch nennen, die das
technische Ganze als einen Ort versteht, wo Maschinen benutzt werden, um Macht
zu erlangen. Die Maschine ist nur ein Mittel, der Zweck ist die Eroberung der Natur,
die Dienstbarmachung der Naturkräfte vermittels einer ersten Versklavung: die
Maschine ist ein Sklave, der dazu dient, weitere Sklaven zu machen. Ein derartiges
Streben nach Herrschaft und Versklavung kann einhergehen mit einem Verlangen
nach menschlicher Freiheit. Aber es ist schwierig, sich zu befreien, wenn man die
Sklaverei auf andere Wesen, Menschen, Tiere oder Maschinen übertragt, über
einen Haufen Maschinen herrschen, die die ganze Welt unterwerfen, heißt immer
noch herrschen; und alle Herrschaft setzt voraus, daß Schemata der Unterwerfung
hingenommen werden«. Gilbert Simondon, Du mode d’existence des objets
techniques, Paris: Aubier, 1958, S. 127.
- 232 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Die unaufhörliche Dynamik des technischen Fortschritts
wurde von politischem Inhalt durchdrungen und der Logos der
Technik in den Logos fortgesetzter Herrschaft überführt. Die
befreiende Kraft der Technologie – die Instrumentalisierung
der Dinge – verkehrt sich in eine Fessel der Befreiung, sie
wird zur Instrumentalisierung des Menschen.
Diese Interpretation würde vor aller Anwendung und
Nutzbarmachung den wissenschaftlichen Entwurf (Methode
und Theorie) mit einem spezifischen gesellschaftlichen
Entwurf verknüpfen und sähe das Band gerade in der
inneren Form wissenschaftlicher Rationalität, will sagen im
funktionalen Charakter ihrer Begriffe. Mit anderen Worten,
das wissenschaftliche Universum (das heißt nicht die
besonderen Sätze über die Struktur der Materie, Energie,
deren Wechselwirkung usw. sondern die Darstellung
der Natur als quantifizierbare Materie, von der die
hypothetische Annäherung an die Objektivität – und deren
mathematisch-logischer Ausdruck – sich leiten läßt) wäre der
Horizont einer konkreten gesellschaftlichen Praxis, die in
der Entwicklung des wissenschaftlichen Entwurfs aufbewahrt
wäre.
Aber selbst wenn man den inneren Instrumentalismus der
wissenschaftlichen Rationalität zugibt, würde diese Annahme
nicht die soziologische Gültigkeit des wissenschaftlichen
Entwurfs begründen. Angenommen, daß noch die Bildung der
abstraktesten wissenschaftlichen Begriffe die Wechselbeziehung
von Subjekt und Objekt in einem gegebenen Universum
von Sprache und Handeln enthält, so kann das Bindeglied
- 233 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
zwischen theoretischer und praktischer Vernunft auch auf ganz
andere Weisen verstanden werden.
Eine solche andere Interpretation bietet Piaget in seiner
»genetischen Erkenntnistheorie«. Piaget deutet die Bildung
wissenschaftlicher Begriffe im Sinne verschieden gearteter
Abstraktionen aus einer allgemeinen Wechselbeziehung von
Subjekt und Objekt. Abstraktion geht weder aus dem bloßen
Objekt hervor, wobei das Subjekt nur als neutraler Punkt
fungiert, von dem aus beobachtet und gemessen wird, noch
aus dem Subjekt als dem Vehikel reiner, erkennender Vernunft.
Piaget unterscheidet den Erkenntnisprozeß in der Mathematik
von dem in der Physik. Ersterer ist Abstraktion »à l’intérieur
de l’action comme telle«:
»Contrairement à ce que l’on dit souvent, les êtres
mathématiques ne résultent donc pas d’une abstraction à
partir des objets, mais bien d’une abstraction effectuée au
sein des actions comme telles. Réunir, ordonner, déplacer, etc.
sont des actions plus générales que penser, pousser, etc. parce
qu’elles tiennent à la coordination même de toutes les actions
particulières et entrent en chacune d’elles à titre de facteur
coordinateur…«21
Mathematische Sätze drücken so »une accomodation
générale à l’objet« aus – im Gegensatz zu den besonderen
21 »Im Gegensatz zu dem, was oft gesagt wird, sind die mathematischen Wesenheiten
kein Ergebnis einer Abstraktion, die von den Objekten ausgeht, sondern vielmehr das
einer im Innern der Aktionen als solcher bewirkten Abstraktion. Vereinigen, Ordnen,
Bewegen usw sind allgemeinere Aktionen als Denken, Stoßen usw. weil sie gerade in
der Koordination aller besonderen Aktionen gründen und in jede von ihnen als
koordinierender Faktor eingehen « Introduction à l’épistémologie génétique, Band
III, Pans Presses Universitaires 1950, S. 287.
- 234 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Adaptationen, die für wahre Sätze in der Physik
charakteristisch sind. Logik und mathematische Logik
sind »une action sur l’objet quelconque, c’est-à-dire une
action accomodée de façon générale«;22 und diese »action«
ist insofern allgemeingültig, als »cette abstraction ou
différenciation porte jusqu’au sein des coordinations
héréditaires, puisque les mécanismes coordinateurs de l’action
tiennent toujours, en leur source, à des coordinations réflexes
et instinctives.«23
In der Physik geht die Abstraktion aus dem Objekt
hervor, ist aber auf spezifische Aktionen von Seiten des
Subjekts zurückzuführen und nimmt dadurch notwendig eine
mathematisch-logische Form an, daß »des actions particulières
ne donnent lieu à une connaissance que coordonnées entre
elles et que cette coordination est, par sa nature même,
logico-mathématique«.24 Die Abstraktion in der Physik führt
notwendig zur logisch-mathematischen Abstraktion zurück,
und diese ist, als reine Koordination, die allgemeine Form
des Handelns – »Aktion als solche«. Und diese Koordination
begründet Objektivität, weil sie an erbliche, »reflektorische
und instinktive« Strukturen gebunden bleibt.
22 »ein Handeln auf irgendein Objekt, d. h. eine in allgemeiner Art angepaßte Handlung«
Ibid , S. 188
23 »Diese Abstraktion oder Differenzierung erstreckt sich bis aufs Zentrum erblicher
Koordinationen, da die koordinierenden Mechanismen de; Handelns ihrem Ursprung
nach stets mit reflektorischen und instinktiven Koordinationen verbunden sind « Ibid
, S. 189.
2 4 » … besondere Handlungen führen nur dann zur Erkenntnis, wenn sie untereinander
koordiniert sind und diese Koordination ihrem ganzen Wesen nach eine logisch-
mathematische ist.« Ibid. S. 291.
- 235 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Piagets Interpretation anerkennt den zuinnerst praktischen
Charakter der theoretischen Vernunft, aber leitet ihn aus einer
allgemeinen Struktur des Handelns ab, die in letzter Instanz
eine erbliche, biologische Struktur ist. Die wissenschaftliche
Methode würde letztlich auf einer biologischen Grundlage
beruhen, die über- (oder vielmehr unter-)geschichtlich ist.
Angenommen ferner, daß alle wissenschaftliche Erkenntnis die
Koordination besonderer Handlungen voraussetzt, so sehe ich
nicht ein, weshalb eine derartige Koordination »ihrem ganzen
Wesen nach« logisch-mathematisch ist – wenn nicht die
»besonderen Handlungen« die wissenschaftlichen Operationen
der modernen Physik sind, in welchem Fall die Interpretation
einen Zirkelschluß enthielte.
Im Gegensatz zu Piagets eher psychologischer und biologischer
Analyse hat Husserl eine genetische Erkenntnistheorie geboten,
in deren Brennpunkt die geschichtlich-gesellschaftliche
Struktur der wissenschaftlichen Vernunft steht. Ich gehe hier auf
Husserls Werk25 nur soweit ein, als in ihm herausgestellt wird, in
welchem Maß die moderne Wissenschaft die »Methodologie«
einer vorgegebenen geschichtlichen Realität ist, in deren
Universum sie sich bewegt.
Husserl geht von der Tatsache aus, daß die Mathematisierung
der Natur zu gültiger, praktischer Erkenntnis führte: zum
Aufbau einer Realität von »Idealitäten«, die wirksam auf
die empirische Realität »bezogen« werden konnte (S. 19;
42). Aber die wissenschaftliche Leistung verwies zurück auf
25 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 1.
c.
- 236 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
eine vorwissenschaftliche Praxis, welche die ursprüngliche
Basis (das »Sinnesfundament«) der Galileischen Wissenschaft
bildete. Diese vorwissenschaftliche Basis der Wissenschaft
in der Welt der Praxis (»Lebenswelt«), die die theoretische
Struktur bestimmte, wurde von Galilei nicht in Betracht
gezogen; mehr noch, sie wurde durch die weitere Entwicklung
der Wissenschaft verdeckt. Es kam zu dem Schein, daß die
Mathematisierung der Natur eine »eigenständige absolute
Wahrheit« schaffe (S. 49 f.), während sie in Wirklichkeit eine
spezifische Methode und Technik für die Lebenswelt blieb.
Das »Ideenkleid« der mathematischen Naturwissenschaft
ist so ein Kleid von Symbolen, das die Welt der Praxis zur
gleichen Zeit »vertritt« und »verkleidet« (S. 52).
Worin besteht die ursprüngliche, vorwissenschaftliche
Intention und der Inhalt, die in der begrifflichen Struktur
der Naturwissenschaft erhalten bleiben? Die Meßkunst
entdeckt praktisch die Möglichkeit, gewisse Grundformen,
Gestalten und Beziehungen zu benutzen, die, »an faktisch
allgemein verfügbaren empirisch starren Körpern festgelegt«,
dazu dienen, empirische Körper und Beziehungen exakt zu
bestimmen und zu berechnen (S. 25). Bei aller Abstraktion
und Verallgemeinerung bewahrt (und verkleidet) die
naturwissenschaftliche Methode ihre vorwissenschaftlich-
technische Struktur; die Entwicklung jener vertritt (und
verkleidet) die Entwicklung dieser. So »idealisiert« die
klassische Geometrie die Feldmeßkunst. Geometrie ist die
Theorie praktischer Objektivierung.
- 237 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Freilich bauen Algebra und mathematische Logik eine
absolute Realität von Idealitäten auf, befreit von den
unberechenbaren Ungewißheiten und Partikularitäten der
Lebenswelt und der in ihr lebenden Subjekte. Diese ideale
Konstruktion ist jedoch die Theorie und Technik der
Idealisierung der neuen Lebenswelt: In der »mathematischen
Praxis erreichen wir, was uns in der empirischen Praxis versagt
ist: >Exaktheit<; denn für die idealen Gestalten ergibt sich die
Möglichkeit, sie in absoluter Identität zu bestimmen…. als
allgemein verfügbar« (S. 24). Die Koordination (»Zuordnung«)
der idealen zur empirischen Welt befähigt uns, »die zu
erwartenden empirischen Regelmäßigkeiten der praktischen
Lebenswelt zu entwerfen«: »Ist man einmal bei den Formeln,
so besitzt man damit im voraus schon die praktisch erwünschte
Voraussicht« – die Voraussicht dessen, was in der Erfahrung
des konkreten Lebens zu erwarten ist (S. 43).
Husserl betont die vorwissenschaftliche, technische
Bedeutung der mathematischen Exaktheit und Fungibilität.
Diese zentralen Begriffe der neuzeitlichen Naturwissenschaft
entstehen nicht als bloße Nebenprodukte einer reinen
Wissenschaft, sondern als zu deren innerer begrifflicher
Struktur gehörig. Die wissenschaftliche Abstraktion vom
Konkreten, die Quantifizierung der Qualitäten, die Exaktheit
wie Allgemeingültigkeit, liefern, enthalten eine spezifische
konkrete Erfahrung der Lebenswelt – eine spezifische Weise,
die Welt zu »sehen«. Und dieses »Sehen« ist trotz seines
»reinen«, desinteressierten Charakters ein Sehen innerhalb
- 238 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
eines zweckbetonten, praktischen Zusammenhangs. Es ist
»Voraussehen« und »Vorhaben«. Die Galileische Wissenschaft
ist die Wissenschaft methodischen Vorwegnehmens und
Entwerfens. Aber – und das ist entscheidend – eines
spezifischen Vorwegnehmens und Entwerfens – nämlich eines
solchen, das die Welt nach berechenbaren, voraussagbaren
Beziehungen von exakt bestimmbaren Einheiten erfährt,
begreift und gestaltet. Bei diesem Entwurf ist universale
Quantifizierbarkeit eine Vorbedingung für die Beherrschung
der Natur. Individuelle, nichtquantifizierbare Qualitäten stehen
einer Organisation von Menschen und Dingen im Wege, die an
der meßbaren Kraft orientiert ist, die aus ihnen herausgeholt
werden soll. Aber es handelt sich um einen spezifischen,
geschichtlich-gesellschaftlichen Entwurf, und das Bewußtsein,
das diesen Entwurf unternimmt, ist das verborgene Subjekt der
Galileischen Wissenschaft; diese ist die Technik, die Kunst der
»ins Unendliche erweiterten Voraussicht« (S. 51).
Gerade weil nun die Galileische Wissenschaft in der
Bildung ihrer Begriffe die Technik einer spezifischen
Lebenswelt ist, transzendiert sie diese Lebenswelt nicht und
kann es auch nicht. Sie verbleibt wesentlich innerhalb der
grundlegenden Erfahrung und innerhalb des Universums von
Zwecken, wie sie von dieser Realität gesetzt werden. Nach
Husserls Formulierung wird »das konkrete Universum der
Kausalität zu angewandter Mathematik« (S. 113) – aber die
Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt, »in der sich unser ganzes
Leben praktisch abspielt, bleibt, als die sie ist, in ihrer eigenen
- 239 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Wesensstruktur, in ihrem eigenen Kausalstil ungeändert« (S.
51; Hervorhebung von mir).
Eine herausfordernde Feststellung, die leicht unterschätzt
wird, und ich nehme mir die Freiheit einer möglichen
Überinterpretation. Die Feststellung bezieht sich nicht
einfach auf die Tatsache, daß wir trotz der nichteuklidischen
Geometrie immer noch im dreidimensionalen Raum
wahrnehmen und handeln oder daß trotz des »statistischen«
Kausalitätsbegriffs der gesunde Menschenverstand immer noch
in Übereinstimmung mit den »alten« Gesetzen der Kausalität
handelt. Ebensowenig widerspricht die Feststellung den
beständigen Veränderungen in der Welt der täglichen Praxis
als dem Ergebnis »angewandter Mathematik«. Es kann um
sehr viel mehr gehen: nämlich um die immanente Grenze
der etablierten Wissenschaft und wissenschaftlichen Methode,
aufgrund deren diese die herrschende Lebenswelt erweitern,
rationalisieren und sicherstellen, ohne ihre Seinsstruktur zu
ändern – das heißt ohne eine qualitativ neue »Sicht«weise
und qualitativ neue Beziehungen zwischen den Menschen und
zwischen Mensch und Natur ins Auge zu fassen.
Im Hinblick auf die institutionalisierten Lebensformen
hätte die (reine wie die angewandte) Wissenschaft so eine
stabilisierende, statische, konservative Funktion. Selbst
ihre revolutionärsten Errungenschaften wären nur Aufbau
und Zerstörung gemäß einer spezifischen Erfahrung
und Organisation der Wirklichkeit. Die fortwährende
Selbstkorrektur der Wissenschaft selbst – die in ihre Methode
eingebaute Umwälzung ihrer Hypothesen – treibt dasselbe
- 240 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
geschichtliche Universum, dieselbe Grunderfahrung vorwärts
und erweitert sie. Sie hält am selben formalen Apriori fest,
das einen sehr materialen, praktischen Inhalt bewirkt. Weit
davon entfernt, den grundlegenden Wandel zu unterschätzen,
der mit der Errichtung der Galileischen Wissenschaft eintrat,
verweist Husserls Interpretation auf den radikalen Bruch
mit der vorgalileischen Tradition; der instrumentalistischc
Denkhorizont war in der Tat ein neuer Horizont. Er schuf
eine neue Welt theoretischer und praktischer Vernunft, aber
er blieb einer spezifischen geschichtlichen Welt verpflichtet, die
ihre offenkundigen Grenzen hat – in der Theorie wie in der
Praxis, in ihren reinen wie in ihren angewandten Methoden.
Die vorangehende Diskussion scheint nicht nur auf die
inneren Schranken und Vorurteile der naturwissenschaftlichen
Methode zu verweisen, sondern auch auf ihre geschichtliche
Subjektivität. Sie scheint überdies das Bedürfnis nach
einer Art »qualitativer Physik«, nach Wiederbelebung
teleologischer Philosophien und so weiter zu implizieren. Ich
gebe zu, daß dieser Verdacht berechtigt ist, kann aber an dieser
Stelle nur versichern, daß derart obskurantistische Ideen nicht
beabsichtigt sind26.
Wie immer man Wahrheit und Objektivität definiert, sie
bleiben auf die menschlichen Triebkräfte von Theorie und
Praxis bezogen und auf deren Fähigkeit, die Welt zu
begreifen und zu verändern. Diese Fähigkeit wiederum
hängt von dem Umfang ab, in dem die Materie (was immer
das sein mag) als das anerkannt und verstanden wird, was
26 Cf. Kapitel 9 und 10.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
sie in allen besonderen Formen ist. In dieser Hinsicht ist
die zeitgenössische Wissenschaft von unermeßlich größerer
objektiver Gültigkeit als ihre Vorgängerinnen. Es ließe sich
sogar hinzufügen, daß gegenwärtig die naturwissenschaftliche
Methode die einzige ist, die solche Gültigkeit beanspruchen
kann; das Wechselspiel von Hypothesen und beobachtbaren
Tatsachen bestätigt die Hypothesen und weist die Tatsachen
nach. Was ich herauszustellen versuche, ist, daß die Wissenschaft
aufgrund ihrer eigenen Methode und Begriffe ein Universum
entworfen und befördert hat, worin die Naturbeherrschung
mit der Beherrschung des Menschen verbunden blieb – ein
Band, das dazu tendiert, sich für dieses Universum als Ganzes
verhängnisvoll auszuwirken. Wissenschaftlich begriffen und
gemeistert, erscheint Natur aufs neue in dem technischen
Produktions- und Destruktionsapparat, der das Leben der
Individuen erhält und verbessert und sie zugleich den Herren
des Apparats unterwirft. So verschmilzt die rationale Hierarchie
mit der gesellschaftlichen. Wenn dem so ist, würde die Änderung
der Richtung des Fortschritts, die dieses verhängnisvolle
Band lösen könnte, auch die Struktur der Wissenschaft selbst
beeinflussen – den Entwurf der Wissenschaft. Ohne ihren
rationalen Charakter zu verlieren, würden ihre Hypothesen
sich in einem wesentlich anderen Erfahrungszusammenhang
(in dem einer befriedeten Welt) entwickeln; die Wissenschaft
würde folglich zu wesentlich anderen Begriffen der Natur
gelangen und wesentlich andere Tatsachen feststellen. Die
vernünftige Gesellschaft untergräbt die Idee der Vernunft.
Ich habe ausgeführt, daß die Elemente dieses Umsturzes,
die Begriffe einer anderen Rationalität, in der Geschichte
- 242 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
des Denkens seit Anbeginn vorhanden waren. Die antike
Idee eines Staates, in dem das Sein zur Erfüllung gelangt, in
dem die Spannung zwischen »Sein« und »Sollen« im Kreislauf
einer ewigen Wiederkehr gelöst wird, hat an der Metaphysik
der Herrschaft teil. Aber sie gehört auch zur Metaphysik
der Befreiung – zur Versöhnung von Logos und Eros. Diese
Idee zielt ab auf das Zur-Ruhe-Kommen der repressiven
Produktivität der Vernunft, auf das Ende der Herrschaft im
Genuß.
Die beiden entgegengesetzten Rationalitäten können nicht
einfach dem klassischen, bzw. dem neuzeitlichen Denken
zugeordnet werden, wie dies John Deweys Formulierung
»von kontemplativer Freude zu aktiver Manipulation und
Kontrolle« und »vom Wissen als ästhetischer Freude an den
Eigenschaften der Natur… zum Wissen als Mittel diesseitiger
Kontrolle« nahelegt27.
Das klassische Denken war der Logik diesseitiger Kontrolle
hinreichend verbunden, und im modernen Denken gibt es eine
Komponente der Anklage und Weigerung, die genügt, um John
Deweys Formulierung zu entkräften. Als begriffliches Denken
und Verhalten ist Vernunft notwendig Gewalt, Herrschaft.
Logos ist Gesetz, Regel, Ordnung aufgrund von Erkenntnis.
Indem es besondere Fälle unter ein Allgemeines subsumiert,
indem es sie ihrem Allgemeinbegriff unterwirft, erlangt das
Denken Gewalt über die besonderen Fälle. Es wird nicht nur
fähig, sie zu begreifen, sondern auch auf sie einzuwirken, sie
27 John Dewey, The Quest of Certainty, New York: Minton, Balch und Co. 1929, S. 95,
l00.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
zu kontrollieren. Während jedoch alles Denken unter der
Herrschaft der Logik steht, ist die Entfaltung dieser Logik
in den verschiedenen Denkweisen verschieden. Die klassische
formale und die moderne symbolische Logik, die transzendentale
und die dialektische Logik – eine jede beherrscht ein
anderes Universum der Sprache und Erfahrung. Sie alle
entwickelten sich innerhalb des geschichtlichen Kontinuums
der Herrschaft, dem sie Tribut zollen. Und dieses Kontinuum
verleiht den positiven Denkweisen ihren konformistischen
und ideologischen, denen des negativen Denkens ihren
spekulativen und utopischen Charakter.
Zusammenfassend können wir jetzt versuchen, das
verborgene Subjekt der wissenschaftlichen Rationalität
und die verborgenen Zwecke in ihrer reinen Form klarer
zu bestimmen. Der wissenschaftliche Begriff einer allseitig
kontrollierbaren Natur entwarf Natur als endlose Materie in
Funktion, als bloßen Stoff von Theorie und Praxis. In dieser
Form ging die Objektwelt in den Aufbau eines technologischen
Universums ein – eines Universums geistiger und materieller
Instrumente, von Mitteln an sich. Sie ist dadurch ein wahrhaft
»hypothetisches« System, das von einem bestätigenden und
verifizierenden Subjekt abhängt.
Die Prozesse der Bestätigung und Verifikation mögen rein
theoretischer Art sein, aber sie spielen sich niemals in einem
Vakuum ab und münden niemals ein in einen privaten,
individuellen Geist. Das hypothetische System von Formen
und Funktionen wird abhängig von einem anderen System –
- 244 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
einem vorgegebenen Universum von Zwecken, in dem und für
welches es sich entwickelt. Was dem theoretischen Entwurf
äußerlich, fremd erschien, erweist sich als Teil seiner Struktur
(Methode und Begriffe) selbst; reine Objektivität offenbart
sich als Objekt für eine Subjektivität, die das Telos, die Zwecke
bereitstellt. Beim Aufbau der technologischen Wirklichkeit
gibt es nicht so etwas wie eine rein rationale wissenschaftliche
Ordnung; der Prozeß technologischer Rationalität ist ein
politischer Prozeß.
Nur im Medium der Technik werden Mensch und
Natur ersetzbare Objekte der Organisation. Die allseitige
Leistungsfähigkeit und Produktivität des Apparats,
unter den sie subsumiert werden, verschleiern die den
Apparat organisierenden partikularen Interessen. Mit
anderen Worten, die Technik ist zum großen Vehikel der
Verdinglichung geworden – der Verdinglichung in ihrer
ausgebildetsten und wirksamsten Form. Die gesellschaftliche
Stellung des Individuums und seine Beziehung zu anderen
scheinen nicht nur durch objektive Qualitäten und Gesetze
bestimmt, sondern diese Qualitäten und Gesetze scheinen auch
ihren geheimnisvollen und unkontrollierbaren Charakter
zu verlieren; sie erscheinen als berechenbare Manifestationen
(wissenschaftlicher) Rationalität. Die Welt tendiert dazu, zum
Stoff totaler Verwaltung zu werden, die sogar die Verwalter
verschlingt. Das Gewebe der Herrschaft ist zum Gewebe
der Vernunft selbst geworden, und diese Gesellschaft ist
verhängnisvoll darein verstrickt. Und die transzendierenden
Denkweisen scheinen die Vernunft selbst zu transzendieren.
- 245 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Unter diesen Bedingungen nimmt das wissenschaftliche
Denken (wissenschaftlich im weiten Sinne, als unklarem,
metaphysischem, gefühlsbetontem, unlogischem Denken
entgegengesetzt) außerhalb der Naturwissenschaften
auf der einen Seite die Form eines reinen und in sich
abgeschlossenen Formalismus (Symbolismus) an und die
eines totalen Empirismus auf der anderen. (Der Gegensatz
ist kein Widerspruch. Man denke an die sehr empirische
Anwendung von Mathematik und symbolischer Logik
in den elektronischen Industrien.) In Bezug auf das
bestehende Universum von Sprache und Verhalten sind
Nichtwiderspruch und Nichttranszendenz der gemeinsame
Nenner. Der totale Empirismus offenbart seine ideologische
Funktion in der zeitgenössischen Philosophie. Im Hinblick auf
diese Funktion werden im folgenden Kapitel einige Aspekte
der Sprachanalyse diskutiert. Diese Diskussion soll den
Versuch vorbereiten, die Schranken aufzuweisen, die diesen
Empirismus davon abhalten, die Wirklichkeit in den Griff zu
bekommen, und führt die Begriffe ein (oder vielmehr wieder
ein), die diese Schranken durchbrechen können.
- 246 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
7 Der Triumph des positiven Denkens:
eindimensionale Philosophie
Die Neubestimmung des Denkens, die dazu beiträgt,
die geistigen Operationen denen in der gesellschaftlichen
Wirklichkeit gleichzuordnen, zielt ab auf eine Therapie.
Das Denken steht dann mit der Wirklichkeit auf einer
Ebene, wenn es davon geheilt ist, Begriffe zu überschreiten,
die entweder rein axiomatisch sind (Logik, Mathematik)
oder sich mit dem bestehenden Universum von Sprache und
Verhalten decken. So behauptet die Sprachanalyse, Denken
und Sprache von verwirrenden metaphysischen Begriffen
zu heilen – von »Geistern« einer weniger entwickelten und
weniger wissenschaftlichen Vergangenheit, die noch immer
den Verstand heimsuchen, obgleich sie weder etwas bezeichnen
noch erklären. Betont wird die therapeutische Funktion der
philosophischen Analyse – die Korrektur abnormen Verhaltens
im Denken und Sprechen, die Beseitigung von Dunkelheiten,
Illusionen und Schrullen oder zumindest ihre Bloßstellung.
In Kapitel 4 diskutierte ich den therapeutischen Empirismus
der Soziologie, der darin besteht, abnormes Verhalten in den
Industriebetrieben aufzudecken und zu korrigieren; ein
Verfahren, das zugleich jene kritischen Begriffe ausschloß,
die es vermöchten, ein solches Verhalten auf die Gesellschaft
als Ganzes zu beziehen. Kraft dieser Beschränkung wird
das theoretische Verfahren unmittelbar praktisch. Es ersinnt
Methoden besseren Managements, sichereren Planens, größerer
Leistungsfähigkeit, strengerer Kalkulation. Auf dem Wege der
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Korrektur und Aufbesserung endet die Analyse in Affirmation;
der Empirismus erweist sich als positives Denken.
Derart unmittelbar wird die philosophische Analyse nicht
angewandt. Verglichen mit den Weisen, in denen Soziologie
und Psychologie realisiert werden, bleibt die therapeutische
Behandlung des Denkens akademisch. In der Tat können
exaktes Denken und die Befreiung von metaphysischen
Gespenstern und sinnlosen Begriffen als Selbstzweck
angesehen werden. Zudem ist die Behandlung des Denkens
in der Sprachanalyse dessen eigenste Angelegenheit und sein
eigenes Recht. Ihr ideologischer Charakter darf nicht dadurch
präjudiziert werden, daß der Kampf gegen das begriffliche
Transzendieren des bestehenden Universums der Sprache
mit dem Kampf gegen ein politisches Transzendieren der
bestehenden Gesellschaft in Zusammenhang gebracht wird.
Wie jede Philosophie, die diesen Namen verdient, steht
die Sprachanalyse für sich ein und bestimmt ihre eigene
Haltung gegenüber der Realität. Als ihr Hauptinteresse gibt
sie die Entzauberung transzendenter Begriffe an; zu ihrem
Bezugssystem erklärt sie den alltäglichen Gebrauch der
Wörter, die Mannigfaltigkeit des vorherrschenden Verhaltens.
Mit diesen Merkmalen umschreibt sie ihre Stellung in
der philosophischen Tradition – nämlich als Gegenpol zu
denjenigen Denkweisen, die ihre Begriffe in der Spannung,
ja im Widerspruch mit dem herrschenden Universum der
Sprache und des Verhaltens ausarbeiteten.
Im Sinne des bestehenden Universums sind solche
widersprechenden Denkweisen negatives Denken. »Die
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Macht des Negativen« ist das Prinzip, das die Entwicklung
des Denkens bestimmt, und der Widerspruch wird zur
unterscheidenden Qualität der Vernunft (Hegel). Diese
Qualität des Denkens war nicht auf einen bestimmten Typ von
Rationalismus beschränkt; sie war auch in der empiristischen
Tradition ein entscheidendes Element. Empirismus ist nicht
notwendigerweise positiv; seine Haltung zur herrschenden
Wirklichkeit hängt von der besonderen Dimension der
Erfahrung ab, die als Erkenntnisquelle und grundlegendes
Bezugssystem fungiert. Zum Beispiel scheinen Sensualismus
und Materialismus per se einer Gesellschaft negativ
gegenüberzustehen, in der vitale, triebmäßige und materielle
Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Demgegenüber bewegt sich der
Empirismus der Sprachanalyse innerhalb eines Rahmens,
der einen solchen Widerspruch nicht gestattet – die selbst
auferlegte Beschränkung auf das vorherrschende Universum
des Verhaltens bewirkt eine zutiefst positive Haltung. Trotz
des streng neutralen Ansatzes des Philosophen fällt die
von vornherein begrenzte Analyse der Macht des positiven
Denkens zum Opfer.
Ehe ich es unternehme, diesen wesentlich ideologischen
Charakter der Sprachanalyse nachzuweisen, muß ich versuchen,
mein scheinbar willkürliches und herabsetzendes Spiel mit
den Termini »positiv« und »Positivismus« durch eine kurze
Anmerkung zu ihrem Ursprung zu rechtfertigen. Seit seiner
ersten Anwendung, wahrscheinlich in der Schule von Saint-
Simon, hat der Begriff »Positivismus« eingeschlossen: 1. die
Bestätigung des erkennenden Denkens durch die Erfahrung
von Tatsachen; 2. die Orientierung des erkennenden Denkens
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
an den Naturwissenschaften als dem Modell für Sicherheit
und Exaktheit; 3. der Glaube, daß der Fortschritt der
Erkenntnis von dieser Orientierung abhängt. Demgemäß
ist der Positivismus ein Kampf gegen alle Metaphysiken,
Transzendentalismen und Idealismen als obskurantistischen
und regressiven Denkweisen. In dem Maße, wie die gegebene
Wirklichkeit wissenschaftlich begriffen und transformiert
wird, in dem Maße, wie die Gesellschaft industriell und
technologisch wird, findet der Positivismus in der Gesellschaft
das Medium zur Verwirklichung (und Bestätigung) seiner
Begriffe – Harmonie zwischen Theorie und Praxis, Wahrheit
und Tatsachen. Philosophisches Denken geht in affirmatives
Denken über: die philosophische Kritik kritisiert innerhalb der
Gesellschaft und brandmarkt nicht-positive Begriffe als bloße
Spekulation, Träume oder Phantasien1.
Das Universum von Sprache und Verhalten, das in
Saint-Simons Positivismus aufzutreten beginnt, ist das der
technologischen Wirklichkeit. In ihr wird die Objektwelt in ein
Mittel überführt. Viel von dem, was sich bis dahin außerhalb
der instrumentellen Welt befindet – unbewältigte, blinde
Natur - erscheint jetzt in der Reichweite des wissenschaftlichen
und technischen Fortschritts. Die metaphysische Dimension,
1 Die konformistische Haltung des Positivismus gegenüber radikal nonkonformistischen
Denkweisen erscheint wohl zum ersten Mal in der positivistischen Anklage gegen
Fourier. Fourier selbst (in: La Fausse Industrie, 1835, Band I, S. 409) hat die totale
Kommerzialisierung der bürgerlichen Gesellschaft als die Frucht »unseres Fortschritts
in Rationalismus und Positivismus« angesehen. Zitiert nach Andre Lalande, Vocabulaire
Technique et Critique de la Philosophie, Paris, Presses Universitaires de France, 1956,
S. 792. Zu den verschiedenen Nebenbedeutungen des Terminus »positiv« in der neuen
Sozialwissenschaft und im Gegensatz zu »negativ« cf. Doctrine de Saint-Simon, ed.
Bouglé und Halévy, Paris, Rivière, 1924, S. 181 f. dt.: Die Lehre Saint-Simons, hg. v.
G. Salomon-Delatour, Neuwied 1962.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
zuvor ein genuiner Bereich rationalen Denkens, wird irrational
und unwissenschaftlich. Auf dem Boden ihrer eigenen
Leistungen weist die Vernunft Transzendenz von sich. Auf
der späteren Stufe, im gegenwärtigen Positivismus, ist es
nicht mehr der wissenschaftliche und technische Fortschritt,
der diese Ablehnung motiviert; jedoch ist die Verkürzung des
Denkens nicht weniger streng, weil sie selbstauferlegt ist – die
eigene Methode der Philosophie. Das gegenwärtige Bemühen,
Reichweite und Wahrheit der Philosophie zu reduzieren,
ist erschreckend, und die Philosophen selber verkünden die
Bescheidenheit und Fruchtlosigkeit der Philosophie. Sie läßt
die bestehende Wirklichkeit unberührt; sie verabscheut es, über
sie hinauszugehen.
Austins verächtliche Behandlung der Alternativen zum
alltäglichen Gebrauch der Wörter und seine Diffamierung
dessen, was wir uns »eines Nachmittags im Sessel ausdenken«
; Wittgensteins Versicherung, daß die Philosophie »alles so
läßt, wie es ist« - solche Feststellungen2 legen nach meinem
Dafürhalten einen akademischen Sadomasochismus an den Tag,
eine Selbsterniedrigung und Selbstanklage des Intellektuellen,
dessen Arbeit sich nicht auf wissenschaftliche, technische
oder ähnliche Ergebnisse beschränkt. Diese Beteuerungen von
Bescheidenheit und Abhängigkeit scheinen Humes Gesinnung,
sich rechtschaffen mit den Grenzen der Vernunft abzufinden,
wieder aufzunehmen, die, einmal anerkannt und gebilligt, den
2 Ähnliche Deklarationen finden sich bei Ernest Gellner, Words and Things, Boston: Beacon
Press, 1959, cf. S. 100, 256 ff. Der Satz, daß die Philosophie alles so läßt, wie es ist,
mag im Zusammenhang der Marxschen Thesen über Feuerbach (wo er zugleich verneint
wird) wahr sein oder als Selbstcharakterisicrung des Neopositivismus; als eine allgemeine
Aussage über das philosophische Denken ist er falsch.
- 251 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Menschen vor nutzlosen geistigen Abenteuern bewahren, ihn
aber durchaus in den Stand setzen, sich in der gegebenen
Umwelt zu orientieren. Als jedoch Hume die Substanzen um
ihren Kredit brachte, bekämpfte er eine mächtige Ideologie,
während seine heutigen Nachfolger eine intellektuelle
Rechtfertigung für das liefern, was die Gesellschaft
längst erreicht hat – nämlich die Diffamierung alternativer
Denkweisen, die dem herrschenden Universum der Sprache
widerstreiten.
Der Stil, in dem dieser philosophische Behaviorismus
sich darstellt, wäre einer Analyse wert. Er scheint sich
zwischen den Polen päpstlicher Autorität und gutmütiger
Anbiederung zu bewegen. Beide Tendenzen sind bruchlos
verschmolzen in Wittgensteins immer wiederkehrendem
Gebrauch des Imperativs mit dem intimen oder herablassenden
»Du«3; oder in dem einleitenden Kapitel von Gilbert Ryles
Buch The Concept of Mind, in dem auf die Darstellung von
»Descartes’ Mythos« als der »offiziellen Lehre« über das
Verhältnis von Leib und Seele der vorläufige Nachweis ihrer
»Absurdität« folgt, bei dem dann Herr Schulze und Herr
Müller und was sie vom »durchschnittlichen Steuerzahler«
halten, beschworen werden.
Oberall im Werk der Sprachanalytiker findet sich diese
Vertrautheit mit dem Mann auf der Straße, dessen
3 Philosophische Untersuchungen, in: Schriften, Frankfurt am Main 1960: »und deine
Skrupel sind Mißverständnisse. Deine Fragen beziehen sich auf Wörter…« (S. 344).
»Denk doch einmal gar nicht an das Verstehen als >seelischen Vorgang<! – Denn das
ist die Redeweise, die dich verwirrt. Sondern frage dich…« (S. 358). »Überlege dir
folgenden Fall…« (S. 360) und passim.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Unterhaltung in der linguistischen Philosophie eine solch
führende Rolle spielt. Die Intimität in der Redeweise ist insofern
wesentlich, als sie von vornherein das »hochgestochene«
Vokabular der »Metaphysik« ausschließt; sie widersetzt sich
vernünftiger Nichtanpassung; sie macht den Intellektuellen
lächerlich. Die Sprache von Herrn Schulze und Herrn Müller
ist die Sprache, die der Mann auf der Straße wirklich spricht;
sie ist die Sprache, die sein Verhalten ausdrückt; sie ist damit
das Zeichen für Konkretheit. Sie ist jedoch auch das Zeichen
einer falschen Konkretheit. Diese Sprache, die für die Analyse
meist das Material bereitstellt, ist eine gereinigte Sprache,
gereinigt nicht nur von ihrem »unorthodoxen« Vokabular,
sondern auch von dem Vermögen, irgendwelche anderen
Inhalte auszudrücken als die, mit denen heute die Individuen
von ihrer Gesellschaft versorgt werden. Der Sprachanalytiker
sieht in dieser gereinigten Sprache eine vollendete Tatsache,
und er nimmt die verarmte Sprache, wie er sie vorfindet, wobei
er sie absondert von dem, was in ihr nicht ausgedrückt wird,
obgleich es als Bedeutungselement und -faktor in das etablierte
Universum der Sprache eingeht.
Indem sie der vorherrschenden Mannigfaltigkeit von
Bedeutungen und Verfahrensweisen, der Macht und dem
gesunden Menschenverstand der Alltagssprache Achtung zollt
und dabei (als von außen kommendes Material) die Analyse
dessen unterbindet, was diese Sprache über die Gesellschaft
mitteilt, die sich ihrer bedient, unterdrückt die linguistische
Philosophie noch einmal, was in diesem Universum von
Sprache und Verhalten fortwährend unterdrückt wird. Die
Autorität der Philosophie erteilt den Kräften ihren Segen,
- 253 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
die dieses Universum hervorbringen. Die Sprachanalyse
abstrahiert von dem, was die Alltagssprache enthüllt, indem
sie in ihrer Weise spricht – die Verstümmelung von Mensch
und Natur.
Überdies läßt sich die Analyse nur zu oft nicht einmal von
der Alltagssprache leiten, sondern vielmehr von aufgeblasenen
Sprachatomen, albernen Redefetzen, die sich wie kindliches
Geplapper anhören. Etwa so: »This looks to me now like a
man eating poppies (Das sieht mir jetzt wie ein Mann aus,
der Mohn ißt)«; »He saw a robin (Er sah ein Rotkehlchen)«;
»I had a hat (Ich hatte einen Hut)«. Wittgenstein verwendet
viel Scharfsinn und Raum auf die Analyse von »Mein Besen
steht in der Ecke«. Ich zitiere als repräsentatives Beispiel eine
Analyse aus J. L. Austins Buch »Other Minds«4:
»Zwei recht verschiedene Arten des Zögerns lassen sich
unterscheiden.
a) Nehmen wir den Fall, daß wir einen bestimmten
Geschmack haben. Wir können sagen: >Ich weiß einfach
nicht, was es ist: ich habe nie zuvor etwas geschmeckt,
was auch nur entfernt so war… Nein, es hat keinen Sinn: je
mehr ich darüber nachdenke, desto verwirrter werde ich:
es ist völlig anders und völlig unverwechselbar, etwas ganz
Einzigartiges in meiner Erfahrung!< Das illustriert den Fall,
in dem ich in meiner vergangenen Erfahrung nichts finden
kann, womit ich den vorliegenden Fall vergleichen könnte:
4 In: Logic und Language, Second Series, ed. A. Flew, Oxford, Blackwell, 1959, S.
137 f. (Austins Fußnoten sind ausgelassen). Auch hier demonstriert die Philosophie
ihre getreue Übereinstimmung mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, indem sie sich
der üblichen Abkürzungen bedient- »Don’t…«, »isn’t…«.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
ich bin sicher, daß es keinesfalls so ist wie etwas, das ich
je zuvor schmeckte, nicht hinlänglich wie etwas, von dem
ich weiß, daß es dieselbe Beschreibung verdient. Obgleich
unterscheidbar genug, schattet sich dieser Fall allmählich in
den gewöhnlicheren Typ ab, bei dem ich nicht ganz sicher
bin oder nur einigermaßen sicher oder praktisch sicher, daß
es sich etwa um den Geschmack von Lorbeer handelt. In all
diesen Fällen bin ich bestrebt, den vorliegenden Gegenstand
wiederzuerkennen, indem ich in meiner vergangenen
Erfahrung nach etwas Ähnlichem suche, nach einer
Ähnlichkeit, aufgrund deren er, mehr oder weniger positiv,
verdient, durch dasselbe beschreibende Wort beschrieben zu
werden, und das gelingt mir verschieden gut.
b) Der andere Fall ist anders, obgleich er sich in sehr
natürlicher Weise mit dem ersten verbindet. Was ich hierbei
versuche, ist, daß ich die vorliegende Erfahrung berieche, sie
anschaue, sie lebendig sinnlich erfasse. Ich bin nicht sicher,
ob es der Geschmack von Ananas ist: ist nicht vielleicht
irgendetwas Eigentümliches an ihm, ein Brennen, ein
fehlendes Brennen, eine widerliche Empfindung, was alles auf
Ananas nicht ganz zutrifft? Ist da nicht ein eigentümlicher
Hinweis auf Grün, der Hellviolett ausscheiden würde und
kaum für die Malvenfarbe zuträfe? Oder ist es vielleicht ein
wenig seltsam: ich muß schärfer hinsehen, den Tatbestand
immer wieder prüfen: vielleicht ist da doch die Andeutung
eines unnatürlichen Schimmers, so daß es nicht ganz wie
gewöhnliches Wasser aussieht. In dem, was wir tatsächlich
sinnlich wahrnehmen, ist ein Mangel an Bestimmtheit, der
nicht oder nicht nur durchs Denken zu beheben ist, sondern
- 255 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
durch schärfere Wahrnehmung, sinnliche Unterscheidung
(obgleich es natürlich wahr ist, daß das Denken an andere,
deutlicher ausgeprägte Fälle unserer vergangenen Erfahrung
unserem Unterscheidungsvermögen helfen kann und auch
hilft«.
Was ist an dieser Analyse auszusetzen? An Exaktheit und
Klarheit ist sie wahrscheinlich nicht zu übertreffen – sie ist
richtig. Aber das ist auch alles, und ich wende nicht nur ein, daß
sie nicht genügt, sondern daß sie das philosophische Denken und
das kritische Denken als solches zerstört. Vom philosophischen
Gesichtspunkt erheben sich zwei Fragen:
1. kann die Erläuterung von Begriffen (oder Wörtern)
sich jemals am gegebenen Universum der Alltagssprache
orientieren und darin einmünden?
2. sind Exaktheit und Klarheit Selbstzweck oder sind sie
anderen Zwecken verpflichtet?
Ich beantworte die erste Frage positiv, was ihren ersten Teil
angeht. Die banalsten Beispiele der Sprache können gerade
wegen ihres banalen Charakters die empirische Welt in ihrer
Realität erhellen und dazu dienen, unser Denken und Reden
über sie zu erklären – wie dies in Sartres Analysen einer Gruppe
von Menschen der Fall ist, die auf einen Bus wartet, oder in
Karl Kraus’ Analyse der Tageszeitungen. Solche Analysen sind
erhellend, weil sie über die unmittelbare Konkretheit der Lage
und ihren Ausdruck hinausgehen. Sie gehen über sie in Richtung
auf die Faktoren hinaus, die die Lage und das Verhalten der
- 256 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Menschen herbeiführen, die in dieser Lage sprechen (oder
schweigen). (In den eben angeführten Beispielen werden diese
transzendenten Faktoren auf die gesellschaftliche Teilung der
Arbeit zurückgeführt.) Hier mündet die Analyse nicht ein ins
Universum der Alltagssprache, sondern überschreitet es und
eröffnet ein qualitativ anderes Universum, dessen Termini dem
gewöhnlichen sogar widersprechen können.
Um das noch etwas zu erläutern: Sätze wie »mein
Besen steht in der Ecke« könnten auch in Hegels Logik
vorkommen, würden aber dort als unangemessene oder gar
falsche Beispiele enthüllt. Sie wären nur Abhub, über den
eine Sprache hinweggehen muß, die nach Begriffen, Stil und
Syntax einer anderen Ordnung angehört – eine Sprache, für
die es keineswegs »klar ist, daß jeder Satz unserer Sprache >in
Ordnung ist, wie er ist<«5. Vielmehr ist das genaue Gegenteil
der Fall – nämlich daß jeder Satz so wenig in Ordnung ist wie
die Welt, die in dieser Sprache kommuniziert wird.
Die geradezu masochistische Reduktion der Sprache aufs
Bescheidene und Gewöhnliche wird zum Programm erhoben:
Wenn die Worte »Sprache«, »Erfahrung«, »Welt« eine
Verwendung haben, so muß sie eine so niedere sein wie die
der Worte »Tisch«, »Lampe«, »Tür«6. Wir müssen »bei den
Dingen des alltäglichen Denkens bleiben… und nicht auf
den Abweg… geraten, wo es scheint, als müßten wir die
letzten Feinheiten beschreiben…«7 als ob dies die einzige
–
Alternative wäre und als ob die »letzten Feinheiten« nicht eher
5 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1. c. S. 339.
6 Ibid.
7 Ibid. S. 431.
- 257 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
für Wittgensteins Sprachspiele der passende Ausdruck wären
als für Kants Kritik der reinen Vernunft. Das Denken (oder
zumindest sein Ausdruck) wird nicht nur in die Zwangsjacke
des alltäglichen Sprachgebrauchs gepreßt, sondern auch dazu
verhalten, keine Lösungen anzustreben und zu suchen, die
über die bereits vorhandenen hinausgehen. »Die Probleme
werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung,
sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten«.8
Mit all seinen Begriffen dem gegebenen Zustand verpflichtet,
mißtraut das selbststilisierte Elend der Philosophie den
Möglichkeiten einer neuen Erfahrung. Die Unterwerfung
unter die Herrschaft der etablierten Tatsachen ist total – zwar
sind es nur sprachliche Tatsachen, aber die Gesellschaft
redet in ihrer Sprache, und die gebietet uns zu gehorchen.
Die Verbote sind streng und autoritär: »Die Philosophie darf
den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise
antasten«.9 »Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen.
Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein.
Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle
treten«.10
Man könnte fragen, was bleibt dann von der Philosophie
übrig? Was bleibt vom Denken, was von der Einsicht übrig
ohne etwas Hypothetisches, ohne jede Erklärung? Was
jedoch auf dem Spiel steht, ist nicht die Definition oder
Würde der Philosophie. Es ist vielmehr die Chance, das Recht
und das Bedürfnis zu wahren und zu schützen, in anderen
8 Ibid. S. 342.
9 Ibid. S. 345.
10 Ibid. S. 342.
- 258 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Ausdrücken als denen des alltäglichen Gebrauchs zu sprechen
und zu denken – Ausdrücke, die gerade deshalb sinnvoll,
rational und verbindlich sind, weil sie andere Ausdrücke sind.
Worum es geht, ist die Ausbreitung einer neuen Ideologie, die
sich vornimmt zu beschreiben, was geschieht (und gemeint ist),
indem sie diejenigen Begriffe eliminiert, die fähig sind zu
verstehen, was geschieht (und gemeint ist).
Zunächst einmal besteht ein unaufhebbarer Unterschied
zwischen dem Universum des alltäglichen Denkens und
Sprechens auf der einen Seite und dem des philosophischen
Denkens und Sprechens auf der anderen. Unter normalen
Umständen ist die gewöhnliche Sprache in der Tat eine
Angelegenheit des Verhaltens – ein praktisches Instrument.
Wenn jemand tatsächlich sagt, »mein Besen steht in der
Ecke«, so hat er wahrscheinlich im Sinn, daß ein anderer, der
gerade nach diesem Besen gefragt hat, ihn nehmen oder ihn
dort lassen, zufriedengestellt oder aufgebracht sein wird.
Jedenfalls hat der Satz seine Funktion erfüllt, indem er
eine verhaltensmäßige Reaktion hervorruft: »Die Wirkung
verschlingt die Ursache, der Zweck absorbiert die Mittel«11.
Wenn demgegenüber in einem philosophischen Text
oder in philosophischer Rede das Wort »Substanz«, »Idee«,
»Mensch«, »Entfremdung« zum Subjekt eines Satzes wird, so
findet keine derartige Transformation der Bedeutung in eine
Verhaltensreaktion statt, noch ist sie intendiert. Das Wort bleibt
sozusagen unerfüllt – ausgenommen im Denken, wo es das
11 Paul Valéry, »Poésie et pensée abstraite«, in: Oeuvres, 1. c. S. 1331. Cf. auch »Les
Droits du poète sur la langue«, in: Pièces sur l’art, Paris, Gallimard, 1934, S. 47 f.
- 259 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Entstehen anderer Gedanken bewirken kann. Und auf dem
Weg einer langen Reihe von Vermittlungen innerhalb eines
geschichtlichen Kontinuums kann der Satz helfen, eine Praxis
auszubilden und anzuleiten. Aber selbst dann bleibt der Satz
unerfüllt – nur die Hybris des absoluten Idealismus behauptet
die These einer letztlichen Identität zwischen dem Denken
und seinem Objekt. Die Worte, mit denen die Philosophie
es zu tun hat, können deshalb niemals eine so bescheidene
Verwendung haben »wie die Worte >Tisch<, >Lampe<, >Tür<«.
Exaktheit und Klarheit in der Philosophie sind daher nicht
innerhalb des Universums der Alltagssprache zu erreichen.
Die philosophischen Begriffe zielen auf eine Dimension
von Tatsache und Bedeutung ab, welche die atomisierten
Sätze oder Wörter der Alltagssprache »von außen« erhellt,
wobei sie zeigt, daß dieses »Außen« für das Verständnis der
Alltagssprache wesentlich ist. Anders ausgedrückt: wenn
das Universum der Alltags-Sprache selbst zum Gegenstand
philosophischer Analyse wird, wird die Sprache der
Philosophie zu einer »Metasprache«12. Selbst wenn sie sich in
den bescheidenen Ausdrücken der Alltagssprache bewegt, bleibt
sie ihr gegenüber antagonistisch. Sie löst den bestehenden,
empirisch begründeten Bedeutungszusammenhang auf in den
wirklichen; sie abstrahiert von der unmittelbaren Konkretheit,
um zur wahren zu gelangen.
Aus dieser Position betrachtet, werden die oben angeführten
Beispiele der Sprachanalyse als angemessene Gegenstände
einer philosophischen Analyse anfechtbar. Kann die exakteste
12 Cf. S. 209 f.
- 260 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
und erhellendste Beschreibung dessen, was gekostet wird
und wie Ananas schmecken kann oder auch nicht, jemals
zur philosophischen Erkenntnis beitragen? Kann sie jemals
als Kritik dienen, bei der es um strittige menschliche
Verhältnisse geht – um andere als um die medizinischer oder
psychologischer Geschmacksprüfung; Verhältnisse, auf die
Austins Analyse sicher nicht abzielt. Dem größeren und
dichteren Zusammenhang entzogen, in dem der Sprecher
spricht und lebt, wird das Objekt der Analyse aus dem
umfassenden Medium herausgenommen, in dem Begriffe
gebildet und zu Wörtern werden. Worin besteht dieser
umfassende, größere Zusammenhang, in dem die Menschen
sprechen und handeln und der ihrem Sprechen Bedeutung
verleiht – dieser Zusammenhang, der in der positivistischen
Analyse nicht erscheint, der a priori durch die Beispiele wie
durch die Analyse selbst abgeschnitten wird?
Dieser größere Zusammenhang von Erfahrung, diese
wirkliche, empirische Welt ist heute immer noch die der
Gaskammern und Konzentrationslager, von Hiroshima
und Nagasaki, von amerikanischen Cadillacs und deutschen
Mercedeswagen, die des Pentagon und des Kreml, nuklearer
Städte und chinesischer Kommunen, von Kuba, von
Gehirnwäsche und Massakern. Aber die wirkliche, empirische
Welt ist zugleich die, in der diese Dinge als selbstverständlich
hingenommen, vergessen oder verdrängt werden oder
unbekannt sind, in der die Menschen frei sind. Es ist eine
Welt, in der der Besen in der Ecke oder der Geschmack
»von etwas wie Ananas« recht wichtig sind, in der tägliche
Mühe und tägliche Bequemlichkeiten vielleicht die einzigen
- 261 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Tatbestände sind, die alle Erfahrung ausmachen. Und dieses
zweite, beschränkte empirische Universum ist ein Teil des
ersten; die Mächte, die das erste beherrschen, gestalten auch die
beschränkte Erfahrung.
Freilich ist es nicht die Aufgabe des gewöhnlichen Denkens
in der gewöhnlichen Sprache, diese Beziehung herauszustellen.
Wenn es sich darum handelt, den Besen zu finden oder die
Ananas zu kosten, ist die Abstraktion berechtigt, und die
Bedeutung kann ermittelt und beschrieben werden, ohne daß
man ins politische Universum überwechselt. In der Philosophie
aber geht es nicht darum, den Besen zu finden oder die Ananas
zu kosten - und noch viel weniger sollte heute eine empirische
Philosophie sich auf abstrakter Erfahrung begründen.
Ebensowenig wird diese Abstraktheit behoben, wenn die
Sprachanalyse auf politische Ausdrücke und Sätze angewandt
wird. Ein ganzer Zweig der analytischen Philosophie ist mit
diesem Unternehmen befaßt, aber schon die Methode sperrt die
Begriffe einer politischen, das heißt kritischen Analyse aus. Die
Operationelle oder behavioristische Übersetzung gleicht Worte
wie »Freiheit«, »Regierung«, »England« solchen wie »Besen«
und »Ananas« an und die Realität jener der Realität dieser.
Die Umgangssprache in ihrem »bescheidenen Gebrauch«
kann für das kritische philosophische Denken in der Tat von
hoher Wichtigkeit sein, aber im Medium dieses Denkens
verlieren die Wörter ihre plane Bescheidenheit und enthüllen
jenes »verborgene« Etwas, das für Wittgenstein ohne Interesse
ist. Man betrachte die Analyse des »Hier« und »Jetzt« in Hegels
Phänomenologie oder (sit venia verbo!) Lenins Vorschlag,
- 262 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
wie »dieses Glas Wasser« auf dem Tisch angemessen zu
analysieren sei. Eine solche Analyse deckt in der Alltagssprache
die Geschichte13 auf als eine verborgene Bedeutungsdimension
– die Herrschaft der Gesellschaft über ihre Sprache. Und dieses
Aufdecken zerbricht die natürliche und verdinglichte Form, in
der das gegebene Universum der Sprache zunächst erscheint.
Die Worte enthüllen sich als wahrhafte Termini nicht nur in
einem grammatischen und formallogischen, sondern auch in
einem materiellen Sinne, nämlich als die Grenzen, welche
die Bedeutung und ihre Entwicklung umschließen – als die
Termini, die von der Gesellschaft dem Sprechen und Verhalten
auferlegt werden. Diese historische Bedeutungsdimension läßt
sich nicht mehr durch Beispiele wie »mein Besen steht in der
Ecke« oder »auf dem Tisch ist Käse« erhellen. Freilich können
solche Aussagen viele Zweideutigkeiten, Verwirrungen und
Schrullen aufdecken, aber sie alle gehören demselben Bereich
von Sprachspielen und akademischer Langeweile an.
Indem sie sich an dem verdinglichten Universum
alltäglichen Redens orientiert und dieses Reden in den
Begriffen dieses verdinglichten Universums darstellt und
erläutert, abstrahiert die Analyse vom Negativen, von dem,
was entfremdet und antagonistisch ist und in den Begriffen des
herrschenden Sprachgebrauchs nicht verstanden werden kann.
Dadurch, daß sie Bedeutungen klassifiziert, unterscheidet
und auseinanderhält, reinigt sie Denken und Sprache von
Widersprüchen, Illusionen und Überschreitungen. Aber die
Überschreitungen sind nicht die der »reinen Vernunft«. Sie sind
13 Cf. S. 98.
- 263 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
keine metaphysischen Überschreitungen der Grenzen möglicher
Erkenntnis, sie eröffnen vielmehr einen Erkenntnisbereich
jenseits des gesunden Menschenverstandes und der formalen
Logik.
Indem sie den Zugang zu diesem Bereich versperrt, errichtet
die positivistische Philosophie eine eigene, selbstgenügsame
Welt, geschlossen und vor dem Eindringen störender
Außenfaktoren geschützt. In dieser Hinsicht ist es von
geringer Bedeutung, ob der begründende Zusammenhang
der der Mathematik, logischer Sätze oder der von Sitte und
herkömmlichem Sprachgebrauch ist. Auf die eine oder andere
Art wird über alle möglicherweise sinnvollen Prädikate im
voraus entschieden. Das im voraus entschiedene Urteil könnte
so umfassend sein wie die gesprochene englische Sprache, das
Wörterbuch oder irgendein Kodex oder eine Konvention sonst.
Einmal akzeptiert, bildet es ein empirisches Apriori, das nicht
transzendiert werden kann.
Aber dieses radikale Hinnehmen des Empirischen verletzt
das Empirische; denn in ihm spricht das verstümmelte,
»abstrakte« Individuum sich aus, das nur das erfährt (und
ausdrückt), was ihm (in einem wörtlichen Sinne) gegeben
ist, das nur die Fakten und nicht die Faktoren hat, dessen
Verhalten eindimensional und manipuliert ist. Aufgrund
der tatsächlichen Unterdrückung ist die erfahrene Welt das
Resultat einer beschränkten Erfahrung, und die positivistische
Säuberung des Geistes schaltet diesen mit der beschränkten
Erfahrung gleich.
- 264 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
In dieser gereinigten Form wird die empirische Welt zum
Gegenstand positiven Denkens. Bei all seinem Erforschen,
Bloßstellen und Klären von Zweideutigkeiten und
Dunkelheiten gibt der Neopositivismus sich nicht mit der
großen und allgemeinen Zweideutigkeit und Dunkelheit ab,
die das vorgegebene Universum der Erfahrung ist. Und es
muß außer Betracht bleiben, weil die von dieser Philosophie
angenommene Methode diejenigen Begriffe diskreditiert oder
»übersetzt«, die das Verständnis der etablierten Wirklichkeit
in ihrer repressiven und irrationalen Struktur anleiten könnten
– die Begriffe des negativen Denkens. Die Umformung des
kritischen in positives Denken findet hauptsächlich in der
therapeutischen Behandlung der Allgemeinbegriffe statt;
ihre Übersetzung in operationelle und behavioristische
Termini läuft parallel zu der oben erörterten soziologischen
Übersetzung.
Der therapeutische Charakter der philosophischen Analyse
wird stark betont – daß sie von Illusionen, Täuschungen,
Dunkelheiten, unlösbaren Rätseln, unbeantwortbaren Fragen,
von Geistern und Gespenstern kuriert. Wer ist der Patient?
Offenbar eine bestimmte Art von Intellektuellen, deren
Geist und Sprache mit den Ausdrücken der gewöhnlichen
Sprache nicht übereinstimmen. In der Tat ist ein gutes Stück
Psychoanalyse in dieser Philosophie enthalten – Analyse
ohne Freuds grundlegende Einsicht, daß die Verlegenheit des
Patienten in einer allgemeinen Krankheit verwurzelt ist, die
nicht durch analytische Therapie kuriert werden kann. Anders
ausgedrückt, in gewissem Sinn ist nach Freud das Leiden
des Patienten eine Protestreaktion gegen die kranke Welt,
- 265 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
in der er lebt. Aber der Arzt muß das »moralische« Problem
außer Betracht lassen. Er hat die Gesundheit des Patienten
wiederherzustellen, um ihn zu befähigen, normal in seiner
Welt zu funktionieren.
Der Philosoph ist kein Arzt; es ist nicht seine Aufgabe,
Individuen zu kurieren, sondern die Welt zu begreifen, in der
sie leben – sie im Hinblick auf das zu verstehen, was sie dem
Menschen angetan hat und was sie dem Menschen antun kann.
Denn Philosophie ist (historisch, und ihre Geschichte ist noch
von Belang) das Gegenteil von dem, was sie nach Wittgensteins
Behauptung sein soll, der sie als den Verzicht auf alle Theorie
verkündete, als das Unternehmen, das »alles so läßt, wie es
ist«. Und die Philosophie kennt keine nutzlosere »Entdeckung«
als die, welche »die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß
sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in
Frage stellen«14. Und es gibt kein unphilosophischeres Motto
als Bischof Butlers Ausspruch, der G. M. Moores Principia
Ethica schmückt: »Alles ist, was es ist und nichts anderes«
– wofern nicht das »Ist« so verstanden wird, daß es sich auf
die qualitative Differenz zwischen dem bezieht, was die Dinge
wirklich sind, und dem, wozu sie gemacht werden.
Die neopositivistische Kritik richtet ihre Hauptanstrengung
noch immer gegen metaphysische Begriffe und ist durch
einen Begriff von Exaktheit motiviert, der entweder der der
formalen Logik oder der empirischer Beschreibung ist. Ob nun
die Exaktheit in der analytischen Reinheit von Logik und
Mathematik oder im Einklang mit der Alltagssprache gesucht
14 Philosophische Untersuchungen, 1. c. S. 347.
- 266 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
wird – an beiden Polen der Gegenwartsphilosophie findet sich
dieselbe Ablehnung oder Abwertung derjenigen Denk- und
Sprachelemente, die das akzeptierte System gültiger Normen
transzendieren. Diese Feindschaft ist höchst durchgreifend,
wo sie die Form der Duldung annimmt, das heißt, wo den
transzendenten Begriffen in einer abgetrennten Sinn- und
Bedeutungsdimension (dichterische Wahrheit, metaphysische
Wahrheit) ein gewisser Wahrheitswert zugebilligt wird.
Denn gerade das Abspalten eines Sonderbereichs, in dem
Denken und Sprache legitimerweise unexakt, vage und sogar
widerspruchsvoll sein dürfen, ist die wirksamste Art, das
normale Universum der Sprache davor zu bewahren, von
unpassenden Ideen ernsthaft gestört zu werden. Was immer
an Wahrheit in der Literatur enthalten sein mag, ist eine
»dichterische« Wahrheit, was immer an Wahrheit im kritischen
Idealismus enthalten sein mag, ist eine »metaphysische«
Wahrheit – ihre Triftigkeit, sofern vorhanden, ist weder
verbindlich für das alltägliche Sprechen und Verhalten noch
für die ihnen angepaßte Philosophie. Diese neue Form der
Lehre von der »doppelten Wahrheit« sanktioniert ein falsches
Bewußtsein, indem sie die Relevanz der transzendenten
Sprache für das Universum der Alltagssprache leugnet, indem
sie völlige Nichteinmischung verkündet, während doch der
Wahrheitswert jener gerade in ihrer Relevanz für dieses und
darin besteht, sich in sie einzumischen.
Unter den repressiven Bedingungen, unter denen die
Menschen denken und leben, kann das Denken – jede Art von
Denken, das nicht auf die pragmatische Orientierung innerhalb
des Status quo beschränkt ist – nur dadurch die Tatsachen
- 267 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
erkennen und auf sie reagieren, daß es »hinter sie« geht. Die
Erfahrung findet vor einem verhüllenden Vorhang statt, und
wenn die Welt die Erscheinung von etwas hinter dem Vorhang
der unmittelbaren Erfahrung ist, dann sind wir, mit Hegel zu
sprechen, es selbst, die sich hinter dem Vorhang befinden. Wir
selbst, nicht als die Subjekte des gesunden Menschenverstandes,
wie in der Sprachanalyse, noch als die »gereinigten« Subjekte
des wissenschaftlichen Messens, sondern als die Subjekte und
Objekte des historischen Kampfes des Menschen mit der Natur
und mit der Gesellschaft. Die Tatsachen sind, was sie sind, als
Vorgänge in diesem Kampf. Ihre Faktizität ist historisch selbst
dort, wo sie noch die der rohen, unbewältigten Natur ist.
Diese intellektuelle Auflösung, ja Zerstörung der gegebenen
Tatsachen ist die historische Aufgabe der Philosophie und die
philosophische Dimension. Auch die naturwissenschaftliche
Methode geht über die Tatsachen hinaus und sogar
über die Tatsachen der unmittelbaren Erfahrung. Die
naturwissenschaftliche Methode entwickelt sich in der
Spannung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit. Jedoch ist
hier die Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt des Denkens
wesentlich anders. In der Naturwissenschaft ist das Medium das
aller anderen Qualitäten entkleidete beobachtende, messende,
kalkulierende, experimentierende Subjekt. Das abstrakte
Subjekt entwirft und bestimmt das abstrakte Objekt.
Demgegenüber sind die Objekte des philosophischen
Denkens auf ein Bewußtsein bezogen, für das die konkreten
Qualitäten in die Begriffe und ihr Wechselspiel eingehen.
Die philosophischen Begriffe bewahren und entfalten
- 268 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
die verwissenschaftlichen Vermittlungen (die Arbeit der
Alltagspraxis, der ökonomischen Organisation, der politischen
Aktion), die die Objektwelt zu dem gemacht haben, was sie
tatsächlich ist – zu einer Welt, in der alle Tatsachen Ereignisse
und Vorgänge in einem historischen Kontinuum sind.
Die Trennung der Naturwissenschaft von der Philosophie
ist selbst ein historisches Ereignis. Die Aristotelische Physik
war ein Teil der Philosophie und bereitete als solcher die
»erste Wissenschaft« vor – die Ontologie. Der Aristotelische
Begriff der Materie ist vom Galileischen und nachgalileischen
nicht nur im Sinn verschiedener Entwicklungsstufen der
naturwissenschaftlichen Methode (und der Entdeckung anderer
Realitäts»schichten«) verschieden, sondern auch, und vielleicht
in erster Linie, im Sinne anderer historischer Entwürfe, eines
anderen historischen Unternehmens, das eine andere Natur und
eine andere Gesellschaft eingerichtet hat. Die Aristotelische
Physik wird objektiv falsch mit der neuen Erfahrung, mit dem
neuen Erfassen der Natur, mit der historischen Errichtung
eines neuen Subjekts und einer neuen Objektwelt, und die
Falsifikation der Aristotelischen Physik verweist dann zurück
auf die vergangene und überholte Erfahrung und Erfassung15.
Ob sie nun der Naturwissenschaft einverleibt werden
oder nicht, die philosophischen Begriffe bleiben gegenüber dem
Bereich der Alltagssprache antagonistisch; denn sie schließen
nach wie vor Inhalte ein, die in der gesprochenen Welt, im
öffentlichen Verhalten, in den wahrnehmbaren Bedingungen,
Dispositionen oder vorherrschenden Neigungen nicht erfüllt
15 Cf. Kapitel 6, besonders S. 179.
- 269 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
werden. Das philosophische Universum enthält demzufolge
weiterhin »Geister«, »Fiktionen« und »Illusionen«, die insofern
vernünftiger als ihre Leugnung sein können, als sie Begriffe
sind, die die Grenzen und Täuschungen der herrschenden
Rationalität erkennen. Sie drücken die Erfahrung aus, die
Wittgenstein zurückweist – nämlich >»daß sich das oder das
denken lasse, entgegen unserem Vorurteil< – was immer das
heißen mag«16.
Die Vernachlässigung dieser spezifisch philosophischen
Dimension oder das Aufräumen mit ihr hat den zeitgenössischen
Positivismus dazu gebracht, sich in einer synthetisch verarmten
Welt akademischer Konkretheit zu bewegen und trügerischere
Probleme zu schaffen als diejenigen es waren, die er zerstört
hat. Selten hat eine Philosophie einen unehrlicheren esprit de
sérieux zur Schau gestellt als der, der in solchen Analysen wie
die Interpretation der drei blinden Mäuse in einer Studie der
»Metaphysischen und Ideographischen Sprache« sich ausdrückt
mit ihrer Diskussion einer »künstlich konstruierten dreifachen
Prinzip-Blindheit-Mausheit-asymmetrischen Folge, die nach
den reinen Prinzipien der Ideographie konstruiert wurde«.17
Vielleicht ist dieses Beispiel unfair. Es ist jedoch fair zu
sagen, daß die abstruseste Metaphysik keine derart künstlichen
und zünftlerischen Sorgen an den Tag gelegt hat wie die,
die im Zusammenhang mit den Problemen von Reduktion,
Übersetzung, Beschreibung, Bezeichnung, Eigennamen usw.
entstanden sind. Die Beispiele werden geschickt in der Schwebe
16 Wittgenstein, 1. c. S. 342.
17 Margaret Masterman, in: British Philosophy in the Mid-Century, ed. C. A. Mace, London,
Allen and Unwin, 1957, S. 323.
- 270 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
zwischen Ernsthaftigkeit und Witz gehalten: die Unterschiede
zwischen Scott und dem Autor von Waverly; die Kahlheit
des gegenwärtigen Königs von Frankreich; daß Herr Müller
den »durchschnittlichen Steuerzahler« Schulze auf der
Straße trifft oder nicht; daß ich hier und jetzt einen roten
Flecken sehe und sage: »dies ist rot«; oder die Offenbarung
der Tatsache, daß die Menschen ihre Gefühle oft als Zittern,
Stechen, Qual, Klopfen, Reißen, Jucken, Prickeln, Erschauern,
Erglühen, Bürde, Übelwerden, Verlangen, Grauen, Schwäche,
Spannungen, als Nagen und Schocks beschreiben18.
Diese Art Empirismus ersetzt die verhaßte Welt
metaphysischer Geister, Mythen, Legenden und Illusionen
durch eine Welt von begrifflichen oder sinnlichen Fetzen,
von Wörtern und Äußerungen, die dann zu einer Philosophie
organisiert werden. Und all das ist nicht nur legitim, es ist
sogar korrekt; denn es enthüllt das Ausmaß, in dem nicht-
operationelle Gedanken, Bestrebungen, Erinnerungen und
Bilder konsumierbar, irrational, verwirrend oder sinnlos
geworden sind.
Indem sie in diesem Durcheinander Ordnung schafft, faßt
die analytische Philosophie die gegenwärtige technologische
Organisation der Wirklichkeit in Begriffe; aber sie beugt sich
auch den Urteilen dieser Organisation; die Entschleierung einer
alten Ideologie wird zum Bestandteil einer neuen. Nicht nur die
Illusionen werden um ihren Nimbus gebracht, sondern auch
die Wahrheit in diesen Illusionen. Die neue Ideologie drückt
sich in Feststellungen aus wie »die Philosophie stellt nur fest,
18 Gilben Ryle, The Concept of Mind, 1. c. S. 83 f.
- 271 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
was jedermann zugibt« oder darin, daß unser gewöhnlicher
Wortschatz »alle Unterscheidungen« enthält, »die die
Menschen zu machen für wert befunden haben«.
Worin besteht dieser »gewöhnliche Wortschatz«? Enthält er
Platons »Idee«, Aristoteles’ »Wesen«, Hegels »Geist«, Marx‘
»Verdinglichung«, in welcher angemessenen Übersetzung
auch immer? Enthält er die Schlüsselworte der poetischen
Sprache? Der surrealistischen Prosa? Und wenn ja, enthält er
sie in ihrer negativen Bedeutung – das heißt als Aufhebung
des Universums des gewöhnlichen Sprachgebrauchs? Wenn
nicht, dann wird ein ganzes Corpus von Unterscheidungen, die
die Menschen zu treffen für wert befunden haben, verworfen,
in den Bereich der Dichtung oder Mythologie abgeschoben;
ein verstümmeltes, falsches Bewußtsein wird zum wahren
Bewußtsein hergerichtet, das über Bedeutung und Ausdruck
dessen befindet, was ist. Der Rest wird als Dichtung oder
Mythologie denunziert – und gutgeheißen.
Es ist jedoch nicht klar, welche Seite in Mythologie
befangen ist. Sicher ist Mythologie primitives und unreifes
Denken. Der Prozeß der Zivilisation nimmt dem Mythos seine
Kraft (das ist geradezu eine Definition des Fortschritts), aber
er kann auch das rationale Denken auf den mythologischen
Status zurückwerfen. Im letzteren Falle werden Theorien,
die historische Möglichkeiten feststellen und projektieren,
irrational oder scheinen vielmehr irrational, weil sie der
Rationalität des bestehenden Universums von Sprache und
Verhalten widersprechen.
- 272 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
So wird im Zivilisationsprozeß der Mythos des Goldenen
Zeitalters und des Milleniums fortschreitender Rationalisierung
unterworfen. Die (historisch) unmöglichen Elemente
werden von den möglichen getrennt – Traum und Dichtung
von Wissenschaft, Technik und Geschäft. Im neunzehnten
Jahrhundert übersetzen die Theorien des Sozialismus
den ursprünglichen Mythos in soziologische Begriffe
– oder entdeckten vielmehr in den gegebenen historischen
Bedingungen den rationalen Kern des Mythos. Dann fand
jedoch die umgekehrte Bewegung statt. Heute scheinen die
rationalen und realistischen Begriffe von gestern wiederum
mythologisch, wenn sie mit den tatsächlichen Verhältnissen
konfrontiert werden. Die Wirklichkeit der arbeitenden
Klassen in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft macht
das Marxsche »Proletariat« zu einem mythologischen Begriff;
die Wirklichkeit des heutigen Sozialismus macht die Marxsche
Idee zu einem Traum. Diese Umkehrung wird verursacht
durch den Widerspruch zwischen Theorie und Tatsachen – ein
Widerspruch, der als solcher jene noch nicht als falsch erweist.
Der unwissenschaftliche, spekulative Charakter kritischer
Theorie ergibt sich aus dem spezifischen Charakter ihrer
Begriffe, die das Irrationale im Rationalen, die Mystifikation
in der Wirklichkeit bezeichnen und bestimmen. Ihre
mythologische Qualität spiegelt die mystifizierende Qualität
der gegebenen Tatsachen – die trügerische Harmonisierung der
gesellschaftlichen Widersprüche.
Die technische Leistung der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft und die wirksame Manipulation geistiger
und materieller Produktivität haben eine Verlagerung im Ort
- 273 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
der Mystifikation bewirkt. Wenn es sinnvoll ist zu sagen, daß
die Ideologie sich nunmehr im Produktionsprozeß selbst
verkörpert, dann mag es auch sinnvoll sein zu vermuten, daß
in dieser Gesellschaft das Rationale eher als das Irrationale
zum wirksamsten Vehikel der Mystifizierung wird. Die
Ansicht, daß die Zunahme der Unterdrückung sich in der
gegenwärtigen Gesellschaft in der ideologischen Sphäre und
zunächst im Aufkommen irrationaler Pseudophilosophien
(Lebensphilosophie; die Begriffe der Gemeinschaft gegenüber
der Gesellschaft; Blut und Boden usw.) manifestierte, wurde vom
Faschismus und Nationalsozialismus widerlegt. Diese Regime
straften diese und ihre eigenen irrationalen »Philosophien«
Lügen durch die umfassende technische Rationalisierung des
Apparats. Es war die totale Mobilisierung der materiellen
und geistigen Maschinerie, die ganze Arbeit leistete und ihre
mystifizierende Macht über die Gesellschaft installierte. Sie
diente dazu, die Individuen unfähig zu machen, »hinter« der
Maschinerie jene zu sehen, die sich ihrer bedienten, von ihr
profitierten und jene, die für sie zahlten.
Heute werden die mystifizierenden Elemente gemeistert und
in produktiver Publicity, Propaganda und Politik eingesetzt.
Magie, Zauberei und ekstatische Hingabe werden in der
täglichen Routine zu Haus, im Geschäft und Büro praktiziert,
und die rationalen Fertigkeiten verbergen die Irrationalitäten
des Ganzen. So ist zum Beispiel das wissenschaftliche
Herangehen an das quälende Problem wechselseitiger
Vernichtung – die Mathematik und die Kalkulationen des
Tötens und mehrfachen Tötens (overkill), das Messen von sich
ausbreitender oder nicht ganz so ausbreitender Verseuchung, die
- 274 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Experimente, wie lange abnorme Situationen ertragen werden
– in dem Maße mystifizierend, wie es ein Verhalten fördert
(oder gar verlangt), das den Wahnsinn akzeptiert. Es wirkt so
einem wahrhaft rationalen Verhalten entgegen – nämlich der
Weigerung mitzumachen und dem Bemühen, die den Wahnsinn
hervorbringenden Bedingungen zu beseitigen.
Angesichts dieser neuen Mystifizierung, die Rationalität
in ihr Gegenteil verkehrt, muß an der Unterscheidung
festgehalten werden. Das Rationale ist nicht irrational, und
der Unterschied zwischen einer exakten Erkenntnis und
Analyse der Tatsachen und einer vagen und gefühlsbetonten
Spekulation ist so wesentlich wie je zuvor. Das Bedenkliche
ist, daß die Statistiken, Messungen und Feldstudien der
empirischen Soziologie und politischen Wissenschaft nicht
rational genug sind. Sie werden in dem Maße zu etwas
Mystifizierendem, wie sie von dem wahrhaft konkreten
Zusammenhang isoliert werden, der die Tatsachen schafft
und ihre Funktion determiniert. Dieser Zusammenhang ist
größer und ein anderer als der der untersuchten Fabriken
und Werkstätten, der behandelten Klein- und Großstädte,
der Gebiete und Gruppen, über deren öffentliche Meinung
befunden und deren Überlebenschance berechnet wird.
Und er ist auch wirklicher in dem Sinne, daß er die
untersuchten, zurechtgestutzten und berechneten Tatsachen
hervorbringt und determiniert. Dieser wirkliche Zusammenhang,
in dem die besonderen Gegenstände zu ihrer wirklichen
Bedeutung gelangen, ist bestimmbar nur innerhalb einer Theorie
der Gesellschaft. Denn die Faktoren in den Fakten sind nicht
- 275 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
unmittelbar Daten der Beobachtung, Messung und Befragung.
Sie werden zu Daten eben erst in einer Analyse, die es vermag,
diejenige Struktur auszumachen, welche die Teile und Prozesse
der Gesellschaft zusammenhält und ihre Wechselwirkung
bestimmt.
Zu sagen, daß dieser Metazusammenhang die Gesellschaft ist,
heißt das Ganze gegenüber den Teilen hypostasieren. Aber diese
Hypostasierung findet in Wirklichkeit statt, ist die Wirklichkeit,
und die Analyse kann sie nur dadurch überwinden, daß sie
sie anerkennt und ihre Reichweite und Ursachen begreift. Die
Gesellschaft ist in der Tat das Ganze, das eine unabhängige
Macht über die Individuen ausübt, und diese Gesellschaft ist
kein unfaßbarer »Geist«. Sie hat ihren empirischen, festen Kern
in dem System von Institutionen, die etablierte und geronnene
Beziehungen zwischen Menschen sind. Die Abstraktion von
diesem Kern verfälscht die Messungen, Befragungen und
Berechnungen – aber in einer Dimension, die in den Messungen,
Befragungen und Berechnungen nicht erscheint und dadurch mit
diesen nicht in Konflikt gerät und sie nicht stört. Sie behalten
ihre Exaktheit und sind gerade in ihrer Exaktheit mystifizierend.
Indem sie den mystifizierenden Charakter transzendenter
Ausdrücke, vager Begriffe, metaphysischer Universalien
und dergleichen bloßstellt, mystifiziert die Sprachanalyse
die Ausdrücke der Alltagssprache, indem sie diese in dem
repressiven Zusammenhang der bestehenden Universums der
Sprache beläßt. Innerhalb dieses repressiven Universums findet
die behavioristische Erklärung des Sinnes statt – die Erklärung,
welche die alten sprachlichen »Geister« der Cartesianischen und
- 276 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
anderer veralteter Mythen bannen soll. Die Sprachanalyse
behauptet, daß, wenn Herr Schulze und Herr Müller von dem
sprechen, was sie im Sinn haben, sie sich einfach auf die
spezifischen Wahrnehmungen, Begriffe oder Stimmungen
beziehen, die sie gerade haben; der Geist ist ein verbalisiertes
Gespenst. In ähnlicher Weise ist auch der Wille kein wirkliches
Seelenvermögen, sondern einfach eine spezifische Art von
spezifischen Stimmungen, Neigungen und Bestrebungen.
Ähnlich steht es mit »Bewußtsein«, »Selbst«, »Freiheit«
– sie sind alle in Begriffen erklärbar, die besondere Arten oder
Weisen des Benehmens und Verhaltens bezeichnen. Ich komme
später auf diese Behandlung von Allgemeinbegriffen zurück.
Oft verbreitet die analytische Philosophie eine Atmosphäre,
wie sie der Denunziation in einem Untersuchungsausschuß
entspricht. Der Intellektuelle wird zur Rechenschaft gezogen.
Was meinst Du, wenn Du sagst… ? Verbirgst Du nicht etwas?
Du redest in einer Sprache, die suspekt ist. Du redest nicht
wie wir alle, wie der Mann auf der Straße, sondern eher wie
ein Ausländer, der nicht hierher gehört. Wir müssen Dich
auf ein bescheidenes Format herunterschrauben, Deine Tricks
aufdecken, Dich läutern. Wir werden Dich lehren zu sagen,
was Du meinst, damit »herauszurücken«, die »Karten auf den
Tisch zu legen«. Natürlich erlegen wir Dir und Deiner Denk-
und Redefreiheit keinen Zwang auf; Du darfst denken, was
Dir beliebt. Aber wenn Du einmal sprichst, mußt Du uns Deine
Gedanken übermitteln – in unserer Sprache oder in Deiner.
Freilich darfst Du Deine eigene Sprache sprechen, aber sie
muß übersetzbar sein, und sie wird übersetzt. Du darfst getrost
dichterisch reden – dagegen ist nichts einzuwenden. Wir
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
lieben Dichtung. Aber wir wollen Deine Dichtung verstehen,
und das können wir nur, wenn wir Deine Symbole, Metaphern
und Bilder im Sinne der gewöhnlichen Sprache interpretieren
können.
Der Dichter könnte antworten, er wünsche in der Tat,
daß seine Dichtung verständlich sei und verstanden werde
(eben deshalb schreibt er) ; wäre aber, was er sagt, in der
Umgangssprache sagbar, dann hätte er sich ihrer wahrscheinlich
von Anfang an bedient. Er könnte sagen: Das Verständnis
meiner Dichtung setzt voraus, daß eben jenes Universum von
Sprache und Verhalten hinfällig und nichtig geworden ist, in
das Ihr sie übersetzen wollt. Meine Sprache ist erlernbar, wie
jede andere Sprache (im Grunde ist sie auch Eure Sprache),
dann aber wird sich zeigen, daß meine Symbole, Metaphern
usw. keine Symbole, Metaphern usw. sind, sondern genau
bedeuten, was sie besagen. Eure Toleranz ist trügerisch. Indem
Ihr mir eine Sondersphäre von Bedeutung und Bedeutsamkeit
einräumt, gewährt Ihr mir Freiheit von Zurechnungsfähigkeit
und Vernunft; aber nach meiner Ansicht befindet das Irrenhaus
sich anderswo.
Der Dichter mag auch den Eindruck gewinnen, daß die
solide Nüchternheit der linguistischen Philosophie eine
ziemlich vorurteilsvolle und emotionale Sprache spricht – die
zorniger alter oder junger Männer. Ihr Vokabular quillt über
von »ungehörig«, »wunderlich«, »absurd«, »verwirrend«,
»schrullig«, »verstiegen« und »Kauderwelsch«. Ungehörige
und verwirrende Schrullen müssen beseitigt werden, wenn
es zu einem vernünftigen Verständnis kommen soll. Die
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Kommunikation soll sich nicht über den Köpfen der Menschen
vollziehen; Inhalte, die über den gesunden Menschenverstand
und den der Wissenschaft hinausgehen, sollen das akademische
und alltägliche Universum der Sprache nicht beeinträchtigen.
Kritische Analyse muß sich jedoch von dem abheben, was
zu begreifen sie bestrebt ist; die philosophischen Ausdrücke
müssen anders geartet sein als die gewöhnlichen, damit deren
volle Bedeutung erhellt werde19. Denn das vorgegebene
Universum der Sprache trägt durchweg die Male spezifischer
Arten von Herrschaft, Organisation und Manipulation, denen
die Mitglieder einer Gesellschaft unterworfen sind. Um zu
leben, hängen die Menschen von Chefs, Politikern, Stellungen
und Nachbarn ab, die sie dazu verhalten, das zu sagen und
zu meinen, was sie sagen und meinen; die gesellschaftliche
Notwendigkeit zwingt sie dazu, das »Ding« (einschließlich ihrer
eigenen Person, ihres Denkens und Empfindens) mit seinen
Funktionen zu identifizieren. Wieso wissen wir etwas? Weil
wir fernsehen, dem Radio zuhören, Zeitungen und Illustrierte
lesen, mit den Menschen reden.
Unter diesen Umständen ist der gesprochene Satz ein
Ausdruck des Individuums, das ihn ausspricht, und jener, die
es dazu anhalten zu sprechen wie es spricht, und Ausdruck
einer wie immer beschaffenen Spannung und Widersprüchlichkeit
zwischen ihnen. Indem sie ihre eigene Sprache sprechen, sprechen
die Menschen auch die Sprache ihrer Herren, Wohltäter und
Werbetexter. Daher drücken sie nicht nur sich selbst aus, ihre
19 Die gegenwärtige analytische Philosophie hat auf ihre Weise diese Notwendigkeit als
das Problem der Metasprache anerkannt; cf. S. 194 und S. 209.
- 279 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
eigene Erkenntnis, ihre Gefühle und Bestrebungen, sondern
auch etwas anderes als sich selbst. Indem sie »von sich aus« die
politische Lage sei’s ihrer Heimatstadt, sei’s die internationale,
beschreiben, beschreiben sie (und »sie« schließt uns ein, die
Intellektuellen, die es wissen und kritisieren), was »ihre« Medien
der Massenkommunikation ihnen erzählen – und das verschmilzt
mit dem, was sie wirklich denken, sehen und fühlen.
Wenn wir einander unsere Vorlieben und Abneigungen,
unsere Sentiments und Ressentiments mitteilen, müssen wir
die Ausdrücke unserer Reklamesprüche, Kinos, Politiker und
Bestseller benutzen. Wir müssen dieselben Ausdrücke zum
Beschreiben unserer Automobile, Nahrungsmittel und Möbel,
Kollegen und Konkurrenten benutzen – und wir verstehen einander
bestens. Das muß notwendigerweise so sein; denn Sprache ist
nichts Privates und Persönliches; das Private und Persönliche ist
vielmehr vermittelt durch das verfügbare sprachliche Material,
das gesellschaftliches Material ist. Diese Situation aber macht
die Alltagssprache untauglich für jene Geltung verbürgende
Funktion, die sie in der analytischen Philosophie erfüllt. »Was die
Menschen meinen, wenn sie sagen…«, ist verbunden mit dem,
was sie nicht sagen. Anders gesagt, was sie meinen, kann nicht für
bare Münze genommen werden – nicht weil sie lügen, sondern
weil das Universum des Denkens und der Praxis, in dem sie
leben, ein Universum manipulierter Widersprüche ist.
Umstände dieser Art mögen für die Analyse solcher Aussagen
wie »es juckt mich« oder »er ißt Mohnblumen« oder »das
sieht mir jetzt rot aus« irrelevant sein, aber sie werden äußerst
relevant, wenn die Menschen wirklich etwas sagen (»sie liebte
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
ihn eben«, »er hat kein Herz«, »das ist nicht fair«, »was kann ich
daran ändern«), und sie sind höchst wichtig für die Sprachanalyse
der Ethik, Politik usw. Da es an einer solchen fehlt, kann die
Sprachanalyse zu keiner anderen empirischen Exaktheit gelangen
als zu der, die den Menschen durch den gegebenen Zustand
abverlangt wird, und zu keiner anderen Klarheit, als die, die
ihnen in diesem Zustand zugebilligt wird – das heißt, sie
verbleibt innerhalb der Grenzen der mystifizierten und
trügerischen Sprache.
Wo sie, wie in den logischen Reinigungen, über diese Sprache
hinauszugehen scheint, bleibt nur das Skelett eben dieses
Universums übrig – ein Geist viel geisterhafter als jene Geister,
die von der Analyse bekämpft werden. Wenn Philosophie
mehr als ein Beruf ist, dann zeigt sie die Gründe auf, die die
Sprache zu einem verstümmelten und trügerischen Universum
machten. Diese Aufgabe einem Kollegen in der Abteilung für
Soziologie oder Psychologie zu überlassen, heißt die bestehende
Teilung der akademischen Arbeit in ein methodologisches
Prinzip verwandeln. Ebensowenig läßt sich die Aufgabe mit der
bescheidenen Insistenz beiseite schieben, daß Sprachanalyse
nur den anspruchslosen Zweck verfolgt, »konfuses« Denken
und Sprechen zu klären. Wenn eine solche Klärung über eine
bloße Aufzählung und Klassifikation möglicher Bedeutungen
in möglichen Zusammenhängen hinausgeht, wobei jedem
je nach den Umständen eine breite Auswahl gelassen ist,
dann ist sie alles andere als eine anspruchslose Aufgabe. Eine
solche Klärung schlösse die Analyse der Alltagssprache in
wirklich umstrittenen Bereichen ein, das Erkennen konfusen
Denkens gerade dort, wo es am wenigsten konfus scheint,
- 281 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
die Aufdeckung des Falschen in so viel normalem und klarem
Sprachgebrauch. Dann würde die Sprachanalyse das Niveau
erreichen, auf dem die spezifischen gesellschaftlichen Prozesse
sichtbar und verständlich werden, die das Universum der
Sprache formen und begrenzen.
Hier entsteht das Problem der »Metasprache«; die Ausdrücke,
welche die Bedeutung bestimmter Ausdrücke analysieren,
müssen andere als diese oder von ihnen unterscheidbar sein.
Sie müssen mehr und anders sein als bloße Synonyme, die noch
demselben (unmittelbaren) Universum der Sprache angehören.
Wenn aber diese Metasprache den totalitären Bereich des
bestehenden Sprachuniversums wirklich durchbrechen soll, in
dem die verschiedenen Dimensionen der Sprache integriert
und einander angeglichen sind, dann muß sie imstande sein, die
gesellschaftlichen Prozesse zu bezeichnen, die das bestehende
Universum der Rede determiniert und »abgeriegelt« haben.
Sie kann infolgedessen keine technische Metasprache sein,
die hauptsächlich im Hinblick auf semantische oder logische
Klarheit konstituiert ist. Das Desiderat besteht vielmehr darin,
die besteh ende Sprache selbst dazu zu bringen auszusprechen,
was sie verbirgt oder ausschließt; denn was aufgedeckt und
denunziert werden muß, ist innerhalb des Universums der
Alltagssprache wirksam, und die herrschende Sprache enthält
die Metasprache.
Dieses Desiderat ist im Werk von Karl Kraus erfüllt. Er
hat gezeigt, wie eine »innere« Untersuchung des Sprechens
und Schreibens, der Zeichensetzung, selbst typographischer
Irrtümer ein ganzes moralisches oder politisches System
- 282 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
bloßstellen kann. Diese Untersuchung bewegt sich noch
innerhalb des gewöhnlichen Universums der Sprache; sie
bedarf keiner künstlichen Sprache »höheren Niveaus«, um
die untersuchte Sprache zu extrapolieren und zu klären. Das
Wort, die syntaktische Form werden in dem Zusammenhang
gelesen, in dem sie erscheinen – zum Beispiel in einer Zeitung,
die in einer bestimmten Stadt oder einem bestimmten
Land durch die Feder bestimmter Personen für bestimmte
Ansichten eintritt. Der lexikographische und syntaktische
Zusammenhang eröffnet so eine andere Dimension – die der
Bedeutung und Funktion des Wortes nicht äußerlich, sondern
für diese konstitutiv ist –: die der Wiener Presse während und
nach dem Ersten Weltkrieg; die Einstellung der Herausgeber
zu dem Gemetzel, zur Monarchie, Republik usw. Im Lichte
dieser Dimension nehmen Wortgebrauch und Satzstruktur
eine Bedeutung und Funktion an, die beim »unvermittelten«
Lesen nicht erscheinen. Die Verstöße gegen die Sprache, die im
Stil der Zeitung erscheinen, gehören zu ihrem politischen Stil.
Syntax, Grammatik und Vokabular werden zu moralischen
und politischen Akten. Der Zusammenhang kann aber auch
ein ästhetischer und philosophischer sein: Literaturkritik, ein
Vortrag vor einer gelehrten Gesellschaft oder dergleichen. Hier
konfrontiert die Sprachanalyse eines Gedichts oder Essays das
gegebene (unmittelbare) Material (die Sprache des jeweiligen
Gedichts oder Essays) mit dem, was der Schriftsteller in der
literarischen Tradition vorfand und umformte.
Eine solche Analyse erfordert, daß die Bedeutung eines
Ausdrucks oder einer Form, in einem vieldimensionalen
Universum entwickelt wird, in dem jede ausgedrückte Bedeutung
- 283 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
an mehreren »Systemen« teilhat, die untereinander verbunden
sind, ineinander übergreifen und sich widersprechen. Sie gehört
etwa:
a) zu einem individuellen Entwurf, d. h. zu einer besonderen
Kommunikation (ein Zeitungsartikel, eine Ansprache), die zu
einer besonderen Gelegenheit zu einem besonderen Zweck
stattfindet;
b) zu einem vorgegebenen überindividuellen System von
Ideen, Werten und Zielsetzungen, an dem der individuelle
Entwurf teilhat;
c) zu einer bestimmten Gesellschaft, die selber verschiedene
und einander sogar widerstreitende individuelle und
überindividuelle Entwürfe in sich vereinigt.
Um das zu verdeutlichen: eine bestimmte Rede, ein
Zeitungsartikel oder auch eine private Mitteilung wird von
einem bestimmten Individuum hervorgebracht, das der
(autorisierte oder nichtautorisierte) Sprecher einer besonderen
(Berufs-, Wohn-, politischen, intellektuellen) Gruppe in einer
spezifischen Gesellschaft ist. Diese Gruppe hat ihre eigenen
Werte, Zielsetzungen, Kodices des Denkens und Verhaltens, die
– bestätigt oder angefochten – in verschieden bewußtem und
explizitem Grade in die individuelle Mitteilung eingehen. Diese
»individualisiert« so ein überindividuelles Bedeutungssystem,
das eine Sprachdimension bildet, die von der individuellen
Mitteilung verschieden und doch mit ihr verschmolzen ist.
Und dieses überindividuelle System wiederum ist Teil eines
umfassenden, allgegenwärtigen Bedeutungsbereichs, der von dem
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
sozialen System, innerhalb dessen und von dem aus die Mitteilung
stattfindet, entwickelt und gewöhnlich »abgesperrt« worden ist.
Reichweite und Ausmaß des sozialen Bedeutungssystems
variieren beträchtlich in verschiedenen historischen Perioden
und in Übereinstimmung mit der erreichten Kulturstufe, aber
seine Grenzen sind klar genug bestimmt, wenn die Mitteilung
sich auf mehr bezieht als auf nichtumstrittene Werkzeuge
und Verhältnisse des täglichen Lebens. Heute vereinigen die
sozialen Bedeutungssysteme verschiedene Nationalstaaten und
Sprachgebiete, und diese erweiterten Bedeutungssysteme
tendieren dazu, mit dem Bereich der mehr oder weniger
fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften auf der einen
Seite und mit dem der fortschreitenden kommunistischen
Gesellschaften auf der anderen zusammenzufallen. Während
die bestimmende Funktion des sozialen Bedeutungssystems
sich im polemischen, politischen Universum der Sprache mit
höchster Starrheit durchsetzt, ist es auch im gewöhnlichen
Universum der Sprache in einer verdeckteren, unbewußten,
emotionellen Weise am Werk. Eine wahrhaft philosophische
Bedeutungsanalyse muß all diesen Bedeutungsdimensionen
Rechnung tragen, weil die sprachlichen Ausdrücke an
ihnen allen teilhaben. Die Sprachanalyse in der Philosophie
hat demzufolge ein außersprachliches Interesse. Wenn sie
über einen Unterschied zwischen legitimem und illegitimem
Sprachgebrauch befindet, zwischen authentischer und
illusorischer Bedeutung, zwischen Sinn und Unsinn, so
appelliert sie an ein politisches, ästhetisches oder moralisches
Urteil.
- 285 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Dem kann entgegengehalten werden, daß solch eine
»äußerliche« Analyse (in Anführungszeichen, weil sie in
Wirklichkeit nicht äußerlich ist, sondern vielmehr die innere
Entwicklung der Bedeutung) besonders dort fehl am Platze
sei, wo es darum geht, die Bedeutung von Ausdrücken dadurch
zu erfassen, daß ihre Funktion und ihr Gebrauch in der
Alltagssprache analysiert werden. Ich behaupte indessen, daß
die Sprachanalyse in der gegenwärtigen Philosophie eben dies
nicht tut. Und sie tut es insofern nicht, als sie die Alltagssprache
in ein spezielles akademisches Universum überträgt, das selbst
dort (und gerade dort) gereinigt und synthetisch ist, wo es
mit der Alltagssprache angefüllt wird. Bei dieser analytischen
Behandlung der Alltagssprache wird diese wirklich keimfrei
und unempfindlich gemacht. Die vieldimensionale Sprache
wird in eine eindimensionale Sprache verwandelt, in der
verschiedene und einander widerstreitende Bedeutungen sich
nicht mehr durchdringen, sondern auseinandergehalten werden;
die sprengende historische Bedeutungsdimension wird zum
Schweigen gebracht.
Wittgensteins endloses Sprachspiel mit Bausteinen oder
Herr Schulze und Herr Müller, die sich unterhalten, können
wiederum als Beispiele dienen. Trotz der einfachen Klarheit des
Beispiels bleiben die Sprecher und ihre Situation unbestimmt.
Sie sind X und Y, wie vertraut sie auch miteinander plaudern.
Im wirklichen Universum der Sprache aber sind X und Y
»Geister«. Sie existieren nicht; sie sind das Produkt des
analytischen Philosophen. Natürlich ist das Gespräch von X
und Y völlig verständlich, und der Sprachanalytiker appelliert
mit Recht an das normale Verständnis gewöhnlicher Menschen.
- 286 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Aber in Wirklichkeit verstehen wir einander nur durch ganze
Bereiche des Mißverständnisses und Widerspruchs hindurch.
Das wirkliche Universum der Alltagssprache ist das des
Kampfes ums Dasein. Es ist in der Tat ein zweideutiges, vages
und dunkles Universum und bedarf sicherlich der Klärung.
Eine solche Klärung kann durchaus eine therapeutische
Funktion erfüllen, und wenn die Philosophie therapeutisch
würde, käme sie wirklich zu sich selbst. Philosophie nähert
sich diesem Ziel in dem Grade, wie sie das Denken von seiner
Versklavung an das vorgegebene Universum der Sprache
und des Verhaltens befreit, die Negativität des Bestehenden
erhellt (seine positiven Aspekte werden ohnehin in reichem
Maße publiziert) und seine Alternativen entwirft. Freilich
widerspricht und entwirft die Philosophie nur im Denken.
Sie ist Ideologie, und dieser ideologische Charakter ist
gerade das Schicksal der Philosophie, das kein Szientivismus
und Positivismus überwinden kann. Und doch kann ihre
ideologische Anstrengung, die Wirklichkeit als das zu
zeigen, was sie wirklich ist, und das zu zeigen, was von dieser
Wirklichkeit am Sein gehindert wird, wahrhaft therapeutisch
sein.
In der totalitären Ära wäre die therapeutische Aufgabe der
Philosophie eine politische, da das vorgegebene Universum
der Alltagssprache die Tendenz hat, zu einem gänzlich
manipulierten und indoktrinierten Universum zu gerinnen. Dann
erschiene Politik in der Philosophie, nicht als Sonderdisziplin
oder Gegenstand der Analyse, auch nicht als eine besondere
politische Philosophie, sondern als die Intension ihrer Begriffe,
die unverstümmelte Wirklichkeit zu begreifen. Wenn die
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Sprachanalyse zu einem derartigen Verständnis nicht beiträgt,
wenn sie stattdessen dazu beiträgt, das Denken im Umkreis des
verstümmelten Universums der Alltagssprache einzufrieden,
ist sie bestenfalls völlig inkonsequent. Schlimmstenfalls ist
sie eine Flucht ins Unbestrittene, Unwirkliche, in das, was nur
akademisch zur Debatte steht.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Die Chance der Alternativen
8 Das geschichtliche Engagement der Philosophie
Die Gebundenheit der analytischen Philosophie an
die verstümmelte Realität von Denken und Sprache geht
schlagend aus ihrer Behandlung der Allgemeinhegriffe hervor.
Das Problem wurde bereits erwähnt im Zusammenhang mit
dem immanent-geschichtlichen und zugleich transzendenten,
allgemeinen Charakter philosophischer Begriffe. Es erfordert
jetzt eine eingehendere Diskussion. Weit davon entfernt,
nur eine abstrakte Frage der Erkenntnistheorie oder eine
pseudokonkrete Frage der Sprache und ihres Gebrauchs zu
sein, steht die Frage nach dem Status der Allgemeinbegriffe
im Zentrum des philosophischen Denkens überhaupt. Denn
die Behandlung der Allgemeinbegriffe offenbart die Stellung
einer Philosophie in der geistigen Kultur – ihre geschichtliche
Funktion.
Die gegenwärtige analytische Philosophie ist darauf aus,
solche »Mythen« oder metaphysischen »Gespenster« wie
Geist, Bewußtsein, Wille, Seele, Selbst zu bannen, indem
sie die Intention dieser Begriffe in Feststellungen über
besondere, identifizierbare Operationen, Veranstaltungen,
Mächte, Stimmungen, Neigungen, Fertigkeiten usw. auflöst.
Das Ergebnis erweist auf merkwürdige Art die Ohnmacht der
Destruktion – der Geist spukt nach wie vor. Während jede
Interpretation oder Übersetzung einen partikularen geistigen
Vorgang, etwa einen Akt der Vorstellung dessen, was ich meine,
- 289 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
wenn ich »ich« sage, oder was der Priester meint, wenn er sagt,
daß Mary ein »gutes Mädchen« ist, angemessen beschreiben
kann, scheint keine dieser Neuformulierungen – auch nicht
ihre Summe – die volle Bedeutung solcher Ausdrücke wie
Geist, Wille, Selbst, das Gute zu erfassen oder auch nur
zu umschreiben. Diese Allgemeinbegriffe bestehen fort im
gewöhnlichen wie im »dichterischen« Sprachgebrauch, und
in beiden Fällen unterscheidet sie der Sprachgebrauch von den
verschiedenen Weisen des Verhaltens oder Gestimmt-Seins, in
denen dem analytischen Philosophen zufolge ihre Bedeutung
sich erfüllt.
Freilich können solche Allgemeinbegriffe nicht durch die
Versicherung gültig werden, daß sie ein Ganzes bezeichnen,
das mehr als seine Teile und von diesen verschieden ist. Das
ist offenkundig der Fall, aber dieses »Ganze« erfordert eine
Analyse des unverstümmelten Erfahrungszusammenhangs. Wird
diese Analyse, die über die Sprache hinausgeht, verworfen,
wird die Alltagssprache für bare Münze genommen – das heißt
ein trügerisches Universum allgemeinen Verständnisses unter
den Menschen an die Stelle des herrschenden Universums von
Mißverstehen und verordneter Kommunikation gesetzt
– dann sind die belasteten Allgemeinbegriffe in der Tat
übersetzbar, und ihre »mythologische« Substanz läßt sich in
Weisen des Verhaltens und Gestimmt-Seins auflösen.
Diese Auflösung selbst ist jedoch anzuzweifeln – nicht nur
zugunsten des Philosophen, sondern der einfachen Leute, in
deren Leben und Sprache eine solche Auflösung sich ereignet.
Was sie tun und sagen, gehört nicht ihnen selber an; es
- 290 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
stößt ihnen zu und verletzt sie, da sie durch die »Umstände«
gezwungen werden, ihren Geist mit den geistigen Abläufen zu
identifizieren und ihr Selbst mit den Rollen und Funktionen,
denen sie in ihrer Gesellschaft nachzukommen haben.
Wenn die Philosophie diese Prozesse der Übersetzung und
Identifikation nicht als gesellschaftliche Prozesse begreift
– das heißt als eine Verstümmelung an Geist (und Körper), die
den Individuen von ihrer Gesellschaft zugefügt wird – dann
kämpft die Philosophie nur mit dem Gespenst der Substanz,
das sie entmystifizieren will. Der mystifizierende Charakter
haftet nicht den Begriffen »Geist«, »Selbst«, »Bewußtsein«
usw. an, sondern ihrer Übersetzung in Verhaltensweisen. Diese
Übersetzung ist gerade deshalb trügerisch, weil sie den Begriff
getreu in Weisen des tatsächlichen Verhaltens, in Neigungen
und Stimmungen übersetzt und dabei die verstümmelten und
organisierten Erscheinungen (die selbst real genug sind!) für
die Wirklichkeit nimmt.
Jedoch werden selbst in dieser Schlacht gegen die
Geister Kräfte auf den Plan gerufen, die den Scheinkrieg
beenden könnten. Eines der störenden Probleme in der
analytischen Philosophie ist das von Aussagen über
Universalien wie »Nation«, »Staat«, »die britische
Verfassung«, »die Universität von Oxford«, »England«1.
Diesen Allgemeinbegriffen entspricht keinerlei partikulares
1 Cf. Gilbert Ryle, The Concept of Mind, loc. cit. S. 17 f. und passim; J. Wisdom,
»Metaphysics and Verification«, in: Philosophy and Psycho-Analysis, Oxford
1953; A.G.N. Flew in der Einleitung von Logic and Language (First Series), Oxford
1955; D.F. Pears, »Universals«, in: ibid. Second Series, Oxford 1959; J. O. Urmson,
Philosophical Analysis, Oxford 1956; B. Russell, My Philosophical Development,
New York 1959, S. 223 f.; Peter Laslett (ed.), Philosophy, Politics and Society,
Oxford 1956, S. 22 ff.
- 291 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Daseiendes, und doch ist es durchaus sinnvoll, ja unvermeidlich
zu sagen, daß »die Nation« mobilisiert wird, daß »England«
Krieg erklärte, daß ich an der »Universität Oxford« studierte.
Jede reduktive Übersetzung solcher Aussagen scheint deren
Sinn zu ändern. Wir können sagen, daß die Universität
keine besondere Wesenheit gegenüber ihren verschiedenen
Colleges, Bibliotheken usw. ist, sondern eben die Art, wie
diese organisiert sind, und wir können dieselbe Erklärung,
modifiziert, auf andere Aussagen anwenden. Indessen wirkt die
Art, in der solche Dinge von Menschen organisiert, integriert
und verwaltet werden, als eine von ihren Bestandteilen
verschiedene Wesenheit – so sehr, daß sie, wie im Fall der
Nation und der Verfassung, über Leben und Tod verfügen
kann. Die Personen, die das Urteil vollstrecken, tun dies, sofern
sie überhaupt feststellbar sind, nicht als diese Individuen,
sondern als »Vertreter« der Nation, des Konzerns, der
Universität. Der zu einer Sitzung versammelte Kongreß
der Vereinigten Staaten, das Zentralkomitee, die Partei,
der Ausschuß der Direktoren und Manager, der Präsident,
die Bevollmächtigten und die Fakultät, die zusammentreten
und über die Politik befinden, sind gegenüber den Teilen,
aus denen sie sich zusammensetzen, greifbare und wirksame
Wesenheiten. Sie sind greifbar in den Berichten, in den
Ergebnissen ihrer Gesetze, in den Kernwaffen, über die sie
gebieten und die sie produzieren, in den Ernennungen,
Gehältern und Erfordernissen, über die sie bestimmen. Im
Plenum sind die Individuen die Sprecher (was ihnen oft nicht
bewußt wird) von Institutionen, Einflüssen und Interessen, die
sich in Organisationen verkörpern. Durch ihre Entscheidung
- 292 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
(Stimmabgabe, Ausübung von Druck, Propaganda), die
selbst das Ergebnis konkurrierender Institutionen und
Interessen ist, wird die Nation, die Partei, der Konzern, die
Universität in Bewegung gesetzt, erhalten und reproduziert
– als eine (relativ) endgültige, allgemeine Realität, die sich
über die besonderen Institutionen oder Völker hinwegsetzt, die ihr
unterworfen sind.
Diese Realität hat ein von außen kommendes, unabhängiges
Dasein angenommen; Aussagen, die sich auf sie beziehen, gehen
deshalb auf ein Real-Allgemeines und sind nicht angemessen
in Aussagen übersetzbar, die sich auf partikulares Daseiendes
beziehen. Und doch deutet der Impuls, eine solche Übersetzung
zu versuchen, der Protest gegen ihre Unmöglichkeit, darauf
hin, daß hier etwas nicht stimmt. Um einen guten Sinn zu
ergeben, müßten »die Nation« oder »die Partei« eigentlich in
ihre Konstituentien und Bestandteile übersetzbar sein. Die
Tatsache, daß dem nicht so ist, ist eine geschichtliche Tatsache,
die sich einer sprachlichen und logischen Analyse in den Weg
stellt.
Die Disharmonie zwischen den individuellen und den ge-
sellschaftlichen Bedürfnissen und das Fehlen von repräsenta-
tiven Institutionen, in denen die Individuen für sich arbeiten
und sprechen, führen zur Realität solcher Allgemeinbegriffe
wie die Nation, die Partei, die Verfassung, der Konzern,
die Kirche – eine Realität, die nicht mit irgendeiner fest-
stellbaren partikularen Wesenheit (Individuum, Gruppe oder
Institution) identisch ist. Solche Allgemeinbegriffe drücken
verschiedene Grade und Weisen der Verdinglichung aus.
- 293 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Obgleich real, ist ihre Unabhängigkeit insofern falsch, als sie
die partikularer Mächte ist, die das gesellschaftliche Ganze
organisiert haben. Eine Rückübersetzung, die die falsche
Substanz des Allgemeinbegriffs auflösen würde, ist noch im-
mer ein Desiderat – aber ein politisches.
On croit mourir pour la Classe, on meurt pour les gens
de Parti. On croit mourir pour la Patrie, on meurt pour les
Industriels. On croit mourir pour la Liberté des Personnes, on
meurt pour la Liberté des dividendes. On croit mourir pour le
Prolétariat, on meurt pour la Bureaucratie. On croit mourir
sur Tordre d’un Etat, on meurt pour l’Argent qui le tient.
On croit mourir pour une nation, on meurt pour les bandits
qui la bâillonnent. On croit – mais pourquoi croirait-on dans
une ombre si épaisse? Croire, mourir?… quand il s’agit
d’apprendre à vivre?2
Das ist eine genuine »Übersetzung« der hypostasierten
Allgemeinbegriffe ins Konkrete, und doch anerkennt sie
die Realität des Allgemeinen, indem sie es beim wahren
Namen nennt. Das hypostasierte Ganze widersetzt sich nicht
deshalb einer analytischen Auflösung, weil es eine mythische
Wesenheit hinter den besonderen Sachen und Veranstaltungen
2 »Man glaubt für die Klasse zu sterben und stirbt für die Parteiführer. Man glaubt für das
Vaterland zu sterben und stirbt für die Industriellen. Man glaubt für die Freiheit der
Person zu sterben, man stirbt für die Freiheit der Dividenden. Man glaubt für das
Proletariat zu sterben und stirbt für seine Bürokratie. Man glaubt auf Befehl des
Staates zu sterben und stirbt für die Geldmächte, die diesen Staat zusammenhalten. Sie
glauben für eine Nation zu sterben und sterben für die Banditen, die sie knebeln. Man
glaubt – aber wieso glaubt man eigentlich noch an solcher Dunkelheit? Glauben?
Sterben? Wenn es sich darum handelt, leben zu lernen?« François Perroux, La
coexistence pacifique, loc cit , Band III, S 631; dt. Ausgabe, loc. cit. S. 605 (eigene
Übersetzung des dort Fehlenden, A. d. Ü.).
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
ist, sondern weil es der konkrete, objektive Grund dafür ist,
daß jene im gegebenen gesellschaftlichen und historischen
Zusammenhang funktionieren. Als solcher ist es eine reale
Kraft, die von den Individuen in ihren Handlungen,
Umständen und Verhältnissen empfunden und ausgeübt wird.
Sie haben an ihm (in sehr ungleicher Weise) teil; es befindet
über ihr Dasein und ihre Möglichkeiten. Der reale Geist
hat eine sehr gewaltsame Realität, die der getrennten und
unabhängigen Macht des Ganzen über den Individuen. Und
dieses Ganze ist nicht nur eine wahrgenommene Gestalt (wie
in der Psychologie), auch kein metaphysisches Absolutes (wie
bei Hegel) noch ein totalitärer Staat (wie in unzureichender
politischer Wissenschaft) – es ist der herrschende Zustand, der
das Leben der Individuen bestimmt.
Indes, haben nicht – selbst wenn wir diesen politischen
Allgemeinbegriffen eine solche Realität zubilligen – alle
anderen Allgemeinbegriffe einen sehr andersartigen Status? Das
ist der Fall, aber ihre Analyse wird nur allzuleicht innerhalb
der Grenzen der akademischen Philosophie belassen. Die
folgende Diskussion beansprucht nicht, in das »Problem
der Allgemeinbegriffe« einzutreten; sie sucht lediglich die
(künstlich) beschränkte Reichweite der philosophischen
Analyse zu erhellen und auf das Bedürfnis hinzuweisen,
über diese Schranken hinauszugehen. Die Diskussion wird
wiederum substantielle Allgemeinbegriffe als von den logisch-
mathematischen (Menge, Zahl, Klasse usw.) verschieden in
den Brennpunkt stellen und unter jenen die abstrakteren und
umstritteneren Begriffe, die für das philosophische Denken
eine wirkliche Herausforderung sind.
- 295 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Der substantielle Allgemeinbegriff abstrahiert nicht nur
vom konkreten Dasein, sondern bezeichnet auch ein anderes
Dasein. Der Geist ist mehr und etwas anderes als bewußte
Akte und bewußtes Verhalten. Seine Wirklichkeit könnte
versuchsweise beschrieben werden als die Art oder Weise, in
der diese besonderen Akte von einem Individuum synthesiert,
integriert werden. Man könnte versucht sein zu sagen, sie
werden a priori synthesiert durch eine »transzendentale
Apperzeption«, und zwar in dem Sinne, daß die integrierende
Synthese, welche die besonderen Prozesse und Akte ermöglicht,
diesen vorhergeht, sie strukturiert, von »anderen Geistern«
unterscheidet. Doch täte diese Formulierung dem Kantischen
Begriff Gewalt an; denn die Priorität eines solchen Bewußtseins
ist eine empirische, die überindividuelle Erfahrung, Ideen und
Bestrebungen besonderer sozialer Gruppen einschließt.
Angesichts dieser Merkmale kann das Bewußtsein
durchaus eine Anlage, Neigung oder ein Vermögen genannt
werden. Es ist jedoch keine individuelle Anlage oder ein
individuelles Vermögen unter anderen, sondern eine im
strengen Sinn allgemeine Anlage, die, in verschiedenem
Grad, den individuellen Mitgliedern einer Gruppe, Klasse
und Gesellschaft gemeinsam ist. Auf dieser Grundlage
wird die Unterscheidung zwischen wahrem und falschem
Bewußtsein sinnvoll. Jenes würde die Daten der Erfahrung
in Begriffen synthesieren, welche die gegebene Gesellschaft
in den gegebenen Tatsachen so umfassend und angemessen wie
möglich reflektieren. Diese »soziologische« Définition wird
nicht aus irgendeiner Voreingenommenheit für die Soziologie
vorgeschlagen, sondern weil die Gesellschaft tatsächlich
- 296 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
in die Daten der Erfahrung eingeht. Folglich ist die
Unterdrückung der Gesellschaft beim Bilden von Begriffen
gleichbedeutend mit einer akademischen Eingrenzung der
Erfahrung, einer Beschränkung des Sinnes.
Außerdem erzeugt die normale Einschränkung der
Erfahrung eine weitgehende Spannung, ja einen Konflikt
zwischen »Bewußtsein« und bewußten Akten. Wenn ich
vom Geist eines Menschen spreche, dann beziehe ich mich
nicht nur auf seine geistigen Prozesse, wie sie sich in seinem
Ausdruck, seiner Sprache, seinem Verhalten usw. offenbaren,
auch nicht nur auf seine Anlagen oder Fähigkeiten, wie sie
erfahren oder aus Erfahrung abgeleitet werden. Ich meine auch
dasjenige, was er nicht ausdrückt, wofür er keine Anlage zeigt,
was aber nichtsdestoweniger vorhanden ist und in erheblichem
Maße sein Benehmen, sein Verständnis, die Bildung und
Reichweite seiner Begriffe bestimmt.
So sind die spezifischen »umweltlichen« Kräfte, die seinen
Geist von vornherein dazu verhalten, bestimmten Daten,
Bedingungen und Verhältnissen spontan zu widerstreben,
»negativ vorhanden«. Sie sind vorhanden als abgewehrtes
Material. Ihr Fehlen ist eine Realität – ein positiver Faktor, der
seine vorliegenden geistigen Prozesse erklärt, den Sinn seiner
Wörter und seines Verhaltens. Den Sinn für wen? Nicht nur
für den Fachphilosophen, dessen Aufgabe es ist, das Falsche
zu berichtigen, von dem das Universum der Alltagssprache
erfüllt ist, sondern auch für jene, die unter diesem Falschen
leiden, obgleich sie sich dessen nicht bewußt sein mögen
– für Herrn Schulze und Herrn Müller. Die gegenwärtige
- 297 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Sprachanalyse umgeht diese Aufgabe, indem sie die Begriffe
am Maßstab eines verarmten und im vorhinein bedingten
Geistes interpretiert. Worum es geht, ist die ungeschmälerte
und ungereinigte Intention bestimmter Schlüsselbegriffe,
ihre Funktion in einem nicht unterdrückten Verständnis der
Realität – in einem nonkonformistischen, kritischen Denken.
Sind die soeben vorgebrachten Bemerkungen über den
Realitätsgehalt solcher Allgemeinbegriffe wie »Geist« und
»Bewußtsein« auf andere Begriffe, wie die abstrakten und doch
substantiellen Allgemeinbegriffe Schönheit, Gerechtigkeit
und Glück sowie ihre Gegensätze, anwendbar? Es scheint, daß
das Fortbestehen dieser unübersetzbaren Allgemeinbegriffe
als Knotenpunkte des Denkens das unglückliche Bewußtsein
einer gespaltenen Welt reflektiert, in der »das, was ist«,
dem nicht entspricht, ja, das verneint, »was sein kann«. Die
unaufhebbare Differenz zwischen dem Allgemeinen und seinen
partikularen Momenten scheint in der primären Erfahrung
der unüberwindlichen Differenz zwischen Potentialität und
Aktualität verwurzelt – zwischen zwei Dimensionen der
einen erfahrenen Welt.
Wenn ich von einem schönen Mädchen, einer schönen
Landschaft, einem schönen Bild spreche, dann habe ich
unzweifelhaft höchst verschiedene Dinge im Sinn. Was
ihnen allen gemeinsam ist – »Schönheit« – ist weder eine
geheimnisvolle Wesenheit noch ein geheimnisvolles Wort.
Im Gegenteil, nichts wird vielleicht unmittelbarer und klarer
erfahren als die Erscheinung der »Schönheit« in verschiedenen
schönen Objekten. Der Freund und der Philosoph, der Künstler
- 298 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
und der Leichenbestatter mögen sie auf sehr verschiedene
Weisen »definieren«, aber alle definieren denselben spezifischen
Zustand oder dieselbe Beschaffenheit – eine Qualität oder
Qualitäten, die bewirken, daß das Schöne einen Gegensatz
zu anderen Objekten bildet. In dieser Unbestimmtheit und
Unmittelbarkeit wird die Schönheit im Schönen erfahren
– das heißt gesehen, gehört, gesprochen, berührt, gefühlt,
begriffen. Sie wird fast als ein Schock erfahren, vielleicht
infolge des Gegensatzcharakters der Schönheit, der den
Umkreis der alltäglichen Erfahrung durchbricht und (für einen
kurzen Augenblick) eine andere Wirklichkeit eröffnet (zu der
das Entsetzen als integrales Element gehören kann)3.
Diese Beschreibung hat genau jenen metaphysischen
Charakter, den die positivistische Analyse durch Übersetzung
zu eliminieren wünscht; aber die Übersetzung eliminiert, was
zu definieren war. Es gibt in der Ästhetik mehr oder weniger
zufriedenstellende »technische« Definitionen des Schönen,
aber es scheint nur eine zu geben, die den Erfahrungsgehalt
des Schönen rettet und deshalb die am wenigsten exakte
Definition ist – Schönheit als »promesse de bonheur«4. Sie
erfaßt die Beziehung auf einen Zustand von Menschen und
Dingen und auf ein Verhältnis von Menschen und Dingen,
die sich flüchtig ereignen und verschwinden, die in so vielen
verschiedenen Formen erscheinen, als es Individuen gibt,
und die, im Verschwinden, offenbaren, was sein kann.
3 Rilke, Duineser Elegien, Erste Elegie.
4 Stendhal.
- 299 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Der Protest gegen den vagen, dunklen, metaphysischen
Charakter solcher Allgemeinbegriffe, das Bestehen auf
vertrauter Konkretheit und schützender Sekurität des
gesunden und des wissenschaftlichen Menschenverstandes
offenbaren noch etwas von jener archaischen Angst, welche die
überlieferten Ursprünge des philosophischen Denkens in seiner
Entwicklung von der Religion zur Mythologie und von der
Mythologie zur Logik begleitete; Verteidigung und Sicherheit
sind noch immer wichtige Punkte im intellektuellen wie im
nationalen Haushalt. Die ungereinigte Erfahrung scheint mit
dem Abstrakten und Allgemeinen vertrauter als die analytische
Philosophie; sie scheint eingebettet in eine metaphysische
Welt.
Allgemeinheiten sind primäre Erfahrungselemente – nicht
als philosophische Begriffe, sondern als die Qualitäten
eben der Welt, mit der es einer täglich zu tun hat. Was
erfahren wird, ist zum Beispiel Schnee oder Regen oder
Hitze; eine Straße; ein Büro oder ein Chef; Liebe oder Haß.
Besondere Dinge (Seiendes) und Ereignisse erscheinen nur
in einer Gruppe und einem Kontinuum von Verhältnissen und
selbst als Gruppe und Kontinuum in Gestalt von Vorgängen
und Teilen, die in einer allgemeinen Konfiguration auftreten,
von der sie nicht getrennt werden können; sie können nicht
auf andere Weise erscheinen, ohne ihre Identität zu verlieren.
Besondere Dinge und Ereignisse gibt es nur auf einem
allgemeinen Hintergrund, der mehr ist als ein Hintergrund
– er ist die konkrete Grundlage, auf der sie sich erheben,
bestehen und vergehen. Diese Grundlage ist strukturiert nach
Allgemeinheiten wie Farbe, Gestalt, Dichte, Härte oder
- 300 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Weichheit, Licht oder Dunkelheit, Bewegung oder Ruhe. In
diesem Sinne scheinen die Allgemeinheiten den »Stoff« der
Welt zu bezeichnen:
»Wir können vielleicht den >Stoff< der Welt als das definieren,
was durch Wörter bezeichnet wird, die, wenn sie richtig
gebraucht werden, als Subjekte von Prädikaten oder Termini
von Relationen auftreten. In diesem Sinne würde ich sagen,
daß der Stoff der Welt eher aus Dingen wie Weiße besteht
als aus Objekten, die die Eigenschaft haben, weiß zu sein«.
»Traditionellerweise zählten Qualitäten wie weiß oder hart
oder süß zu den Allgemeinbegriffen, aber wenn obige Theorie
gilt, sind sie syntaktisch mehr den Substanzen verwandt«5.
Der substantielle Charakter der »Qualitäten« verweist
auf den erfahrungsmäßigen Ursprung der substantiellen
Allgemeinbegriffe, auf die Weise, in der Begriffe unmittelbarer
Erfahrung entspringen. Humboldts Sprachphilosophie hebt
den erfahrungsmäßigen Charakter des Begriffs in seinem
Verhältnis zur Welt hervor; er bringt ihn dazu, nicht nur
zwischen Begriffen und Wörtern eine ursprüngliche
Verwandtschaft anzunehmen, sondern auch zwischen Begriffen
und Lauten. Wenn jedoch das Wort als das Vehikel der Begriffe
das wirkliche »Element« der Sprache ist, so vermittelt es nicht
den gebrauchsfertigen Begriff; es enthält ihn nicht als bereits
fixierten und »geschlossenen«. Das Wort weist nur auf einen
Begriff hin, es bezieht sich auf ein Allgemeines6.
5 Bertrand Russell, My Philosophical Development, New York 1959, S. 170-171.
6 Wilhelm v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, loc. cit.
S. 197.
- 301 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Aber gerade die Beziehung des Wortes auf ein substantiell
Allgemeines (Begriff) macht es Humboldt zufolge unmöglich,
sich den Ursprung der Sprache so vorzustellen, daß sie mit der
Bezeichnung von Objekten durch Wörter beginnt und dann
zu deren Zusammenfügung fortschreitet: »In der Wirklichkeit
wird die Rede nicht aus ihr vorangegangenen Wörtern
zusammengesetzt, sondern die Wörter gehen umgekehrt
aus dem Ganzen der Rede hervor«7.
Das »Ganze«, das hier ins Blickfeld tritt, muß von jedem
Mißverständnis im Sinne einer unabhängigen Wesenheit,
einer »Gestalt« und dergleichen freigehalten werden. Der
Begriff drückt irgendwie die Differenz und Spannung
zwischen Potentialität und Aktualität aus – die Identität in
dieser Differenz. Er erscheint in der Beziehung zwischen
den Qualitäten (weiß, hart; aber auch schön, frei, gerecht)
und den entsprechenden Begriffen (Weiße, Härte, Schönheit,
Freiheit, Gerechtigkeit). Deren abstrakter Charakter scheint
die konkreten Qualitäten als Teilverwirklichungen, Aspekte,
Manifestationen einer allgemeineren und »hervorragenderen«
Qualität zu bezeichnen, die im Konkreten erfahren wird8.
Und kraft dieser Beziehung scheint die konkrete Qualität
ebenso eine Negation wie eine Verwirklichung des Allgemeinen
darzustellen. Schnee ist weiß, aber nicht »Weiße«; ein
Mädchen kann schön sein, sogar eine Schönheit, aber nicht »die
Schönheit«; ein Land kann frei sein (im Vergleich zu anderen),
7 Ders. Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf
die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Akademieausgabe, Bd. VII, 1, S.
72.
8 Cf. S. 225 f.
- 302 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
weil seine Menschen bestimmte Freiheiten haben, aber es ist
nicht die Verkörperung der Freiheit. Überdies sind die Begriffe
nur im erfahrenen Kontrast zu ihren Gegensätzen sinnvoll:
weiß zu nicht weiß, schön zu nicht schön. Negative Aussagen
lassen sich mitunter in positive übersetzen: »schwarz« oder
»grau« kann an die Stelle von »nicht weiß« treten, »häßlich«
an die von »nicht schön«.
Diese Formulierungen ändern die Beziehung zwischen dem
abstrakten Begriff und seinen konkreten Verwirklichungen
nicht: der Allgemeinbegriff bezeichnet, was die besondere
Wesenheit ist und nicht ist. Die Übersetzung kann die
verborgene Negation eliminieren, indem sie den Sinn in
einem widerspruchsfreien Satz neuformuliert, aber die nicht
übersetzte Aussage deutet auf einen realen Mangel hin. In
dem abstrakten Hauptwort (Schönheit, Freiheit) ist mehr
enthalten als in den Qualitäten (»schön«, »frei«), die dem
besonderen Menschen, Ding oder Zustand zugesprochen
werden. Das substantiell Allgemeine intendiert Qualitäten,
die über alle besondere Erfahrung hinausgehen, aber im
Geist fortbestehen, nicht als Produkt der Einbildung oder
als bloß logische Möglichkeiten, sondern als der »Stoff«, aus
dem unsere Welt besteht. Kein Schnee ist pures Weiß, und kein
grausames Tier oder grausamer Mensch verkörpert in sich
alle Grausamkeit, die der Mensch kennt – als eine geradezu
unerschöpfliche Kraft in der Geschichte und der Einbildung.
Nun gibt es eine große Klasse von Begriffen – wir müssen
wohl sagen: die philosophisch relevanten Begriffe –, bei denen
die quantitative Beziehung zwischen dem Allgemeinen und
- 303 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
dem Besonderen einen qualitativen Aspekt annimmt, bei denen
das Abstrakt-Allgemeine Potentialitäten in einem konkreten,
historischen Sinne zu bezeichnen scheint. Wie »Mensch«,
»Natur«, »Gerechtigkeit«, »Schönheit« oder »Freiheit« auch
definiert werden mögen, sie synthesieren Erfahrungsgehalte
zu Ideen, die ihre besonderen Verwirklichungen als etwas
transzendieren, was überboten, überwunden werden muß.
So umfaßt der Begriff der Schönheit alle Schönheit, die noch
nicht verwirklicht ist, der Begriff der Freiheit alle Freiheit, die
noch nicht erlangt ist.
Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, der philosophische
Begriff »Mensch« zielt auf die vollentwickelten menschlichen
Anlagen ab, die seine eigentümlichen Anlagen sind, und die
als Möglichkeiten der Bedingungen erscheinen, unter denen
die Menschen tatsächlich leben. Der Begriff artikuliert die
Qualitäten, die als »typisch menschlich« bezeichnet werden.
Die vage Redeweise mag dazu dienen, den Doppelsinn solcher
philosophischen Definitionen zu erhellen – sie vereinigen
nämlich die Qualitäten, die allen Menschen, als anderen
Lebewesen entgegengesetzt, zukommen und die gleichzeitig als
die angemessenste oder höchste Verwirklichung des Menschen
behauptet werden9.
9 Diese Interpretation, die den normativen Charakter der Allgemeinbegriffe unterstreicht,
läßt sich mit der Konzeption des Allgemeinen in der griechischen Philosophie in
Verbindung bringen – nämlich mit dem Begriff des Allgemeinsten als des Höchsten, des
Ersten an »Vortrefflichkeit« und deshalb als der wahren Realität »…Allgemeinheit
ist kein Subjekt, sondern ein Prädikat, ein Prädikat eben der Erstrangigkeit, die der
höchsten Vortrefflichkeit an Erfüllung innewohnt. Das heißt Allgemeinheit ist eben deshalb
und nur in dem Maße allgemein, als sie >wie< Erstrangigkeit ist. Sie ist also nicht nach
Art eines logischen Allgemeinbegriffs, sondern nach Art einer Norm, die – nur weil sie
- 304 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Solche Allgemeinheiten erscheinen daher als begriffliche
Instrumente zum Verständnis der besonderen Beschaffenheiten
der Dinge im Licht ihrer Potentialitäten. Sie sind geschichtlich
und übergeschichtlich; sie bringen den Stoff, aus dem die
erfahrene Welt besteht, auf den Begriff und tun dies
im Hinblick auf seine Möglichkeiten, im Licht ihrer
gegenwärtigen Beschränkung, Unterdrückung und
Verneinung. Weder die Erfahrung noch das Urteil ist privat.
Die philosophischen Begriffe bilden und entwickeln sich im
Bewußtsein einer allgemeinen Lage in einem geschichtlichen
Kontinuum; sie werden aus einer individuellen Position heraus
in einer spezifischen Gesellschaft ausgearbeitet. Der Stoff des
Denkens ist ein geschichtlicher Stoff – wie abstrakt, allgemein
oder rein er auch in philosophischer oder wissenschaftlicher
Theorie werden mag. Der abstrakt-allgemeine und zugleich
historische Charakter dieser »ewigen Objekte« des Denkens
wird in Whiteheads Buch Science and the Modern World
erkannt und klar ausgesprochen:
allgemeinverbindlich ist – es vermag, eine Vielheit von Teilen zu einem einfachen Ganzen
zu vereinigen. Es ist von höchster Wichtigkeit, sich klar zu machen, daß die Beziehung
dieses Ganzen zu seinen Teilen nicht mechanisch (das Ganze = Summe seiner Teile),
sondern immanent-teleologisch ist (das Ganze = verschieden von der Summe seiner Teile)
Ferner ist diese immanent-teleologische Ansicht von der Ganzheit als funktional, ohne
zweckhaft zu sein, bei aller Relevanz für das Phänomen des Lebens nicht ausschließlich
oder gar primär eine >organismische< Kategorie Sie ist stattdessen in der immanenten,
inneren Funktionalität der Vortrefflichkeit als solcher verwurzelt, die ein Mannigfaltiges
gerade im Prozeß seiner >Aristokratisierung< vereinheitlicht, wobei Vortrefflichkeit und
Einheit eben die Bedingungen der vollen Realität des Mannigfaltigen sind « Harold
A. T Reiche, »General Because First« A Presocratic Motive in Aristotle’s Theology
(Massachusetts Institute of Technology, Cambridge 1961, Publications in Humanities
Nr. 52), S. 105 f.
- 305 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
»Ewige Objekte sind… ihrer Natur nach abstrakt. Unter
>abstrakt< verstehe ich, was ein ewiges Objekt an
sich ist – das heißt sein Wesen – was ohne Bezugnahme
auf irgendeine partikulare Erfahrung begreifbar ist.
Abstrakt sein heißt, das partikulare Ereignis tatsächlichen
Geschehens zu transzendieren. Aber ein tatsächliches
Ereignis zu transzendieren, bedeutet nicht, von ihm losgelöst
zu sein. Im Gegenteil, ich behaupte, daß jedes ewige Objekt
in einem eigenen, spezifischen Zusammenhang mit jedem
solchen Ereignis steht, den ich als seine Weise bezeichne, in
jenes Ereignis einzubrechen.«
»So ist der metaphysische Status eines ewigen Objekts der
einer Möglichkeit für eine Wirklichkeit. Jedes tatsächliche
Ereignis ist dadurch in seinem Charakter bestimmt, wie sich
diese Möglichkeiten für es aktualisieren«10.
Elemente des Erfahrens, Projektierens und Vorwegnehmens
realer Möglichkeiten gehen in die begrifflichen Synthesen
ein – in achtbarer Form als Hypothesen, in verrufener als
»Metaphysik«. Sie sind in mehrfacher Hinsicht unrealistisch,
weil sie über das bestehende Universum des Verhaltens
hinausgehen, und sie können im Interesse der Sauberkeit
und Exaktheit sogar unerwünscht sein. Sicher ist bei der
philosophischen Analyse »wenig wirklicher Fortschritt dafür…
zu erhoffen, daß wir unser Universum so ausweiten, das es
sogenannte mögliche Wesenheiten einschließt«11, aber alles
hängt davon ab, wie Ockhams Rasiermesser angewandt wird,
10 New York, Macmillan, 1926, S. 228 f.
- 306 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
das heißt welche Möglichkeiten abgeschnitten werden sollen.
Die Möglichkeit einer gänzlich anderen gesellschaftlichen
Organisation des Lebens hat nichts mit der »Möglichkeit«
gemein, daß morgen an allen Türeingängen ein Mann
mit einem grünen Hut erscheint; aber ihre Behandlung
nach derselben Logik kann dazu dienen, unerwünschte
Möglichkeiten zu diffamieren. Indem er die Einführung
möglicher Wesenheiten kritisiert, schreibt Quine, daß solch
ein »überbevölkertes Universum in vieler Hinsicht unschön
ist. Es beleidigt den ästhetischen Sinn derjenigen unter uns, die
eine Vorliebe für Wüstenlandschaften haben, aber das ist noch
nicht das Schlimmste. [Solch ein] Armenviertel von Möglichem
ist eine Brutstätte für unordentliche Elemente«.12
Die Philosophie der Gegenwart ist selten zu einer
authentischeren Formulierung des Konflikts zwischen ihrer
Absicht und ihrer Funktion gelangt. Das sprachliche Syndrom
aus »Schönheit«, »ästhetischer Sinn« und »Wüstenlandschaft«
beschwört die befreiende Atmosphäre von Nietzsches Denken
und durchbricht Gesetz und Ordnung, während die »Brutstätte
für unordentliche Elemente« zu der Sprache gehört, die von
Fahndungs- und Nachrichtenbehörden gesprochen wird. Was
vom logischen Gesichtspunkt als unschön und unordentlich
erscheint, kann durchaus die schönen Elemente einer anderen
Ordnung umfassen und damit ein wesentlicher Teil des
Materials sein, aus dem philosophische Begriffe gebildet
werden. Weder der raffinierteste ästhetische Sinn noch der
exakteste philosophische Begriff ist gegen die Geschichte
11 W. V. O. Quinc, From a Logical Point of View, loc. cit. S. 4.
12 Ibid.
- 307 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
immun. Unordentliche Elemente gehen in die reinsten
Gegenstände des Denkens ein. Auch diese sind von einem
gesellschaftlichen Boden abgelöst, und die Inhalte, von denen
sie abstrahieren, leiten die Abstraktion.
Damit ist das Gespenst des »Historismus« beschworen.
Wenn das Denken von geschichtlichen Bedingungen ausgeht,
die in der Abstraktion wirksam bleiben, gibt es dann eine
objektive Basis, auf der zwischen den verschiedenen
Möglichkeiten, die das Denken entwirft, unterschieden
werden kann – unterschieden zwischen verschiedenen und
einander widerstreitenden Weisen begrifflicher Transzendenz?
Hinzukommt, daß die Frage nicht nur in Bezug auf verschiedene
philosophische Entwürfe diskutiert werden kann13.
Soweit der philosophische Entwurf ideologisch ist, gehört er
einem geschichtlichen Entwurf an – das heißt einem spezifischen
Stadium und Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung, und
die kritischen philosophischen Begriffe beziehen sich (wie
indirekt auch immer!) auf alternative Möglichkeiten dieser
Entwicklung.
Die Suche nach Kriterien, von denen aus verschiedene
philosophische Entwürfe beurteilt werden können, führt
so zu der Suche nach Kriterien, verschiedene geschichtliche
Entwürfe und Alternativen zu beurteilen, verschiedene wirkliche
und mögliche Weisen, Mensch und Natur zu verstehen und
zu verändern. Ich werde nur einige Thesen vorbringen, aus
denen hervorgeht, daß der zutiefst geschichtliche Charakter
der philosophischen Begriffe, weit davon entfernt, objektive
13 Cf. zu diesem Gebrauch des Terminus »Entwurf« die Vorrede, S. 18.
- 308 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Gültigkeit auszuschließen, gerade den Grund für ihre
objektive Gültigkeit bestimmt.
Indem der Philosoph für sich spricht und denkt, spricht und
denkt er von einer besonderen Position in seiner Gesellschaft
her, und zwar mit dem Material, das diese Gesellschaft
übermittelt und benutzt. Damit aber spricht und denkt er in
ein allgemeines Universum von Tatsachen und Möglichkeiten
hinein. Vermittels der verschiedenen individuellen Agentien
und Schichten der Erfahrung, vermittels der verschiedenen
»Entwürfe«, welche die Denkweisen von den Geschäften des
Alltagslebens bis zur Wissenschaft und Philosophie leiten, hält
sich die Wechselwirkung zwischen einem kollektiven Subjekt
und einer gemeinsamen Welt durch und konstituiert die
objektive Gültigkeit der Allgemeinbegriffe. Sie ist objektiv:
1) aufgrund der Materie (Stoff), die dem wahrnehmenden
und begreifenden Subjekt gegenübersteht. Die Bildung
der Begriffe bleibt bestimmt durch die in Subjektivität
unauflösbare Struktur der Materie (selbst wenn diese Struktur
völlig mathematisch-logisch ist). Kein Begriff kann gelten,
der sein Objekt mit Eigenschaften und Funktionen definiert,
die ihm nicht zukommen (zum Beispiel kann ein Individuum
nicht als fähig definiert werden, mit einem anderen identisch
zu werden oder der Mensch als fähig, ewig jung zu bleiben).
Die Materie tritt dem Subjekt jedoch in einem historischen
Universum gegenüber, und die Objektivität erscheint unter
einem offenen geschichtlichen Horizont;
2) aufgrund der Struktur der spezifischen Gesellschaft, in
der die Entwicklung der Begriffe stattfindet. Diese Struktur
- 309 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
ist allen Subjekten in dem jeweiligen Universum gemeinsam.
Sie existieren unter denselben Naturbedingungen, derselben
Produktionsform, derselben Weise, den gesellschaftlichen
Reichtum auszuwerten, demselben Erbe der Vergangenheit,
derselben Reichweite von Möglichkeiten. Alle Unterschiede
und Konflikte zwischen Klassen, Gruppen und Individuen
entfalten sich innerhalb dieses gemeinsamen Rahmens.
Die Objekte von Denken und Wahrnehmung, wie sie den
Individuen vor aller »subjektiven« Interpretation erscheinen,
haben bestimmte primäre Qualitäten gemeinsam, die
folgenden zwei Realitätsschichten angehören:
1. der physischen (natürlichen) Struktur der Materie
und 2. der Form, welche die Materie in der kollektiven
geschichtlichen Praxis erlangt hat, die sie (die Materie) zu
Objekten für ein Subjekt gemacht hat. Diese beiden Schichten
oder Aspekte der Objektivität (physisch und geschichtlich)
sind derart wechselseitig vermittelt, daß sie nicht voneinander
isoliert werden können; der geschichtliche Aspekt läßt sich
niemals so radikal ausschalten, daß nur die »absolute«
physische Schicht übrigbleibt.
Zum Beispiel habe ich zu zeigen versucht, daß in der
technologischen Wirklichkeit die Objektwelt (einschließlich
der Subjekte) als eine Welt von Mitteln erfahren wird.
Der technologische Zusammenhang bestimmt im vorhinein
die Form, unter der die Objekte erscheinen. Sie erscheinen
dem Wissenschaftler a priori als wertfreie Elemente oder
Komplexe von Beziehungen, die der Organisation in einem
- 310 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
leistungsfähigen mathematischlogischen System zugänglich
sind; und sie erscheinen dem gesunden Menschenverstand
als Stoff der Arbeit oder Freizeit, der Produktion oder des
Konsums. Die Objektwelt ist so die Welt eines spezifisch
geschichtlichen Entwurfs und ist niemals außerhalb des
geschichtlichen Entwurfs erreichbar, der die Materie organisiert,
und die Organisation der Materie ist ein zugleich theoretisches
und praktisches Unternehmen.
Ich habe den Terminus »Entwurf« so oft benutzt, weil er mir
den spezifischen Charakter der geschichtlichen Praxis äußerst
klar zu akzentuieren scheint. Sie geht aus einer bestimmten
Wahl hervor, daraus, daß aus einer Reihe von Weisen, die
Realität zu begreifen, zu organisieren und zu verändern, eine
herausgegriffen wird. Diese ursprüngliche Wahl bestimmt
den Spielraum der Möglichkeiten, die sich auf diesem Wege
eröffnen, und schließt alternative Möglichkeiten aus, die mit
ihm unvereinbar sind.
Ich möchte nun einige Kriterien für den Wahrheitswert
verschiedener geschichtlicher Entwürfe vorlegen. Diese
Kriterien müssen sich auf die Weise beziehen, in der ein
geschichtlicher Entwurf gegebene Möglichkeiten verwirklicht
– keine formalen Möglichkeiten, sondern solche, die in sich
die Weisen der menschlichen Existenz enthalten. Solche
Verwirklichung geschieht tatsächlich in jeder geschichtlichen
Situation. Jede bestehende Gesellschaft ist eine solche
Verwirklichung; mehr noch, sie tendiert dazu, über die
Rationalität möglicher Entwürfe im voraus zu entscheiden,
sie innerhalb ihres Rahmens zu halten. Zugleich steht jede
- 311 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Gesellschaft der Wirklichkeit oder Möglichkeit einer qualitativ
anderen geschichtlichen Praxis gegenüber, die das bestehende
institutionelle Gefüge zerstören könnte. Die bestehende
Gesellschaft hat ihren Wahrheitswert als geschichtlicher
Entwurf bereits unter Beweis gestellt. Sie hat den Kampf des
Menschen mit dem Menschen und mit der Natur erfolgreich
organisiert; sie reproduziert und sichert (mehr oder weniger
angemessen) das menschliche Dasein (immer mit Ausnahme
des Daseins jener, die zu Geächteten, feindlichen Fremden
erklärt werden sowie anderer Opfer des Systems). Aber
gegenüber diesem voll verwirklichten Entwurf treten andere
Entwürfe auf, unter ihnen solche, die den etablierten in
seiner Totalität ändern würden. Mit Bezug auf einen solchen
transzendenten Entwurf lassen sich denn auch die Kriterien für
objektive geschichtliche Wahrheit am besten als die Kriterien
seiner Rationalität formulieren:
1) Der transzendente Entwurf muß mit den realen
Möglichkeiten übereinstimmen, die auf dem erreichten Niveau
der materiellen und geistigen Kultur offen sind.
2) Um die je bestehende Totalität als falsch zu erweisen,
muß der transzendente Entwurf seine eigene höhere
Rationalität in dem dreifachen Sinne belegen, daß er
a) die Aussicht bietet, die produktiven Errungenschaften
der Zivilisation zu erhalten und zu verbessern;
b) die bestehende Gesellschaft in ihrer Wesensstruktur,
ihren Grundtendenzen und -beziehungen bestimmt;
- 312 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
c) der Verwirklichung einer Befriedung des Daseins eine
größere Chance bietet im Rahmen von Institutionen, die
der freien Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse
und Anlagen eine größere Chance bieten.
Offenbar enthält dieser Begriff von Rationalität, besonders
in der letzten Aussage, ein Werturteil, und ich betone erneut,
was ich bereits festgestellt habe: ich glaube, daß der Begriff
der Vernunft in diesem Werturteil gründet und der Begriff
der Wahrheit vom Wert der Vernunft nicht abgelöst werden
kann.
»Befriedung«, »freie Entwicklung der menschlichen
Bedürfnisse und Anlagen« – diese Begriffe lassen sich im
Hinblick auf die verfügbaren geistigen und materiellen
Ressourcen und Vermögen und deren systematische
Anwendung zur Herabminderung des Kampfes ums Dasein
empirisch bestimmen. Darin besteht der objektive Grund
historischer Rationalität.
Wenn das geschichtliche Kontinuum selbst den objektiven
Grund zur Bestimmung der Wahrheit verschiedener
geschichtlicher Entwürfe liefert, bestimmt es dann auch
deren Abfolge und Grenzen? Die geschichtliche Wahrheit ist
relativ; die Rationalität des Möglichen hängt ab von der des
Wirklichen, die Wahrheit des transzendierenden Entwurfs
von der des verwirklichten. Die Aristotelische Wissenschaft
wurde ihrer Falschheit aufgrund ihrer Errungenschaften
überführt; würde der Kapitalismus durch den Kommunismus
seiner Falschheit überführt, so würde er es aufgrund seiner
eigenen Errungenschaften. Die Kontinuität wird durch
- 313 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
den Bruch gewahrt: quantitative Entwicklung wird zu
qualitativer Änderung, wenn sie an die innere Struktur eines
etablierten Systems heranreicht; die etablierte Rationalität wird
irrational, sobald die Potentialitäten des Systems im Laufe ihrer
inneren Entwicklung über dessen Institutionen hinausgewachsen
sind. Eine solche innere Widerlegung gehört zum geschichtlichen
Charakter der Wirklichkeit, und gerade dieser Charakter
verleiht den Begriffen, die diese Wirklichkeit erfassen, ihre kritische
Intention. Sie anerkennen und antizipieren das Irrationale in
der je bestehenden Wirklichkeit – sie entwerfen die geschichtliche
Negation.
Ist diese Negation eine »bestimmte« Negation – das heißt, ist
der innere Verlauf eines geschichtlichen Entwurfs, wenn dieser
einmal zu einer Totalität geworden ist, notwendig durch die
Struktur dieser Totalität vorausbestimmt? Wenn ja, dann wäre
der Terminus »Entwurf« trügerisch. Was historische Möglichkeit
ist, wäre früher oder später wirklich; und die Definition der
Freiheit als begriffene Notwendigkeit hätte einen repressiven
Nebensinn, den sie nicht hat. All dies mag nicht viel ausmachen.
Was aber etwas ausmacht, ist der Umstand, daß eine derartige
geschichtliche Determination (trotz aller subtilen Ethik und
Psychologie) die Verbrechen gegen die Menschheit freispräche,
die die Zivilisation fortwährend begeht, und damit deren
Fortsetzung erleichterte.
Ich schlage den Ausdruck »bestimmte Wahl« vor, um den
Einbruch der Freiheit in die historische Notwendigkeit
hervorzuheben; der Ausdruck faßt lediglich den Satz zusammen,
- 314 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
daß die Menschen ihre Geschichte selbst machen, aber unter
gegebenen Bedingungen. Determiniert sind
1)
die spezifischen Widersprüche, die sich in einem geschichtlichen
System als Manifestationen des Konflikts zwischen dem
Potentiellen und dem Aktuellen entwickeln;
2)
die materiellen und geistigen Ressourcen, über die das jeweilige
System verfügt;
3)
das Ausmaß an theoretischer und praktischer Freiheit, das mit
dem System verträglich ist. Diese Bedingungen lassen alternative
Möglichkeiten offen, die verfügbaren Ressourcen zu entwickeln
und nutzbar zu machen, alternative Möglichkeiten, »sich zu
ernähren« und die Auseinandersetzung des Menschen mit der
Natur zu organisieren.
So kann die Industrialisierung im Rahmen einer gegebenen
Situation auf verschiedene Weisen vonstatten gehen, unter
kollektiver oder privater Kontrolle und, selbst unter privater
Kontrolle, in verschiedenen Richtungen des Fortschritts und
mit verschiedenen Zielen. Die Wahl ist in erster Linie (aber
nur in erster Linie!) das Vorrecht jener Gruppen, die zur
Kontrolle über den Produktionsprozeß gelangt sind. Ihre
Kontrolle entwirft den Lebenszuschnitt des Ganzen, und
die sich daraus ergebende und versklavende Notwendigkeit
ist das Resultat ihrer Freiheit. Und die mögliche Aufhebung
dieser Notwendigkeit hängt ab von einem neuen Einbruch der
- 315 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Freiheit – nicht irgendeiner Freiheit, sondern der von Menschen,
welche die gegebene Notwendigkeit als unerträgliche Qual
und als unnötig begreifen.
Als geschichtlicher Prozeß schließt der dialektische Prozeß
Bewußtsein ein: daß die befreienden Potentialitäten erkannt
und erfaßt werden. Damit schließt er Freiheit ein. In dem Maße,
wie das Bewußtsein durch die Erfordernisse und Interessen
der bestehenden Gesellschaft bestimmt wird, ist es »unfrei«;
in dem Maße, wie die bestehende Gesellschaft irrational
ist, wird das Bewußtsein nur im Kampf gegen sie frei für die
höhere geschichtliche Rationalität. Wahrheit und Freiheit des
negativen Denkens haben ihren Grund und Boden in diesem
Kampf. So ist nach Marx das Proletariat nur als revolutionäre
Kraft die befreiende geschichtliche Kraft; die bestimmte
Negation des Kapitalismus tritt ein, wofern und wenn das
Proletariat seiner selbst und der Bedingungen und Prozesse
bewußt geworden ist, die seine Gesellschaft ausmachen. Dieses
Bewußtsein ist ebenso die Voraussetzung wie ein Element
der negierenden Praxis. Dieses »Wofern« gehört wesentlich
zum geschichtlichen Fortschritt – es ist das Element der
Freiheit (und Chance!), das die Möglichkeiten eröffnet, die
Notwendigkeit der gegebenen Tatsachen zu überwinden.
Ohne es fällt die Geschichte ins Dunkel unbezwungener Natur
zurück.
Wir sind dem »circulus vitiosus« von Freiheit und
Befreiung bereits begegnet;14 hier kehrt er wieder als die
Dialektik der bestimmten Negation. Die Transzendenz der
bestehenden Bedingungen (von Denken und Handeln) setzt
- 316 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Transzendenz innerhalb dieser Bedingungen voraus. Diese
negative Freiheit – das heißt Freiheit von der bedrückenden und
ideologischen Macht der gegebenen Tatsachen – ist das Apriori
der historischen Dialektik; sie ist das Element der Wahl und der
Entscheidung in der geschichtlichen Determination und gegen
sie. Keine der gegebenen Alternativen ist von sich aus bestimmte
Negation, wofern und solange sie nicht bewußt ergriffen wird,
um die Macht unerträglicher Bedingungen zu brechen und
rationalere, logischere Bedingungen zu erreichen, die von den
jetzt herrschenden ermöglicht werden. In jedem Fall ist die
Rationalität und Logik, woran die Bewegung des Denkens und
Handelns appelliert, die der gegebenen und zu überschreitenden
Bedingungen. Die Negation vollzieht sich auf empirischem
Boden; sie ist ein geschichtlicher Entwurf innerhalb eines bereits
bestehenden Entwurfs und über diesen hinaus, und ihre Wahrheit
ist eine auf diesem Boden zu bestimmende Chance.
Die Wahrheit eines geschichtlichen Entwurfs wird jedoch nicht ex
post durch den Erfolg erhärtet, das heißt durch die Tatsache, daß
er von der Gesellschaft akzeptiert und verwirklicht wird. Die
Galileische Wissenschaft war bereits wahr, als sie noch verdammt
wurde; die Marxsche Theorie war bereits wahr zur Zeit des
Kommunistischen Manifests; der Faschismus bleibt falsch, selbst
wenn er im internationalen Maßstab im Aufstieg ist (»wahr«
und »falsch« immer im Sinne der historischen Rationalität,
wie sie oben definiert wurde). In der gegenwärtigen Periode
scheinen sich alle geschichtlichen Entwürfe nach den beiden
im Konflikt liegenden Totalitäten zu polarisieren – Kapitalismus
14 Cf. S. 61.
- 317 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
und Kommunismus, und das Ergebnis scheint von zwei
antagonistischen Reihen von Faktoren abzuhängen: 1. von der
größeren Zerstörungskraft; 2. von der größeren Produktivität
ohne Zerstörung. Mit anderen Worten, die höhere geschichtliche
Wahrheit läge bei demjenigen System, das die größere Chance
der Befriedung bietet.
- 318 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
9 Die Katastrophe der Befreiung
Das positive Denken und seine neopositivistische
Philosophie widersetzen sich dem geschichtlichen Inhalt der
Rationalität. Dieser Inhalt ist niemals ein äußerlicher Faktor
oder Sinn, der in die Analyse aufgenommen werden kann oder
auch nicht; er geht als konstitutiver Faktor in das begriffliche
Denken ein und bestimmt die Gültigkeit seiner Begriffe. In
dem Maße, wie die bestehende Gesellschaft irrational ist, führt
die an geschichtlicher Rationalität orientierte Analyse das
negative Element in den Begriff ein – Kritik, Widerspruch
und Transzendenz.
Dieses Element läßt sich dem Positiven nicht angleichen.
Es ändert den Begriff völlig in seiner Intention und
Gültigkeit. So werden bei der Analyse einer Wirtschaft,
sie sei kapitalistisch oder nicht, die als eine »unabhängige«
Macht gegenüber den Individuen auftritt, die negativen
Züge (Überproduktion, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit,
Verschwendung, Unterdrückung) nicht begriffen, solange sie
bloß als mehr oder weniger unvermeidliche Nebenprodukte
erscheinen, als die »Kehrseite der Medaille« von Wachstum
und Fortschritt.
Zwar kann eine totalitäre Regierung die wirksame
Ausbeutung der Ressourcen fördern; das nuklear-militärische
Establishment kann infolge seiner enormen Kaufkraft Millionen
von Arbeitsplätzen bereitstellen; Plackerei und Schwielen
können das Nebenprodukt des Erwerbs von Reichtum und
Verantwortung sein; tödliche Fehler und Verbrechen seitens
der Führer können sich ausnehmen, als seien sie bloß der
- 319 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Lauf der Welt. Man ist bereit, ökonomischen und politischen
Wahnsinn zuzulassen – und nimmt ihn in Kauf. Aber diese Art,
die »Kehrseite der Medaille« zu kennen, gehört wesentlich
zur Zementierung des Bestehenden, zur großen Vereinigung
der Gegensätze, die qualitativer Veränderung entgegenwirkt,
weil sie bezogen ist auf ein völlig hoffnungsloses oder völlig
präformiertes Dasein, heimisch geworden in einer Welt, in der
selbst das Irrationale Vernunft ist.
Die Toleranz des positiven Denkens ist aufgezwungen
– nicht von irgendeiner terroristischen Agentur, sondern von
der überwältigenden, anonymen Macht und Wirksamkeit der
technologischen Gesellschaft. Als solche durchdringt sie das
allgemeine Bewußtsein – und das des Kritikers. Die Aufsaugung
des Negativen durchs Positive wird bestätigt in der täglichen
Erfahrung, die den Unterschied zwischen rationaler Erscheinung
und irrationaler Wirklichkeit verschwimmen läßt. Im folgenden
einige banale Beispiele für diese Harmonisierung:
1)
Ich fahre in einem neuen Auto. Ich erlebe seine Schönheit,
seinen Glanz, seine Stärke und Bequemlichkeit – aber dann
wird mir bewußt, daß es sich in relativ kurzer Zeit abnutzen
und reparaturbedürftig sein wird; daß seine Schönheit
und Oberfläche billig sind, seine Kraft unnötig, seine Größe
idiotisch und daß ich keinen Parkplatz finden werde. Es
kommt mir in den Sinn, daß mein Wagen das Produkt einer
der drei großen Automobilkonzerne ist. Diese bestimmen über
das Aussehen meines Wagens und bringen seine Schönheit wie
seine Billigkeit hervor, seine Kraft wie seine Unzuverlässigkeit,
- 320 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
sein Funktionieren wie sein Veralten. Ich fühle mich
gewissermaßen betrogen. Ich glaube, daß der Wagen nicht
ist, was er sein könnte, daß sich bessere Wagen für weniger
Geld herstellen ließen. Aber der andere muß halt auch leben.
Die Löhne und Steuern sind zu hoch; Umsatz ist notwendig;
es geht uns viel besser als früher. Die Spannung zwischen
Erscheinung und Wirklichkeit zergeht, und beide verschmelzen
zu einem recht angenehmen Gefühl.
2)
Ich gehe auf dem Lande spazieren. Alles ist, wie es sein sollte:
die Natur zeigt sich von ihrer besten Seite. Vögel, Sonne,
weiches Gras, ein Blick durch die Bäume auf die Berge, niemand
zu sehen, kein Radio, kein Benzingeruch. Dann biegt der
Pfad ab und endet auf der Autobahn. Ich bin wieder unter
Reklameschildern, Tankstellen, Motels und Gaststätten. Ich
war im Nationalpark und weiß jetzt, daß das Erlebte nicht
die Wirklichkeit war. Es war ein »Schutzgebiet«, etwas, das
gehegt wird wie eine aussterbende Art. Wenn die Regierung
nicht wäre, hätten die Reklameschilder, die Verkaufsstände für
heiße Würstchen und die Motels längst in dieses Stück Natur
ihren Einzug gehalten. Ich bin der Regierung dankbar; wir
haben es viel besser als früher…
3)
Die Untergrundbahn während der Hauptverkehrszeit.
Was ich von den Menschen sehe, sind müde Gesichter und
Glieder, Haß und Ärger. Ich habe das Gefühl, in jedem
Augenblick konnte jemand ein Messer hervorziehen – nur
so. Sie lesen oder sind vielmehr vertieft in ihre Zeitung,
- 321 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
ihr Magazin oder ihren Paperback. Und doch können ein
paar Stunden später dieselben Leute, von Gerüchen befreit,
gewaschen, festlich oder bequem gekleidet, glücklich und
zärtlich sein, wirklich lächeln und vergessen (oder sich
erinnern). Aber die meisten von ihnen werden wahrscheinlich
zu Hause ein schreckliches Beisammensein erleben oder
schrecklich einsam sein.
Diese Beispiele mögen die glückliche Ehe des Positiven und des
Negativen veranschaulichen – die objektive Zweideutigkeit,
die den Daten der Erfahrung anhaftet. Objektiv ist diese
Zweideutigkeit deshalb, weil der Wechsel in meinen
Wahrnehmungen und Reflexionen eine Antwort auf die Weise
ist, in der die erfahrenen Tatsachen wirklich wechselseitig
miteinander verbunden sind. Aber einmal begriffen, zerstört
diese Wechselbeziehung das harmonisierende Bewußtsein und
seinen falschen Realismus. Das kritische Denken ist bestrebt,
den irrationalen Charakter der bestehenden Rationalität
(der immer offenkundiger wird) und die Tendenzen zu
bestimmen, die diese Rationalität dazu veranlassen, ihre
eigene Transformation hervorzubringen. »Ihre eigene«;
denn als geschichtliche Totalität hat sie Kräfte und Vermögen
entwickelt, die selbst zu Entwürfen werden, die über die
bestehende Totalität hinausgehen. Sie sind Möglichkeiten der
fortschreitenden technologischen Rationalität und umfassen als
solche die gesamte Gesellschaft. Die technische Transformation
ist zugleich eine politische, aber die politische Änderung würde
nur in dem Maße in eine qualitative gesellschaftliche Änderung
übergehen, wie sie die Richtung des technischen Fortschritts
ändern – das heißt eine neue Technik entwickeln würde. Denn
- 322 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
die bestehende Technik ist zu einem Instrument destruktiver
Politik geworden.
Solche qualitative Änderung wäre der Übergang zu
einer höheren Stufe der Zivilisation, wenn die Technik
zur Befriedung des Kampfes ums Dasein bestimmt und
benutzt würde. Um die beunruhigenden Implikationen dieser
Feststellung anzudeuten, gebe ich zu bedenken, daß eine solche
neue Richtung des technischen Fortschritts die Katastrophe
seiner bestehenden Richtung wäre, keine bloß quantitative
Fortentwicklung der herrschenden (wissenschaftlichen und
technologischen) Rationalität, vielmehr deren katastrophische
Umwandlung, das Entstehen einer neuen theoretischen und
praktischen Idee der Vernunft.
Diese neue Idee der Vernunft drückt sich aus in Whiteheads
Satz: »Es ist die Funktion der Vernunft, die Kunst des
Lebens zu befördern«1. Im Hinblick auf diesen Zweck ist
Vernunft »die Lenkerin des Angriffs auf die Umwelt«, der
sich dem »dreifachen Impuls« verdankt: »1. zu leben, 2. gut
zu leben, 3. besser zu leben«.2
Whiteheads Sätze scheinen ebenso die tatsächliche
Entwicklung der Vernunft zu beschreiben wie ihren Mißerfolg.
Mehr noch, sie scheinen nahezulegen, daß die Vernunft noch
entdeckt, erkannt und verwirklicht werden muß; denn bislang
ist es auch die historische Funktion der Vernunft gewesen,
den Impuls zu leben, gut zu leben und besser zu leben zu
unterdrücken, ja zu zerstören – oder die Erfüllung dieses
1 A. N. Whitehead, The Function of Reason, Boston: Beacon Press, 1959, S. 5.
2 Ibid. S. 8.
- 323 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Impulses hinauszuzögern und mit einem übermäßig hohen
Preis zu belegen.
In Whiteheads Bestimmung der Funktion der Vernunft
bedeutet der Ausdruck »Kunst« zugleich das Element der
bestimmten Negation. Angewandt auf die Gesellschaft, ist die
Vernunft bislang der Kunst entgegengesetzt gewesen, während
der Kunst das Vorrecht eingeräumt wurde, einigermaßen
irrational zu sein – wissenschaftlicher, technologischer und
operationeller Vernunft nicht unterworfen. Die Rationalität der
Herrschaft hat die Vernunft der Wissenschaft von der der Kunst
getrennt; anders ausgedrückt, sie hat die Vernunft der Kunst
verfälscht, indem sie diese in das Universum der Herrschaft
eingliederte. Es handelte sich hier um eine Trennung, weil die
Wissenschaft seit Anbeginn die ästhetische Vernunft enthielt,
das freie Spiel und selbst den Obermut der Einbildungskraft,
die Phantasie der Umgestaltung; die Wissenschaft gab sich der
vernünftigen Erklärung der Möglichkeiten hin. Dieses freie
Spiel blieb jedoch der herrschenden Unfreiheit verpflichtet, in
der es entstand und von der es abstrahierte; die Möglichkeiten,
mit denen die Wissenschaft spielte, waren auch die der
Befreiung – die einer höheren Wahrheit.
Hierin besteht das ursprüngliche Bindeglied (innerhalb
des Universums von Herrschaft und Mangel) zwischen
Wissenschaft, Kunst und Philosophie. Es ist das Bewußtsein
der Diskrepanz zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen,
zwischen der erscheinenden und der authentischen Wahrheit
sowie die Anstrengung, diese Diskrepanz zu begreifen und
zu meistern. Eine der frühesten Formen, in denen diese
- 324 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Diskrepanz Ausdruck fand, war die Unterscheidung zwischen
Göttern und Menschen, Endlichkeit und Unendlichkeit,
Wandel und Dauer3. Etwas von diesem mythologischen
Wechselverhältnis zwischen dem Wirklichen und dem
Möglichen überlebte im wissenschaftlichen Denken und war
weiterhin auf eine vernüftigere und wahrere Wirklichkeit
gerichtet. Die Mathematik sollte im nämlichen Sinne wirklich
und »gut« sein wie Platons metaphysische Ideen. Wie wurde
dann die Fortentwicklung jener Wissenschaft, während die
Entwicklung dieser Metaphysik blieb?
Die augenfälligste Antwort muß lauten, daß die
wissenschaftlichen Abstraktionen in weitem Maße in die
tatsächliche Unterjochung und Umgestaltung der Natur
eingingen und dabei ihre Wahrheit bewiesen, während das
bei den philosophischen Abstraktionen nicht der Fall war
– und nicht der Fall sein konnte. Denn die Unterjochung
und Umgestaltung der Natur vollzog sich innerhalb von
Gesetz und Ordnung eines Lebens, über das die Philosophie
hinausging, indem sie es dem »guten Leben« eines anderen
Gesetzes und einer anderen Ordnung unterordnete. Und diese
andere Ordnung, die einen hohen Grad an Freiheit von harter
Arbeit, Unwissenheit und Armut voraussetzte, war unwirklich
zu Beginn des philosophischen Denkens und während seiner
gesamten Entwicklung, während das wissenschaftliche Denken
weiterhin auf eine immer mächtigere, und umfassendere
Wirklichkeit anwendbar blieb. Die entscheidenden
philosophischen Begriffe blieben in der Tat metaphysisch;
3 Cf. Kapitel 5.
- 325 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
sie wurden nicht im Sinne des bestehenden Universums von
Sprache und Handeln verifiziert und konnten nicht verifiziert
werden.
Wenn dem aber so ist, dann ist die Frage der Metaphysik
und insbesondere die nach der Bedeutsamkeit und Wahrheit
metaphysischer Sätze eine geschichtliche. Das heißt,
daß geschichtliche eher als rein erkenntnistheoretische
Bedingungen die Wahrheit, den Erkenntniswert solcher Sätze
determinieren. Wie alle Sätze, die Wahrheit beanspruchen,
müssen sie verifizierbar sein; sie müssen im Universum
möglicher Erfahrung verbleiben. Dieses Universum ist niemals
vom gleichen Umfang wie das bestehende, sondern erstreckt
sich auf die Grenzen einer Welt, die hergestellt werden kann,
indem die bestehende verändert wird, mit den Mitteln, die
diese geliefert oder vorenthalten hat. Die Reichweite der
Verifizierbarkeit in diesem Sinne nimmt im Laufe der
Geschichte zu. So erhalten die Spekulationen über das Gute
Leben, die Gute Gesellschaft, den Ewigen Frieden einen stets
realistischer werdenden Inhalt; aus technologischen Gründen
tendiert das Metaphysische dazu, physisch zu werden.
Ferner: Wenn die Wahrheit metaphysischer Sätze von
ihrem geschichtlichen Inhalt determiniert ist (das heißt von
dem Grad, wie sie geschichtliche Möglichkeiten bestimmen),
dann ist das Verhältnis von Metaphysik und Wissenschaft
ein streng geschichtliches. Zumindest in unserer eigenen
Kultur wird jener Teil des Saint-Simonschen Drei-Stadien-
Gesetzes noch immer als erwiesen angenommen, der besagt,
daß das metaphysische dem wissenschaftlichen Stadium der
- 326 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Kultur vorhergeht. Aber ist diese Abfolge eine endgültige?
Oder enthält die wissenschaftliche Umgestaltung der Welt ihre
eigene metaphysische Transzendenz?
Auf der fortgeschrittenen Stufe der industriellen Zivilisation
scheint die in politische Macht übersetzte wissenschaftliche
Rationalität der entscheidende Faktor bei der Entwicklung
historischer Alternativen. Dann erhebt sich die Frage: tendiert
diese Macht zu ihrer eigenen Negation – das heißt zur
Beförderung der »Kunst des Lebens«? In den bestehenden
Gesellschaften hätte die fortwährende Anwendung
wissenschaftlicher Rationalität mit der Mechanisierung aller
gesellschaftlich notwendigen aber individuell repressiven
Arbeit einen Endpunkt erreicht (wobei »gesellschaftlich
notwendig« hier alle Veranstaltungen umfaßt, die maschinell
wirksamer durchgeführt werden können, selbst wenn diese
Veranstaltungen eher Luxusartikel und Verschwendung
produzieren als notwendige Güter). Aber diese Stufe wäre auch
das Ende und die Grenze der wissenschaftlichen Rationalität in
ihrer bestehenden Struktur und Richtung. Weiterer Fortschritt
würde den Bruch bedeuten, den Umschlag von Quantität in
Qualität. Er würde die Möglichkeit einer wesentlich neuen
menschlichen Wirklichkeit eröffnen – nämlich eines Daseins
in freier Zeit auf der Basis befriedigter Lebensbedürfnisse.
Unter solchen Bedingungen wäre der wissenschaftliche
Entwurf selbst frei für Zwecke, die über das bloß Nützliche
hinausgehen, und frei für die »Kunst des Lebens« jenseits
der herrschaftlichen Bedürfnisse und Verschwendung.
Mit anderen Worten, die Vollendung der technologischen
Wirklichkeit wäre nicht nur die Vorbedingung, sondern auch
- 327 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
die rationale Grundlage, die technologische Wirklichkeit zu
transzendieren.
Das würde die Umkehrung des traditionellen Verhältnisses
von Wissenschaft und Metaphysik bedeuten. Die Ideen, die die
Wirklichkeit in anderen Begriffen als in denen der exakten oder
am Verhalten orientierten Wissenschaft bestimmen, verlören
ihren metaphysischen oder gefühlsmäßigen Charakter als
Ergebnis der wissenschaftlichen Umgestaltung der Welt; die
wissenschaftlichen Begriffe könnten die möglichen Realitäten
eines freien und befriedeten Daseins entwerfen und bestimmen.
Die Ausarbeitung solcher Begriffe würde mehr bedeuten als die
Fortentwicklung der herrschenden Wissenschaften. Sie würde
die wissenschaftliche Rationalität als Ganzes umfassen, die
bislang einem unfreien Dasein verpflichtet war, und würde
eine neue Idee von Wissenschaft, von Vernunft bedeuten.
Wenn die Vollendung des technologischen Entwurfs einen
Bruch mit der herrschenden technologischen Rationalität
notwendig macht, dann hängt dieser Bruch wiederum vom
Fortbestehen der technischen Basis selbst ab. Denn eben
diese Basis hat die Befriedigung der Bedürfnisse und die
Verringerung harter Arbeit ermöglicht – sie bleibt die
wahrhafte Basis aller Formen menschlicher Freiheit. Die
qualitative Änderung liegt vielmehr im Umbau dieser Basis
– das heißt in ihrer Entwicklung im Hinblick auf andere
Zwecke.
Ich habe betont, daß dies nicht die Wiederbelebung
von »Werten«, geistigen oder anderen, bedeutet, die die
wissenschaftliche und technologische Umgestaltung von
- 328 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Mensch und Natur ergänzen sollen4. Im Gegenteil, die
geschichtliche Leistung von Wissenschaft und Technik hat die
Übersetzung der Werte in technische Aufgaben ermöglicht
– die Materialisierung der Werte. Worum es folglich geht,
ist die Neubestimmung der Werte in technischen Begriffen, als
Elemente des technologischen Prozesses. Als technische Zwecke
kämen die neuen Zwecke dann beim Entwurf und Aufbau
der Maschinerie zur Wirkung und nicht nur bei ihrer
Nutzanwendung. Mehr noch; die neuen Zwecke selbst
könnten sich beim Aufstellen wissenschaftlicher Hypothesen
durchsetzen – in der rein wissenschaftlichen Theorie. Von
der Quantifizierung sekundärer Qualitäten schritte die
Wissenschaft zur Quantifizierung der Werte fort.
Berechenbar beispielsweise ist das Minimum an Arbeit, mit
dem, und das Maß, in dem die Lebensbedürfnisse aller Mitglieder
einer Gesellschaft befriedigt werden könnten – vorausgesetzt,
daß die verfügbaren Ressourcen zu diesem Zweck verwandt
würden, ohne durch andere Interessen eingeschränkt zu
sein und ohne daß die Akkumulation des Kapitals behindert
würde, dessen es zur Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft
bedarf. Mit anderen Worten: quantifizierbar ist der verfügbare
Spielraum der Freiheit von Mangel. Quantifizierbar ist
auch der Grad, in dem, unter denselben Bedingungen, für die
Kranken Schwachen und Alten gesorgt werden könnte – d. h.
quantifizierbar ist die mögliche Verringerung von Angst, die
mögliche Freiheit von Furcht.
4 Cf. Kapitel 1, bes. S. 37 f.
- 329 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Bestimmbare politische Hindernisse stehen der
Verwirklichung im Wege. Die industrielle Zivilisation hat
den Punkt erreicht, wo hinsichtlich der Bestrebungen des
Menschen, die auf ein menschliches Dasein gerichtet sind,
das wissenschaftliche Absehen von Endursachen nach
den Begriffen der Wissenschaft selbst obsolet wird. Die
Wissenschaft hat es ermöglicht, Endursachen zu ihrer eigenen
Domäne zu machen. Die Gesellschaft »par une élévation et un
élargissement du domaine technique, doit remettre à leur place,
comme techniques, les problèmes de finalité, considérés à tort
comme éthiques et parfois comme religieux. L’inachèvement
des techniques sacralise les problèmes de finalité et asservit
l’homme au respect de fins qu’il se représente comme des
absolus«5.
Unter diesem Aspekt werden die »neutrale« wissenschaftliche
Methode und Technik zur Wissenschaft und Technik einer
geschichtlichen Phase, die durch ihre eigenen Errungenschaften
überwunden wird – die ihre bestimmte Negation erreicht
hat. Anstatt von der Wissenschaft und der wissenschaftlichen
Methode getrennt und subjektivem Belieben und irrationaler,
transzendenter Sanktion überlassen zu sein, können die
ehemals metaphysischen Ideen der Befreiung zum geeigneten
Gegenstand der Wissenschaft werden. Aber diese Entwicklung
konfrontiert die Wissenschaft mit der unangenehmen Aufgabe,
5 »muß durch eine Steigerung und Erweiterung des technischen Bereichs die Probleme
der Finalität, die fälschlich als ethische und manchmal als religiöse betrachtet worden
sind, wieder als technische Probleme zur Geltung bringen Die Unentwickeltheit
der Technik fetischisiert die Probleme der Finalität und versklavt den Menschen
an Zwecke, die er sich als Absoluta vorstellt « Gilbert Simondon, loc , cit , S 151,
Hervorhebung von mir.
- 330 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
politisch zu werden – das wissenschaftliche Bewußtsein als
politisches Bewußtsein anzuerkennen und das wissenschaftliche
Unternehmen als politisches. Denn die Überführung der Werte
in Bedürfnisse, der Endursachen in technische Möglichkeiten ist
eine neue Stufe der Unterwerfung oppressiver, unbewältigter
Kräfte der Gesellschaft und der Natur. Sie ist ein Akt der
Befreiung:
»L’homme se libère de sa situation d’être asservi par
la finalité du tout en apprenant à faire de la finalité, à
organiser un tout finalisé qu’il juge et apprécie, pour n’avoir
pas à subir passivement une intégration de fait.«… »L’homme
dépasse l’asservissement en organisant consciemment la
finalité…«6.
Indem sie sich jedoch methodisch als politisches Unternehmen
konstituieren, würden Wissenschaft und Technik über die Stufe
hinausgehen, auf der sie infolge ihrer Neutralität der Politik
unterworfen waren und gegen ihre Intention als politische
Mittel fungierten. Denn die technologische Neubestimmung und
die technische Meisterung der Endursachen ist der Aufbau, die
Entwicklung und Anwendung der (materiellen und geistigen)
Ressourcen, befreit von allen partikularen Interessen, die die
Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse und die Entfaltung
der menschlichen Anlagen behindern. Mit anderen Worten,
sie ist das rationale Unternehmen des Menschen als
6 »Der Mensch befreit sich von seiner Situation, der Finalität des Ganzen unterworfen
zu sein, indem er lernt, Finalität hervorzubringen, ein >finalisiertes< Ganzes zu
organisieren, das er beurteilt und einschätzt, um nicht passiv einer Konstellation von
Tatsachen zu unterliegen« . »Der Mensch überwindet die Versklavung, indem er die
Finalität bewußt organisiert…«. Ibid. S. 103.
- 331 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Menschen, das der Menschheit. Die Technik kann so die
geschichtliche Korrektur der verfrühten Identifikation von
Vernunft und Freiheit herbeiführen, derzufolge der Mensch
mit dem Fortschreiten der sich selbst perpetuierenden
Produktivität auf der Basis von Unterdrückung frei werden
und bleiben könne. In dem Maße, wie die Technik sich auf
dieser Basis entwickelt hat, kann diese Korrektur niemals das
Ergebnis des technischen Fortschritts selber sein. Sie macht
eine politische Umwälzung notwendig.
Die Industriegesellschaft besitzt die Mittel, das
Metaphysische ins Physische zu überführen, das Innere
ins Äußere, die Abenteuer des Geistes in Abenteuer der
Technik. Die schrecklichen Redeweisen (und Realitäten) von
»Seeleningenieuren«, »head shrinkers«, »wissenschaftlicher
Betriebsführung«, »Konsumwissenschaft« umreißen (in
erbärmlicher Form) die fortschreitende Rationalisierung des
Irrationalen, des »Spirituellen« – die Absage an die idealistische
Kultur. Freilich würde die Vollendung der technologischen
Rationalität, indem sie Ideologie in Wirklichkeit übersetzt, auch
über die materialistische Antithese zu dieser Kultur hinausgehen.
Denn die Übersetzung der Werte in Bedürfnisse ist der doppelte
Prozeß 1. der materiellen Befriedigung (Materialisierung der
Freiheit) und 2. der freien Entwicklung der Bedürfnisse auf
der Basis der Befriedigung (nichtrepressive Sublimierung).
In diesem Prozeß erfährt das Verhältnis von materiellen
und geistigen Anlagen und Bedürfnissen eine grundlegende
Änderung. Das freie Spiel von Denken und Einbildungskraft
nimmt bei der Verwirklichung eines befriedeten Daseins von
Mensch und Natur eine rationale und leitende Funktion an.
- 332 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Und die Ideen der Gerechtigkeit, Freiheit und Humanität
werden dann auf dem einzigen Boden zu einer Wahrheit und
Sache des guten Gewissens, auf dem sie überhaupt Wahrheit
sein und ein gutes Gewissen haben könnten – als Befriedigung
der materiellen Bedürfnisse des Menschen, als die vernünftige
Organisation des Reichs der Notwendigkeit.
»Befriedetes Dasein«. Der Ausdruck vermittelt unzureichend
genug die Intention, in einer Leitidee den tabuierten und
lächerlich gemachten Zweck der Technik zusammenzufassen,
die unterdrückte Endursache hinter dem wissenschaftlichen
Unternehmen. Wenn sich diese Endursache materialisieren und
wirksam werden sollte, so würde der Logos der Technik eine
Welt qualitativ anderer Beziehungen zwischen Mensch und
Mensch und zwischen Mensch und Natur eröffnen.
An dieser Stelle muß jedoch ein starker Vorbehalt
ausgesprochen werden – eine Warnung vor allem
technologischen Fetischismus. Ein solcher Fetischismus ist jüngst
besonders unter marxistischen Kritikern der gegenwärtigen
Industriegesellschaft an den Tag gelegt worden – Ideen
von der künftigen Allmacht des technologischen Menschen,
eines »technischen Eros« usw. Der Wahrheitskern dieser
Ideen erfordert, daß die Mystifizierung, die sie ausdrücken,
entschieden bloßgestellt wird. Als ein Universum von
Mitteln kann die Technik ebenso die Schwäche wie die Macht
des Menschen vermehren. Auf der gegenwärtigen Stufe ist
er vielleicht ohnmächtiger als je zuvor gegenüber seinem
eigenen Apparat.
- 333 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Die Mystifizierung wird nicht dadurch beseitigt, daß die
technische Allmacht von partikularen Gruppen auf einen
neuen Staat und zentralen Plan übertragen wird. Die
Technik behält durchaus ihre Abhängigkeit von anderen als
technischen Zwecken. Je mehr die technologische Rationalität,
von ihren ausbeuterischen Zügen befreit, die gesellschaftliche
Produktion bestimmt, desto abhängiger wird sie von der
politischen Lenkung – von der kollektiven Anstrengung, ein
befriedetes Dasein zu erreichen mit den Zielen, die sich freie
Individuen setzen können.
»Befriedung des Daseins« will keine Akkumulation
von Macht nahlegen, sondern eher das Gegenteil. Friede und
Macht, Freiheit und Macht, Eros und Macht können durchaus
Gegensätze sein! Ich werde jetzt zu zeigen versuchen, daß der
Umbau der materiellen Basis der Gesellschaft im Hinblick auf
Befriedung eine qualitative wie quantitative Verringerung der
Macht mit sich bringen kann, um den Raum und die Zeit zur
Entwicklung der Produktivität unter autonomen Antrieben zu
schaffen. Der Begriff einer solchen Aufhebung der Macht ist ein
treibendes Motiv in der dialektischen Theorie.
In dem Maße, wie das Ziel der Befriedung den Logos
der Technik bestimmt, ändert es das Verhältnis zwischen der
Technik und ihrem ursprünglichen Gegenstand, der Natur.
Befriedung setzt Herrschaft über die Natur voraus, die das
dem sich entwickelnden Subjekt entgegengesetzte Objekt ist
und bleibt. Aber es gibt zwei Arten von Herrschaft: eine
repressive und eine befreiende. Letztere zieht die Verringerung
von Elend, Gewalt und Grausamkeit nach sich. In der Natur
- 334 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
wie in der Geschichte ist der Kampf ums Dasein das Zeichen
von Knappheit, Leiden und Mangel. Sie sind die Qualitäten
der blinden Materie, des Reichs der Unmittelbarkeit, worin
das Leben sein Dasein passiv erleidet. Dieses Reich wird
allmählich im Laufe der historischen Umgestaltung der Natur
vermittelt; es wird ein Teil der Menschenwelt. Insoweit sind
die Qualitäten der Natur historische Qualitäten. Im Prozeß der
Zivilisation hört die Natur in dem Maße auf, bloße Natur zu
sein, wie der Kampf blinder Kräfte begriffen und im Licht
der Freiheit beherrscht wird7.
Geschichte ist die Negation von Natur. Was bloß
natürlich ist, wird durch die Macht der Vernunft überwunden
und wiederhergestellt. Die metaphysische Vorstellung, daß
die Natur in der Geschichte zu sich selbst kommt, verweist auf
die noch unaufgehobenen Grenzen der Vernunft. Sie behauptet
sie als geschichtliche Grenzen – als eine noch nicht vollendete
Aufgabe oder vielmehr als eine, die erst zu unternehmen
ist. Wenn Natur an sich ein rationaler, legitimer Gegenstand
der Wissenschaft ist, dann ist sie der legitime Gegenstand der
Vernunft nicht nur als Macht, sondern auch der Vernunft als
Freiheit; nicht nur der Herrschaft, sondern auch der Befreiung.
Mit dem Aufstieg des Menschen als des animal rationale –
befähigt, die Natur im Einklang mit den Vermögen des Geistes
und den Potenzen der Materie umzugestalten – nimmt das
7 Hegels Begriff der Freiheit setzt durchweg Bewußtsein voraus (in Hegels
Terminologie: Selbstbewußtsein). Die »Verwirklichung« der Natur ist folglich nicht
das Werk der Natur selbst und kann es niemals sein. Aber sofern die Natur an
sich negativ ist (d. h. ihrem eigenen Dasein nach mangelhaft), ist die geschichtliche
Umgestaltung der Natur durch den Menschen als die Überwindung dieser
Negativität die Befreiung der Natur. Oder, in Hegels Worten, die Natur ist ihrem Wesen
nach nichtnatürlich – »Geist«.
- 335 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
bloß Natürliche als das unter der Vernunft Stehende einen
negativen Status an. Es wird zu einem von der Vernunft zu
begreifenden und zu organisierenden Reich.
Und in dem Maße, wie es der Vernunft gelingt, die Materie
rationalen Maßstäben und Zielen zu unterwerfen, erscheint
alles vorrationale Dasein als Mangel und Not, und deren
Verringerung wird zur geschichtlichen Aufgabe. Leiden,
Gewalt und Zerstörung sind ebenso Kategorien der natürlichen
wie der menschlichen Realität, Kategorien eines hilflosen und
herzlosen Universums. Die schreckliche Vorstellung, daß das
vorrationale Leben der Natur dazu bestimmt sei, für immer
ein solches Universum zu bleiben, ist weder philosophisch
noch wissenschaftlich; sie wurde von einer anderen Autorität
ausgesprochen:
»Als der Verein zur Verhütung von Grausamkeit an
Tieren den Papst um Unterstützung bat, verweigerte er sie mit
der Begründung, daß die Menschen den tiefer stehenden Tieren
keine Pflicht schulden und daß die Mißhandlung von Tieren
keine Sünde ist, und zwar deshalb, weil Tiere keine Seele
haben8.«
Der Materialismus, der vom Makel eines solchen ideologischen
Mißbrauchs der Seele frei ist, hat einen umfassenderen
und realistischeren Begriff des Heils. Er gesteht der Hölle
Realität nur an einem bestimmten Ort zu, hier auf Erden, und
erklärt, daß diese Hölle durch den Menschen (und die Natur)
8 Zitiert nach Bertrand Russell, Unpopular Essays, New York: Simon and Schuster,
1950, S. 76.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
hervorgebracht wurde. Zu dieser Hölle gehört die Mißhandlung
von Tieren – das Werk einer menschlichen Gesellschaft, deren
Rationalität noch immer das Irrationale ist.
Alle Freude und alles Glück entspringen der Fähigkeit,
die Natur zu transzendieren – eine Transzendenz, bei der
die Naturbeherrschung selbst der Befreiung und Befriedung
des Daseins untergeordnet ist. Alle Stille, alles Entzücken
ist das Ergebnis bewußter Vermittlung, von Autonomie und
Widerspruch. Die Verherrlichung des Natürlichen gehört zu
der Ideologie, die eine unnatürliche Gesellschaft in ihrem
Kampf gegen die Befreiung schützt. Die Diffamierung der
Geburtenkontrolle ist ein schlagendes Beispiel. In einigen
rückständigen Gebieten der Welt ist es auch »natürlich«, daß
die schwarzen Rassen den Weißen unterlegen sind, daß den
Letzten die Hunde beißen und daß das Geschäft sein muß.
Es ist auch natürlich, daß die großen Fische die kleinen fressen
– obgleich das den kleinen Fischen nicht natürlich erscheinen
mag. Die Zivilisation bringt die Mittel hervor, die Natur
von ihrer eigenen Brutalität, ihrer eigenen Unzulänglichkeit,
ihrer eigenen Blindheit zu befreien – vermöge der erkennenden
und verändernden Macht der Vernunft. Und die Vernunft
kann diese Funktion nur als nachtechnologische Rationalität
erfüllen, bei der die Technik selbst das Mittel der Befriedung
ist, das Organon der »Kunst des Lebens«. Die Funktion der
Vernunft fällt dann mit der Funktion der Kunst zusammen.
Die griechische Vorstellung von der Affinität von
Kunst und Technik mag das fürs erste veranschaulichen.
Der Künstler besitzt die Ideen, die als Endursachen die
- 337 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Herstellung bestimmter Dinge leiten – ganz wie der Ingenieur
die Ideen besitzt, die als Endursachen die Herstellung einer
Maschine leiten. Zum Beispiel bestimmt die Idee einer Bleibe
für menschliche Wesen den Bau eines Hauses durch den
Architekten; die Idee einer alles umfassenden nuklearen
Explosion bestimmt die Herstellung des Apparats, der diesem
Zweck dienen soll. Die Hervorhebung des wesentlichen
Verhältnisses zwischen Kunst und Technik verweist auf die
spezifische Rationalität der Kunst.
Wie die Technik bringt die Kunst ein anderes Universum
von Denken und Praxis gegen das bestehende und innerhalb
seiner hervor. Aber im Gegensatz zum technischen Universum
ist das der Kunst eines der Illusion, des Scheins. Jedoch
ähnelt dieser Schein einer Wirklichkeit, die als Bedrohung
und Versprechen der etablierten besteht9. In verschiedenen
Formen von Masken und Verschweigen ist das Universum der
Kunst durch die Bilder eines Lebens ohne Angst organisiert – in
Masken und Schweigen, weil die Kunst es nicht vermag, dieses Leben
herbeizuführen, geschweige denn, es angemessen darzustellen.
Und doch bezeugt die machtlose, scheinhafte Wahrheit der Kunst
(die niemals machtloser und scheinhafter gewesen ist als heute,
wo sie zu einem allgegenwärtigen Bestandteil der verwalteten
Gesellschaft geworden ist) die Gültigkeit ihrer Bilder. Je
schreiender die Irrationalität der Gesellschaft wird, desto großer
wird die Rationalität des Universums der Kunst.
Die technologische Zivilisation stellt ein spezifisches Verhältnis
von Kunst und Technik her. Ich erwähnte oben den Gedanken einer
9 Cf. Kapitel 3.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Umkehrung des Drei-Stadien-Gesetzes und einer »Neubewertung«
der Metaphysik auf der Basis der wissenschaftlichen und
technischen Umgestaltung der Welt. Derselbe Gedanke kann
jetzt auf das Verhältnis von Wissenschaft und Technik auf der
einen Seite und Kunst auf der anderen ausgedehnt werden. Die
Rationalität der Kunst, ihre Fähigkeit, Dasein zu »entwerfen«,
noch nicht verwirklichte Möglichkeiten zu bestimmen, ließe
sich dann ins Auge fassen als in der wissenschaftlich-technischen
Umgestaltung der Welt bestätigt und in ihr funktionierend.
Anstatt eine Magd des bestehenden Apparats zu sein, der sein
Geschäft und sein Elend verschönt, würde Kunst zu einer Technik,
dieses Geschäft und dieses Elend zu zerstören.
Die technologische Rationalität der Kunst scheint gekennzeichnet
durch eine ästhetische »Reduktion«:
»Die Kunst weiß den Apparat, dessen die äußere Erscheinung zu
ihrer Selbsterhaltung bedarf, zu den Grenzen zurückzuführen…
. innerhalb welcher das Äußere die Manifestation der geistigen
Freiheit sein kann.«10
Nach Hegel reduziert die Kunst die unmittelbare Zufälligkeit,
in der ein Objekt (oder eine Totalität von Objekten) existiert,
auf einen Zustand, worin das Objekt die Form und Qualität der
Freiheit annimmt. Solche Umformung ist deshalb eine Reduktion,
weil der Status des Zufälligen unter Erfordernissen leidet, die
ihm äußerlich sind und seiner freien Verwirklichung im Wege
stehen. Diese Erfordernisse bilden insofern einen »Apparat«,
als sie nicht bloß natürlich sind, sondern vielmehr freier
vernünftiger Veränderung und Entwicklung unterworfen. So
10 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik in: Sämtliche Werke, Glockner, Band 12, S. 217 f.
- 339 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
zerbricht die künstlerische Umgestaltung das Naturobjekt,
aber das Zerbrochene ist selbst ein Unterdrücktes; damit ist
ästhetische Umgestaltung Befreiung.
Die ästhetische Reduktion erscheint in der technischen
Umgestaltung der Natur, wo und wenn es ihr gelingt,
Herrschaft und Befreiung zu verknüpfen, Herrschaft zur
Befreiung hinzulenken. In diesem Fall verringert der Sieg über
die Natur deren Blindheit, Grausamkeit und Fruchtbarkeit
– was einschließt, daß sich die Grausamkeit des Menschen
gegenüber der Natur verringert. Die Bebauung des Bodens ist
qualitativ verschieden von seiner Zerstörung, die Gewinnung
natürlicher Ressourcen von Raubbau, die Lichtung der
Wälder von einfachem Abholzen. Armut, Krankheit und
krebsartige Wucherungen sind ebenso natürliche wie
menschliche Übel – ihre Verringerung und Beseitigung ist
die Befreiung des Lebens. Die Zivilisation hat diese »andere«,
befreiende Umgestaltung in ihren Gärten, Parkanlagen
und Schutzgebieten erreicht. Aber außerhalb dieser kleinen,
geschützten Bezirke hat sie die Natur so behandelt, wie sie den
Menschen behandelt hat – als ein Instrument destruktiver
Produktivität.
In die Technik der Befriedung würden ästhetische Kategorien
in dem Maße eingehen, wie die produktive Maschinerie
im Hinblick auf ein freies Spiel der Anlagen aufgebaut
wird. Aber gegen allen »technischen Eros« und ähnliche
Mißverständnisse »kann die Arbeit nicht Spiel werden«.
Diese Feststellung von Marx schließt jede romantische
Interpretation der »Aufhebung der Arbeit« streng aus. Die
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Idee eines solchen Milleniums ist in der fortgeschrittenen
industriellen Zivilisation so ideologisch wie sie im Mittelalter
war und vielleicht noch ideologischer. Denn der Kampf des
Menschen mit der Natur wird immer mehr ein Kampf mit
seiner Gesellschaft, deren Zwänge gegenüber dem Individuum
»rationeller« und deshalb notwendiger als je zuvor werden.
Während jedoch das Reich der Notwendigkeit fortbesteht,
würde seine Organisation im Hinblick auf qualitativ andere
Zwecke nicht nur die Weise, sondern auch das Ausmaß
gesellschaftlich notwendiger Produktion ändern. Und diese
Änderung wiederum würde sich auf die menschlichen Träger
der Produktion und ihre Bedürfnisse auswirken:
»Die freie Zeit… hat ihren Besitzer natürlich in ein andres
Subjekt verwandelt und als dies andre Subjekt tritt er dann
in den unmittelbaren Produktionsprozeß«.11
Ich habe wiederholt den geschichtlichen Charakter der
menschlichen Bedürfnisse hervorgehoben. Oberhalb des
Animalischen werden in einer freien und vernünftigen
Gesellschaft selbst die Lebensnotwendigkeiten andere
sein als diejenigen, die in einer irrationalen und unfreien
Gesellschaft und für diese produziert werden. Wiederum
ist es der Begriff der »Reduktion«, der den Unterschied
veranschaulichen kann.
Im gegenwärtigen Zeitalter ist der Sieg über den Mangel
noch immer auf kleine Bereiche der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft beschränkt. Ihr Wohlstand verdeckt
das Inferno innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen; er
11 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, loc. cit. S. 599
- 341 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
verbreitet auch eine repressive Produktivität und »falsche
Bedürfnisse«. Er ist genau in dem Maße repressiv, wie er die
Befriedigung von Bedürfnissen fördert, die es nötig machen,
die Hetzjagd fortzusetzen, um mit seinesgleichen und dem
eingeplanten vorzeitigen Verschleiß Schritt zu halten, wie
er es fördert, die Befreiung davon, sein Hirn zu benutzen,
auch noch zu genießen und mit den Destruktionsmitteln und
für sie zu arbeiten. Die offenkundigen Bequemlichkeiten, wie
sie von dieser Art Produktivität hervorgebracht werden, ja die
Unterstützung, die sie einem System profitabler Herrschaft
zuteil werden läßt, erleichtern ihren Import in weniger
fortgeschrittene Gebiete der Welt, wo die Einführung eines
solchen Systems immer noch einen kolossalen Fortschritt in
technischer und menschlicher Hinsicht bedeutet.
Die enge Wechselbeziehung zwischen technischem und
politisch-manipulativem Bescheidwissen, zwischen profitabler
Produktivität und Herrschaft leiht jedoch dem Sieg über den
Mangel die Waffen, die Befreiung einzudämmen. In hohem
Maße ist es die reine Quantität der Güter, Dienstleistungen,
Arbeit und Erholung in den überentwickelten Ländern, die
dieses Eindämmen bewirkt. Eine qualitative Änderung scheint
demzufolge eine quantitative Änderung im fortgeschrittenen
Lebensstandard vorauszusetzen, nämlich eine Reduktion der
Überentwicklung.
Der in den meisten fortgeschrittenen industriellen
Gebieten erreichte Lebensstandard ist kein geeignetes
Entwicklungsmodell, wenn Befriedung das Ziel ist. Im
Hinblick darauf, was dieser Standard aus Mensch und Natur
- 342 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
gemacht hat, ist wiederum die Frage zu stellen, ob er der Opfer
wert ist, die seiner Verteidigung gebracht werden. Die Frage hat
aufgehört, unverantwortlich zu sein, seitdem die »Gesellschaft
im Überfluß« eine fortwährende Mobilisation gegen das Risiko
der Vernichtung geworden ist und der Verkauf ihrer Güter
einhergeht mit Verblödung, Verewigung harter Arbeit und der
Beförderung von Enttäuschungen.
Unter diesen Umständen bedeutet die Befreiung von
der Überflußgesellschaft keine Rückkehr zu gesunder und
robuster Armut, moralischer Sauberkeit und Einfachheit. Im
Gegenteil, das Beseitigen profitabler Verschwendung würde
den zur Verteilung verfügbaren gesellschaftlichen Reichtum
vermehren, und das Ende der fortwährenden Mobilisierung
würde das gesellschaftliche Bedürfnis verringern,
Befriedigungen zu verweigern, die solche des Individuums
selber sind – Versagungen, die jetzt durch den Kult der
Gesundheit, Stärke und Ordnung kompensiert werden.
Heute, im gedeihenden Kriegsführungs- und
Wohlfahrtsstaat, scheinen die menschlichen Qualitäten eines
befriedeten Daseins asozial und unpatriotisch – Qualitäten
wie die Absage an alle Härte, Kumpanei und Brutalität;
Ungehorsam gegenüber der Tyrannei der Mehrheit; das
Eingeständnis von Angst und Schwäche (die vernünftigste
Reaktion gegenüber dieser Gesellschaft!); eine empfindliche
Intelligenz, die Ekel empfindet angesichts dessen, was verübt
wird; der Einsatz für die schwächlichen und verhöhnten
Aktionen des Protestes und der Weigerung. Auch diese
Äußerungen der Humanität werden durch den notwendigen
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Kompromiß beeinträchtigt – durch das Bedürfnis, sich zu
decken, imstande zu sein, die Betrüger zu betrügen, ihnen zum
Trotz zu leben und zu denken. In der totalitären Gesellschaft
tendieren die menschlichen Haltungen dazu, eskapistisch zu
werden und Samuel Becketts Rat zu befolgen: »Don’t wait
to be hunted to hide…«
Selbst ein solch persönliches Zurückziehen der geistigen
und physischen Energie von den gesellschaftlich erforderten
Aktivitäten und Einstellungen ist heute nur wenigen möglich;
es ist nur ein inkonsequenter Aspekt der Neuorientierung der
Energie, die der Befriedung vorausgehen muß. Außerhalb des
persönlichen Bereichs setzt Selbstbestimmung frei verfügbare
Energie voraus, die nicht in aufgenötigter materieller und
geistiger Arbeit verausgabt wird. Sie muß auch in dem
Sinne freie Energie sein, daß sie nicht in die Beschäftigung
mit Gütern und Dienstsleistungen abkanalisiert wird, die
das Individuum befriedigen und zugleich unfähig machen,
zu einem eigenen Dasein zu gelangen, außerstande, die
Möglichkeiten zu erfassen, die durch diese Befriedigung
zurückgedrängt werden. Komfort, Geschäft und berufliche
Sicherheit können in einer Gesellschaft, die sich auf und
gegen nukleare Zerstörung vorbereitet, als allgemeines
Beispiel versklavender Zufriedenheit dienen. Die Befreiung
der Energie von den Verrichtungen, deren es bedarf, um den
destruktiven Wohlstand aufrechtzuerhalten, bedeutet, daß
der Standard der Knechtschaft herabgesetzt wird, um die
Menschen zu befähigen, diejenige Rationalität zu entwickeln,
die ein befriedetes Dasein ermöglichen kann.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Ein neuer Lebensstandard, der Befriedung des Daseins
angepaßt, setzt auch voraus, daß die künftige Bevölkerung
abnimmt. Ist es verständlich, ja vernünftig, daß die industrielle
Zivilisation das Hinschlachten von Millionen Menschen
im Kriege und die täglichen Opfer all derer als legitim
ansieht, denen es an zureichender Pflege und Schutz fehlt,
aber ihre moralischen und religiösen Skrupel entdeckt, wenn
es sich darum handelt, das Hervorbringen weiteren Lebens
in einer Gesellschaft zu vermeiden, die immer noch auf die
geplante Vernichtung von Leben im nationalen Interesse und
auf den ungeplanten Verlust des Lebens für private Interessen
abgestellt ist. Diese moralischen Skrupel sind verständlich
und vernünftig, weil eine solche Gesellschaft einer stets
zunehmenden Zahl von Kunden und Anhängern bedarf; die
beständig erneuerte, überschüssige Kapazität muß bewältigt
werden.
Die Erfordernisse profitabler Massenproduktion sind
jedoch nicht notwendig mit denen der Menschheit identisch.
Das Problem besteht nicht (und vielleicht nicht einmal in
erster Linie) darin, die wachsende Bevölkerung angemessen
zu ernähren und zu versorgen – es ist zunächst ein Problem
der Zahl, der bloßen Quantität. Die Anklage, die Stefan
George vor einem halben Jahrhundert aussprach, enthält mehr
als dichterische Freiheit: »Schon eure Zahl ist Frevel!«
Das Verbrechen ist das einer Gesellschaft, in der die
zunehmende Bevölkerung den Kampf ums Dasein angesichts
seiner möglichen Linderung verschärft. Der Drang nach
mehr »Lebensraum« macht sich nicht nur in internationaler
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Aggressivität geltend, sondern auch innerhalb der Nation. Hier
ist die Expansion in allen Formen der Zusammenarbeit, des
Gemeinschaftslebens und Vergnügens in den Innenraum der
Privatsphäre eingedrungen und hat praktisch die Möglichkeit
jener Isolierung ausgeschaltet, in der das Individuum,
allein auf sich zurückgeworfen, denken, fragen und etwas
herausfinden kann. Diese Art Privatsphäre – die einzige
Bedingung, die auf der Basis befriedigter Lebensbedürfnisse
der Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens Sinn verleihen
kann – ist seit langem zur teuersten Ware geworden, nur den
sehr Reichen verfügbar (die keinen Gebrauch von ihr machen).
Auch in dieser Hinsicht offenbart die »Kultur« ihre feudalen
Ursprünge und Schranken. Sie kann nur durch die Abschaffung
der Massendemokratie demokratisch werden, wenn es nämlich
der Gesellschaft gelingt, die Vorrechte der Privatsphäre
wiederherzustellen, indem sie sie allen gewährt und bei jedem
einzelnen schützt.
Der Verweigerung der Freiheit und selbst ihrer Möglichkeit
entspricht, daß Ungebundenheit dort gewährt wird, wo sie die
Unterdrückung stärkt. Der Grad, in dem es der Bevölkerung
gestattet ist, den Frieden zu stören, wo immer es noch Friede
und Stille gibt, unangenehm aufzufallen und die Dinge zu
verhäßlichen, vor Vertraulichkeit überzufließen und gegen die
guten Formen zu verstoßen, ist beängstigend. Beängstigend,
weil er die gesetzliche, ja organisierte Anstrengung ausdrückt,
das ureigene Recht des Nächsten nicht anzuerkennen, Autonomie
selbst in einer kleinen, reservierten Daseinssphäre zu
verhindern. In den überentwickelten Ländern wird ein immer
großer werdender Bevölkerungsanteil zu einem einzigen,
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
ungeheuer großen, gefangenen Publikum – gefangen nicht von
einem totalitären Regime, sondern von den Zügellosigkeiten
der Bürger, deren Vergnügungs- und Erbauungsmedien einen
zwingen, ihre Töne, ihren Anblick und ihre Gerüche über sich
ergehen zu lassen.
Kann eine Gesellschaft, die außerstande ist, das private
Dasein des Individuums auch nur in den eigenen vier Wänden
zu schützen, rechtmäßig behaupten, daß sie das Individuum
achtet und eine freie Gesellschaft ist? Sicher ist eine freie
Gesellschaft durch mehr und grundlegendere Errungenschaften
gekennzeichnet als durch private Autonomie. Und doch
beeinträchtigt deren Fehlen selbst die augenfälligsten
Institutionen der ökonomischen und politischen Freiheit
– dadurch, daß in ihren verborgenen Wurzeln keine Freiheit
anerkannt wird. Die massive Vergesellschaftung beginnt zu
Hause und hemmt die Entwicklung des Bewußtseins und
Gewissens. Autonomie zu erreichen, erfordert Bedingungen,
unter denen die unterdrückten Dimensionen der Erfahrung
wieder lebendig werden können; ihre Befreiung erfordert die
Unterdrückung der heteronomen Bedürfnisse und Weisen
der Befriedigung, die das Leben in dieser Gesellschaft
organisieren. Je mehr sie zu den eigenen Bedürfnissen und
Befriedigungen des Individuums geworden sind, desto mehr
erschiene ihre Unterdrückung als eine nur zu fatale Beraubung.
Aber gerade infolge dieses fatalen Charakters kann sie die
erste subjektive Vorbedingung schaffen für eine qualitative
Änderung – nämlich die Neubestimmung der Bedürfnisse.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Um ein (leider phantastisches) Beispiel zu wählen: die bloße
Abwesenheit aller Reklame und aller schulenden Informations-
und Unterhaltungsmedien würde das Individuum in eine
traumatische Leere stürzen, in der es die Chance hätte,
sich zu wundern, nachzudenken, sich (oder vielmehr seine
Negativität) und seine Gesellschaft zu erkennen. Seiner
falschen Väter, Führer, Freunde und Vertreter beraubt, hätte
es wieder sein ABC zu lernen. Aber die Wörter und Sätze,
die es bilden würde, könnten völlig anders ausfallen, ebenso
seine Wünsche und Ängste.
Sicher wäre eine solche Situation ein unerträglicher Alptraum.
Während die Menschen die beständige Herstellung
nuklearer Waffen, radioaktiven Regens und fragwürdiger
Lebensmittel unterstützen können, können sie (aus eben
diesem Grunde!) nicht dulden, daß sie der Unterhaltung
und Erziehung beraubt werden, die sie dazu befähigen, die
Vorkehrungen für ihre Verteidigung und oder Vernichtung zu
reproduzieren. Das Nicht-Funktionieren des Fernsehens und
verwandter Medien könnte so erreichen, was die immanenten
Widersprüche des Kapitalismus nicht erreichten – den Zerfall
des Systems. Die Erzeugung repressiver Bedürfnisse ist seit
langem zum Bestandteil gesellschaftlich notwendiger Arbeit
geworden – notwendig in dem Sinne, daß ohne sie die
bestehende Produktionsweise nicht aufrechterhalten werden
könnte. Es geht weder um Probleme der Psychologie noch der
Ästhetik, sondern um die materielle Basis der Herrschaft.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
10 Beschluß
Die fortschreitende eindimensionale Gesellschaft verändert
das Verhältnis zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen.
Vor dem Hintergrund der phantastischen und wahnwitzigen
Aspekte ihrer Rationalität wird der Bereich des Irrationalen
zur Stätte des wirklich Rationalen – der Ideen, die »die
Kunst des Lebens befördern« können. Wenn die bestehende
Gesellschaft jede normale Kommunikation verwaltet und im
Einklang mit den gesellschaftlichen Erfordernissen bekräftigt
oder schwächt, dann haben vielleicht die Werte, die diesen
Erfordernissen fremd sind, kein anderes Medium, in dem sie
kommuniziert werden können, als das abnorme der Dichtung.
Die ästhetische Dimension bewahrt sich noch eine Freiheit
des Ausdrucks, die den Schriftsteller und Künstler befähigt,
Menschen und Dinge bei ihrem Namen zu nennen – das
sonst Unnennbare zu nennen.
Das wirkliche Gesicht unserer Zeit zeigt sich in Samuel
Becketts Romanen; ihre wirkliche Geschichte wird in
Rolf Hochhuths Stück Der Stellvertreter geschrieben.
Hier spricht keine Einbildungkraft mehr, sondern die
Vernunft, in einer Wirklichkeit, die alles rechtfertigt und
alles freispricht – außer der Sünde wider ihren Geist. Die
Einbildungskraft dankt vor dieser Wirklichkeit ab, welche
die Einbildungskraft einholt und überholt. Auschwitz lebt
immer noch fort, nicht in der Erinnerung, wohl aber in den
vielfältigen Leistungen des Menschen – den Raumflügen,
den Raketen und raketengesteuerten Geschossen, dem
»labyrinthischen Erdgeschoß unter der Imbißhalle«, den
- 349 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
hübschen elektronischen Fabriken, sauber, hygienisch und mit
Blumenbeeten, dem Giftgas, das den Menschen in Wirklichkeit
gar nicht schadet, dem Geheimnis, in das wir alle eingeweiht
sind. So sieht das Gefüge aus, in dem die großen menschlichen
Errungenschaften in Naturwissenschaft, Medizin und
Technik statthaben; die Anstrengungen, das Leben zu retten
und zu verbessern, sind das einzige Versprechen im Unheil.
Das bewußte Spiel mit phantastischen Möglichkeiten, die
Fähigkeit, mit gutem Gewissen zu handeln, contra naturam,
mit Menschen und Dingen zu experimentieren, Illusionen in
Wirklichkeit zu verwandeln und Erdichtetes in Wahrheit,
bezeugen das Ausmaß, in dem die Einbildungskraft ein
Instrument des Fortschritts geworden ist. Ein Instrument
freilich, das, wie andere Instrumente in den bestehenden
Gesellschaften, methodisch mißbraucht wird. Indem sie
Schrittmacher der Politik wird und deren Stil bestimmt, geht
die Einbildungskraft im Umgang mit den Worten weit über
Alice in Wonderland hinaus und verkehrt Sinn in Unsinn,
Unsinn in Sinn.
Die ehedem antagonistischen Bereiche verschmelzen auf
technischem und politischem Boden – Magie und Wissenschaft,
Leben und Tod, Freude und Elend. Die Schönheit offenbart
ihren Terror in nuklearen Fabriken, die an vorderer Stelle
stehen, und Laboratorien werden zu »Industrieparks« in
angenehmer Umgebung; das Civil Defense Headquarters stellt
einen »erstklassigen Bunker gegen atomaren Niederschlag«
zur Schau, ganz mit Teppichstoff ausgelegt (»weich«), mit
Klubsesseln, Fernsehen und Brettspielen, »entworfen als
kombiniertes Zimmer für die Familie in Friedenszeiten
- 350 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
(sic!) und als Familienbunker gegen Atomniederschläge,
sollte der Krieg ausbrechen«1. Wenn das Grauenhafte solcher
Vorstellungen nicht ins Bewußtsein eindringt, wenn es sogleich
als selbstverständlich hingenommen wird, so deshalb, weil
diese Errungenschaften a) im Sinne der bestehenden Ordnung
völlig rational und b) Zeichen menschlicher Erfindungsgabe
und Macht sind, die über die traditionellen Grenzen der
Phantasie hinausgehen.
Die abstoßende Verschmelzung von Ästhetik und Wirklichkeit
widerlegt die Philosophien, die die »poetische« Einbildung der
wissenschaftlichen und empirischen Vernunft entgegensetzen.
Der technische Fortschritt ist von einer zunehmenden
Rationalisierung, ja Verwirklichung des Imaginären begleitet.
Die Archetypen des Grauens wie der Freude, des Krieges wie
des Friedens verlieren ihren katastrophischen Charakter. Ihr
Erscheinen im täglichen Leben der Individuen ist nicht mehr
das von irrationalen Kräften – ihre modernen Ersatzgötter sind
Elemente technischer Herrschaft und ihr unterworfen.
Indem sie den romantischen Raum der Phantasie einengt,
ja beseitigt, hat die Gesellschaft die Phantasie gezwungen,
sich auf einem neuen Boden zu bewahren, auf dem ihre
Bilder in geschichtlich wirksame Fähigkeiten und Entwürfe
übersetzt werden. Die Übersetzung mag so schlecht und
verzerrt sein wie die Gesellschaft, die sie vornimmt. Getrennt
vom Bereich der materiellen Produktion und der materiellen
Bedürfnisse, war Phantasie ein bloßes Spiel, untauglich
1 Nach: The New York Times, Ausgabe vom 11. November 1960, ausgestellt im New York
Civil Defense Headquarters, Lexington Ave. und Fifty-Fifth Street.
- 351 -
H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
im Reich der Notwendigkeit und nur einer phantastischen
Logik und einer phantastischen Wahrheit verpflichtet.
Wenn der technische Fortschritt diese Trennung beseitigt,
so stattet er die Bilder mit seiner eigenen Logik und
Wahrheit aus, er schmälert das freie Vermögen des Geistes.
Aber er verringert auch die Kluft zwischen Phantasie
und Wissenschaft. Die beiden antagonistischen Vermögen
werden auf gemeinsamem Boden voneinander abhängig. Ist
nicht angesichts der Leistungsfähigkeit der fortgeschrittenen
industriellen Zivilisation alles Spiel der Phantasie ein Spiel
mit technischen Möglichkeiten, die geprüft werden können,
wie weit sie zu verwirklichen sind? Die romantische Idee
einer »Wissenschaft der Einbildungskraft« scheint einen stets
empirischer werdenden Aspekt anzunehmen.
Der wissenschaftliche, rationale Charakter der Phantasie
ist seit langem in der Mathematik, in den Hypothesen und
Experimenten der Naturwissenschaften anerkannt. Er
wird gleichermaßen anerkannt in der Psychoanalyse, die
theoretisch auf der Annahme einer spezifischen Rationalität
des Irrationalen beruht; umgeleitet, wird die begriffene
Phantasie zu einer therapeutischen Kraft. Diese aber kann viel
weiter gehen als bis zur Heilung von Neurosen. Kein Dichter,
sondern ein Wissenschaftler hat diese Aussicht umrissen.
»Toute une psychanalyse matérielle peut… nous
aider à guérir de nos images, ou du moins nous aider à
limiter l’emprise de nos images. On peut alors espérer…
pouvoir rendre l’imagination heureuse, autrement dit,
pouvoir donner bonne conscience à l’imagination, en lui
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
accordant pleinement tous ses moyens d’expression, toutes
les images matérielles qui se produisent dans les rêves
naturels, dans l’activité ononque normale. Rendre heureuse
l’imagination, lui accorder toute son exubérance, c’est
précisément donner à l’imagination sa véritable fonction
d’entraînement psychique«.2
Die Phantasie ist gegenüber dem Prozeß der
Verdinglichung nicht immun geblieben. Wir sind besessen
von unseren Imagines und leiden unter ihnen. Das wußte
die Psychoanalyse und kannte die Konsequenzen. Es
wäre jedoch Regression, wollte man »der Phantasie alle
Ausdrucksmittel gewähren«. Die verstümmelten Individuen
(verstümmelt auch in ihrer Einbildungskraft) wurden noch
mehr organisieren und zerstören als ihnen jetzt gestattet ist.
Eine solche Freisetzung wäre das ungemilderte Grauen
– nicht die Katastrophe der Kultur, sondern das freie
Spiel ihrer regressivsten Tendenzen. Rational ist diejenige
Phantasie, die zum Apriori werden kann, das darauf abzielt,
den Produktionsapparat umzubauen und umzudirigieren in
Richtung auf ein befriedetes Dasein, ein Leben ohne Angst.
Und das kann niemals die Phantasie jener sein, die von den
Bildern der Herrschaft und des Todes besessen sind.
2 »Eine umfassende materiale Psychoanalyse kann… uns helfen uns von unseren
Imagines zu heilen oder zumindest dabei, die Macht unserer Imagines zu
beschränken. Man kann deshalb hoffen… , die Phantasie glücklich machen
zu können, mit anderen Worten, der Imagination ein gutes Gewissen zu verleihen,
indem ihr alle Ausdrucksmittel voll zugestanden werden, alle materiellen
Imagines, die in natürlichen Träumen entstehen, in der normalen Traumtätigkeit.
Die Phantasie glücklich zu machen, ihr den ganzen Überschwang zu gewähren,
das heißt eben der Phantasie zu ihrer wahren Funktion als psychischem Impuls und
Antrieb zu verhelfen. « Gaston Bachelard, Le Matérialisme rationnel, Paris, Presses
Universitaires, 1953, S 18 (Hervorhebungen von Bachelard)
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Eine Befreiung der Phantasie, die es vermöchte, ihr alle
Ausdrucksmittel zu gewähren, setzt die Unterdrückung
von vielem voraus, was jetzt frei ist und eine repressive
Gesellschaft verewigt. Und ein solcher Umschlag ist nicht
Sache der Psychologie und Ethik, sondern der Politik in dem
Sinne, wie dieser Begriff hier durchweg benutzt wurde:
diejenige Praxis, in der die grundlegenden gesellschaftlichen
Institutionen entwickelt, bestimmt, aufrechterhalten und
verändert werden. Sie ist die Praxis von Individuen,
ganz gleich, wie sie organisiert sein mögen. So muß die
Frage noch einmal ins Auge gefaßt werden: wie können die
verwalteten Individuen – die ihre Verstümmelung zu ihrer
eigenen Freiheit und Befriedigung gemacht haben und sie
damit auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren – sich von
sich selbst wie von ihren Herren befreien? Wie ist es auch nur
denkbar, daß der circulas vitiosus durchbrochen wird?
Paradoxerweise scheint nicht die Vorstellung neuer
gesellschaftlicher Institutionen die größte Schwierigkeit
zu bieten bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten.
Die bestehenden Gesellschaften selbst schicken sich an, die
grundlegenden Institutionen im Sinne erhöhter Planung zu
verändern oder haben es bereits getan. Da die Entwicklung
und Nutzung aller verfügbaren Ressourcen zur allseitigen
Befriedigung der Lebensbedürfnisse die Vorbedingung der
Befriedung ist, ist diese unvereinbar damit, daß partikulare
Interessen vorherrschen, die dem Erreichen dieses Ziels im
Wege stehen. Qualitative Änderung hängt davon ab, daß für
das Ganze gegen diese Interessen geplant wird, und eine
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
freie und vernünftige Gesellschaft kann sich nur auf dieser
Basis erheben.
Die Institutionen, im Rahmen derer eine Befriedung ins Auge
gefaßt werden kann, widersetzen sich so der traditionellen
Einteilung in autoritäre und demokratische, zentralisierte und
liberale Regierungsformen. Heute dient die Opposition gegen
zentrale Planung im Namen einer liberalen Demokratie, die
in Wirklichkeit verweigert wird, repressiven Interessen zur
ideologischen Stütze. Das Ziel wahrhafter Selbstbestimmung
der Individuen hängt ab von wirksamer sozialer Kontrolle
über die Produktion und Verteilung der lebensnotwendigen
Güter (gemessen am erreichten materiellen und geistigen
Kulturniveau).
Hierbei ist die von ihren ausbeuterischen Zügen befreite
technologische Rationalität der einzige Maßstab und
Wegweiser für die Planung und Entwicklung der verfügbaren
Ressourcen für alle. Selbstbestimmung bei der Produktion
und Verteilung lebenswichtiger Güter und Dienstleistungen
wäre verschwenderisch. Die zu bewältigende Arbeit ist eine
technische Arbeit, und als wahrhaft technische führt sie
zur Abnahme körperlicher und geistiger Mühsal. In diesem
Bereich ist zentralisierte Kontrolle rational, wenn sie die
Vorbedingungen für eine sinnvolle Selbstbestimmung schafft.
Diese kann sich dann in ihrem eigenen Bereich auswirken
– in den Entscheidungen, zu denen die Produktion und
Verteilung des ökonomischen Überschusses gehören, und im
individuellen Dasein.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Auf jeden Fall unterliegt die Verbindung von zentra-
lisierter Autorität und direkter Demokratie unendlich
vielen Abwandlungen, je nach dem Entwicklungsgrad.
Selbstbestimmung wird in dem Maße real sein, wie die
Massen in Individuen aufgelöst worden sind, befreit von
aller Propaganda, Schulung und Manipulation, fähig, die
Tatsachen zu kennen und zu begreifen und die Alternativen
einzuschätzen. Mit anderen Worten, die Gesellschaft wäre in
dem Maße vernünftig und frei, wie sie von einem wesentlich
neuen geschichtlichen Subjekt organisiert, aufrechterhalten und
reproduziert wird.
Auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe der
fortgeschrittenen Industriegesellschaften verneint das
materielle ebenso wie das kulturelle System dieses
Erfordernis. Die Macht und Leistungsfähigkeit dieses Systems,
die gründliche Angleichung des Geistes an die Tatsache, des
Denkens an das geforderte Verhalten, der Wünsche an die
Realität wirken dem Entstehen eines neuen Subjekts entgegen.
Sie wirken auch der Vorstellung entgegen, daß die Ersetzung
der herrschenden Kontrolle über den Produktionsprozeß
durch »Kontrolle von unten« eine qualitative Veränderung
ankündige. Diese Vorstellung war und ist gültig, wo die
Arbeiter die lebendige Negation und Anklage der bestehenden
Gesellschaft waren und noch sind. Wo diese Klasse jedoch zur
Stütze der herrschenden Lebensweise geworden ist, würde ihr
Aufstieg zur Kontrolle jene nur verlängern.
Und doch sind alle Tatsachen vorhanden, die die kriti-
sche Theorie dieser Gesellschaft und ihrer schicksalhaften
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Entwicklung bekräftigen: zunehmende Irrationalität des
Ganzen, Verschwendung und Restriktion der Produktivität,
das Bedürfnis nach aggressiver Expansion, die bestän-
dige Bedrohung durch Krieg, verschärfte Ausbeutung,
Entmenschlichung. Und all dies verweist auf die geschicht-
liche Alternative: die geplante Nutzung der Ressourcen zur
Befriedigung der Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an
harter Arbeit, die Umwandlung der Freizeit in freie Zeit,
die Befriedung des Kampfes ums Dasein.
Aber die Tatsachen und Alternativen liegen vor wie
Bruchstücke, die sich nicht zusammenfügen lassen, oder wie
eine Welt stummer Objekte ohne Subjekt, ohne die Praxis,
die diese Objekte in eine neue Richtung bewegen würde.
Die dialektische Theorie ist nicht widerlegt, aber sie kann
kein Heilmittel bieten. Sie kann nicht positiv sein. Freilich
transzendiert der dialektische Begriff die gegebenen Tatsachen,
indem er sie begreift. Eben darin liegt das Zeichen seiner
Wahrheit. Er bestimmt die geschichtlichen Möglichkeiten, ja
Notwendigkeiten; deren Verwirklichung aber kann nur durch
diejenige Praxis erfolgen, die der Theorie entspricht, und
gegenwärtig liefert die Praxis keine derartige Entsprechung.
Aus theoretischen wie empirischen Gründen spricht der
dialektische Begriff seine eigene Hoffnungslosigkeit aus.
Die menschliche Wirklichkeit ist ihre Geschichte, und in ihr
explodieren die Widersprüche nicht von selbst. Der Konflikt
zwischen ultramoderner, lohnender Herrschaft auf der einen
Seite und ihren Errungenschaften, die auf Selbstbestimmung
und Befriedung hinwirken, auf der anderen, kann so schreiend
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
werden, daß es unmöglich wird, ihn zu leugnen, aber er
kann durchaus weiterhin ein leicht zu handhabender und
sogar produktiver Konflikt sein; denn mit der zunehmenden
technischen Unterwerfung der Natur nimmt die des Menschen
durch den Menschen zu. Und diese Unterwerfung verringert
die Freiheit, die ein notwendiges Apriori der Befreiung
ist. Darin besteht Denkfreiheit in dem einzigen Sinne, in
dem das Denken in der verwalteten Welt frei sein kann – als
das Bewußtsein ihrer repressiven Produktivität und als das
absolute Bedürfnis, aus diesem Ganzen auszubrechen. Aber
eben dieses absolute Bedürfnis herrscht dort nicht, wo es
zur Triebkraft einer geschichtlichen Praxis werden konnte,
zur Wirkursache einer qualitativen Änderung. Ohne diese
materielle Gewalt bleibt auch das geschärfteste Bewußtsein
ohnmächtig.
Ganz gleich, wie offenkundig der irrationale Charakter des
Ganzen sich manifestieren kann und mit ihm die Notwendigkeit
der Veränderung – die Einsicht in die Notwendigkeit hat
niemals genügt, die möglichen Alternativen zu ergreifen.
Konfrontiert mit der allgegenwärtigen Leistungsfähigkeit des
gegebenen Lebenszusammenhangs, sind dessen Alternativen
stets utopisch erschienen. Und Einsicht in die Notwendigkeit,
das Bewußtsein des schlechten Zustands, wird selbst auf
derjenigen Stufe nicht genügen, auf der die Errungenschaften
der Wissenschaft und das Produktivitätsniveau die utopischen
Züge der Alternativen beseitigt haben – wo eher die
bestehende Wirklichkeit utopisch ist als ihr Gegenteil.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Bedeutet dies, daß die kritische Theorie der Gesellschaft
abdankt und das Feld einer empirischen Soziologie
überläßt, die, bar jeder theoretischen Führung außer einer
methodologischen, den Trugschlüssen einer unangebrachten
Konkretheit zum Opfer fällt und so ihren ideologischen Dienst
verrichtet, während sie die Ausschaltung aller Werturteile
verkündet? Oder bezeugen die dialektischen Begriffe
wieder einmal ihre Wahrheit – indem sie ihre Situation als
die der Gesellschaft begreifen, die von ihnen analysiert wird?
Eine Antwort könnte sich aufdrängen, wenn man die
kritische Theorie an ihrem schwächsten Punkt betrachtet
– ihrer Unfähigkeit, die befreienden Tendenzen innerhalb der
bestehenden Gesellschaft aufzuweisen.
Als die kritische Theorie der Gesellschaft entstand, war sie
mit real vorhandenen (objektiven und subjektiven) Kräften in
der bestehenden Gesellschaft konfrontiert, die sich in Richtung
auf vernünftigere und freiere Institutionen bewegten (oder
dahin gelenkt werden konnten), indem sie die bestehenden
abschafften, die dem Fortschritt hinderlich geworden waren. Sie
waren der empirische Boden, auf dem die Theorie sich erhob,
und von diesem empirischen Boden leitete sich die Idee der
Befreiung der inhärenten Möglichkeiten her – der andernfalls
blockierten und verzerrten Entwicklung der materiellen und
geistigen Produktivität, Anlagen und Bedürfnisse. Ohne den
Aufweis solcher Kräfte wäre die Gesellschaftskritik zwar
noch gültig und rational, aber außerstande, ihre Rationalität
in die Begriffe der geschichtlichen Praxis zu übersetzen. Was
folgt daraus? Daß »Befreiung der inhärenten Möglichkeiten« die
geschichtliche Alternative nicht mehr angemessen ausdrückt.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Die gefesselten Möglichkeiten der fortgeschrittenen
Industriegesellschaften sind: Entwicklung der Produktivkräfte
in erweitertem Maßstab, Ausdehnung der Naturbeherrschung,
wachsende Befriedigung der Bedürfnisse einer zunehmenden
Anzahl von Menschen, die Schaffung neuer Bedürfnisse und
Anlagen. Aber diese Möglichkeiten werden gradweise durch
Mittel und Institutionen verwirklicht, die ihr befreiendes
Potential aufheben, und dieser Prozeß beeinträchtigt
nicht nur die Mittel, sondern auch die Zwecke. Zu einem
totalitären System organisiert, bestimmen die Instrumente
der Produktivität und des Fortschritts nicht nur über die
gegenwärtigen, sondern auch die möglichen Anwendungen.
Auf ihrer fortgeschrittensten Stufe fungiert Herrschaft
als Verwaltung, und in den überentwickelten Bereichen des
Massenkonsums wird das verwaltete Leben das gute Leben
des Ganzen, zu dessen Verteidigung die Gegensätze vereinigt
werden. Das ist die reine Form der Herrschaft. Umgekehrt
erscheint ihre Negation als die reine Form der Negation. Aller
Inhalt scheint auf die eine abstrakte Forderung nach dem Ende
der Herrschaft reduziert – das einzige wahrhaft revolutionäre
Erfordernis und das Ereignis, das die Errungenschaften der
industriellen Zivilisation bestätigen würde. Angesichts ihrer
wirksamen abschlägigen Beantwortung durch das bestehende
System erscheint diese Negation in der politisch ohnmächtigen
Form der »absoluten Weigerung« – eine Weigerung, die um
so unvernünftiger erscheint, je mehr das bestehende System
seine Produktivität entwickelt und die Last des Lebens
erleichtert. Mit den Worten Maurice Blanchots:
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
»Ce que nous refusons n’est pas sans valeur ni sans
importance. C’est bien à cause de cela que le refus est
nécessaire. Il y a une raison que nous n’accepterons plus, il y
a une apparence de sagesse qui nous fait horreur, il y a une
offre d’accord et de conciliation que nous n’entendrons
pas. Une rupture s’est produite. Nous avons été ramenés à
cette franchise qui ne tolère plus la complicité3.«
Wenn aber der abstrakte Charakter der Weigerung das
Ergebnis der totalen Verdinglichung ist, dann muß der
konkrete Grund für die Weigerung noch vorhanden sein; denn
die Verdinglichung ist ein Schein. Aus dem nämlichen Grund
muß die Vereinigung der Gegensätze bei all ihrer Realität
eine scheinhafte Vereinigung sein, die weder den Widerspruch
zwischen der wachsenden Produktivität und ihrer repressiven
Anwendung beseitigt noch das dringende Bedürfnis, den
Widerspruch zu lösen.
Aber der Kampf um die Lösung ist über die traditionellen
Formen hinausgewachsen. Die totalitären Tendenzen der
eindimensionalen Gesellschaft machen die traditionellen Mittel
und Wege des Protests unwirksam – vielleicht sogar gefährlich,
weil sie an der Illusion der Volkssouveränität festhalten.
Diese Illusion enthält ein Stück Wahrheit: »das Volk«, früher
3 »Was wir ablehnen, ist nicht ohne Wert oder Bedeutung. Eben deshalb bedarf
es der Weigerung. Es gibt eine Vernunft, die wir nicht mehr akzeptieren; es gibt eine
Erscheinung von Weisheit, die uns in Schrecken versetzt; es gibt die Aufforderung
zuzustimmen und sich zu versöhnen. Ein Bruch ist eingetreten. Wir sind zu einer
Freimütigkeit verhalten, die das Mittun nicht mehr duldet.« »Le Refus«, in: Le 14
juillet, Nr. 2, Paris, Oktober 1958.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
das Ferment gesellschaftlicher Veränderung, ist »aufgestiegen«,
um zum Ferment gesellschaftlichen Zusammenhalts zu
werden. Eher hierin als in der Neuverteilung des Reichtums
und der Gleichstellung der Klassen besteht die neue, für
die fortgeschrittene Industriegesellschaft kennzeichnende
Schichtung.
Unter der konservativen. Volksbasis befindet sich jedoch das
Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten
und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die
Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen. Sie existieren
außerhalb des demokratischen Prozesses; ihr Leben bedarf am
unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher
Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre Opposition
revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewußtsein. Ihre
Opposition trifft das System von außen und wird deshalb
nicht durch das System abgelenkt; sie ist eine elementare
Kraft, die die Regeln des Spiels verletzt und es damit als ein
aufgetakeltes Spiel enthüllt. Wenn sie sich zusammenrotten
und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz,
um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie,
daß sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis,
Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen. Ihre
Kraft steht hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer
von Gesetz und Ordnung. Die Tatsache, daß sie anfangen, sich
zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein,
die den Beginn des Endes einer Periode markiert.
Nichts deutet darauf hin, daß es ein gutes Ende sein
wird. Die ökonomischen und technischen Kapazitäten der
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
bestehenden Gesellschaften sind umfassend genug, um
Schlichtungen und Zugeständnisse an die Benachteiligten zu
gestatten, und ihre bewaffneten Streitkräfte hinreichend geübt
und ausgerüstet, um mit Notsituationen fertig zu werden.
Das Gespenst ist jedoch wieder da, innerhalb und außerhalb
der Grenzen der fortgeschrittenen Gesellschaften. Die sich
leicht anbietende geschichtliche Parallele zu den Barbaren,
die das Imperium der Zivilisation bedrohen, präjudiziert den
Tatbestand; die zweite Periode der Barbarei kann durchaus
das fortbestehende Imperium der Zivilisation selbst sein. Aber
es besteht die Chance, daß die geschichtlichen Extreme in
dieser Periode wieder zusammentreffen: das fortgeschrittenste
Bewußtsein der Menschheit und ihre ausgebeutetste Kraft.
Aber das ist nichts als eine Chance. Die kritische Theorie
der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen
dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten;
indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt
sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne
Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben
und hingeben.
Zu Beginn der faschistischen Ära schrieb Walter Benjamin:
Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung
gegeben.
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H. Marcuse – Der eindimensionale Mensch
Namensverzeichnis
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Adorno, Th. W. Frank, P. G.
Aristoteles ., , Freud, S.
Austin, J. L. Galbraith, J. K.
Bach, J. S. Galilei, G.
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Baritz, L. Gerr, S.
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Barthes, R. Grünbaum, A.
Baudelaire, Ch. Hegel, G. W. F.
Beckett, S. Heidegger, M.
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Berle Hochhuth, R.
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Brecht, B. Homer
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Flaubert, G. Lenin, W. I.
Flew, A. G. N. Lenk, K.
Fourier, Ch. Locke, J.
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Mallarmé, S. Rousseau, J. J.
Mallet, S. Ryle, G.
Mann, F. C. Russell, B.
Marvick, D. Saint-Simon, C. H. de
Marx, K. Sarnoff, D.
Masterman, M. Sartre, J.-P.
Meacham, S. Schönberg, A.
Means Shelley, P. B.
Mill, J. S. Simondon, G.
Mills, C.W. Sokrates
Moore, G. M. Sombart, W.
Nietzsche, F. Stalin, J.
Ockham, Wilhelm von O. Stendhal (Henri Beyle)
O‘Neill, E. Stevenson, A.
Packard, V. Strindberg, A.
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Piaget, J. Tolstoi, L.
Platon Urmson, J. O.
Pollock, F. Valéry, P.
Popper, K. Walker, R.
Prantl, C. Weber, M.
Quine, W. V. O. Weizsäcker, C. F. v.
Racine, J. B. Whitehead, A. N.
Reiche, H. A. T. Whyte, W. H.
Reichenbach, H. Wisdom, J.
Rilke, R. M. Wittgenstein, L.
Rimbaud, J. A. Woodhard, L.
Roethlisberger, F. W. Zworikine, A.
Auf eine Digitalisierung des Sachverzeichnisses wurde verzichtet.
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