In diesem Kapitel wird Habermas’ Theorie der deliberativen Politik in ihren wichtigsten Grundzügen vorgestellt und systematisch entfaltet. Zwei Ansprüche stehen dabei Pate. Zum einen soll Habermas’ Theorie in ihrer Eigenlogik rekonstruiert werden. Die Theorie wird so dargestellt, wie Habermas selbst sie sieht. Voraussetzungen, die Habermas macht, werden übernommen, gleiches gilt für theoriespezifische Schwerpunktsetzungen und Auslassungen. Abstrakt können solche Eigenschaften als Selektionen aufgefasst werden, die der Autor der Theorie unter mehreren Möglichkeiten getroffen hat. Wenn wir diese Selektionen im Folgenden als solche offenlegen werden, dann nicht, um sie zu kritisieren, sondern um sie dem Leser als charakteristische Merkmale der Theorie vor Augen zu führen. Zum anderen bemühen sich die folgenden Ausführungen, die Theorie als Ganzes in einzelne Teile zu untergliedern und die internen Verbindungen zwischen den einzelnen Bestandteilen aufzuzeigen. Eine Schwierigkeit in der Auseinandersetzung mit und im Nachvollzug von komplexen Theorien besteht darin, dass auf den ersten Blick alles mit allem zusammenzuhängen scheint und es von daher schwerfällt, relativ abgetrennte Bereiche auszumachen und die systematischen Verbindungen und Schaltstellen zwischen ihnen zu erkennen. Gerade dies Erkennen der Struktur einer Theorie ist jedoch für deren Verständnis von fundamentaler Bedeutung. In diesem Sinne soll im Folgenden deutlich gemacht werden, welcher Teil der Theorie an welchen anderen Teil anschließt bzw. darauf aufbaut.

Die Theorie der deliberativen Politik ist eine Anwendung der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas auf den Bereich des Rechts bzw. der Politik (2.1). Nach der Theorie des kommunikativen Handelns werden Gesellschaften durch einen Konsens über Normen integriert, welcher in Diskursen erzielt wird. Eine solche Integration über Verständigungsprozesse ist jedoch stets fragil, weil vom Risiko eines Dissenses über die problematisierten Normen bedroht. In der modernen Gesellschaft wird sie durch das Recht ermöglicht, sofern dieses nicht willkürlich, sondern demokratisch gesetzt worden ist. Deshalb macht es Sinn, ein ideales Modell des demokratischen Rechtsetzungsprozesses zu entwerfen, welches im Falle seiner Realisierung gesellschaftliche Integration zu garantieren vermag (2.2). Dieses ideale Modell deliberativer Demokratie umfasst bei Habermas die Entstehung kommunikativer Macht sowie die Steuerung von administrativer und ökonomischer Macht durch diese kommunikative Macht. Als letzter Schritt stellt sich dann noch die Frage nach der Umsetzung des idealen Modells in der gesellschaftlichen Wirklichkeit (2.3). Habermas macht hier Kompromisse, denn er sieht nicht nur einen offiziellen Machtkreislauf vor, in welchem die kommunikative Macht von der Peripherie ausgehend das politische Zentrum steuert, wie es im idealen Modell vorgesehen ist, sondern er erkennt auch einen inoffiziellen Machtkreislauf an, in dem das Zentrum des politischen Systems die Peripherie mehr oder weniger regiert (d. h. administrative Macht kommunikative Macht dominiert). Dies ist solange unproblematisch, wie Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft diese Vormundschaft ihrerseits stets wieder rückgängig machen können, sofern sie aus gegebenem Anlass ihre Interessen darin übergangen sehen, um so in den offiziellen Machtkreislauf zurückzukehren, in dem die kommunikative Macht die administrative Macht programmiert und nicht umgekehrt.

2.1 Ausgangspunkt: Doppelte Kontingenz, kommunikatives Handeln und Recht

2.1.1 Das Problem der doppelten Kontingenz

Am Anfang steht bei Habermas’ Diskurstheorie der PolitikFootnote 1 die soziologische Frage, „wie die Geltung einer sozialen Ordnung stabilisiert werden kann“ (Habermas 1992, S. 42), welche eine der Grundfragen der Soziologie überhaupt ist. Hinter dieser Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung verbirgt sich das Problem der doppelten Kontingenz, wie es von Parsons formuliert wurde.Footnote 2 Demnach ist erfolgreiche Handlungskoordination doppelt kontingent, insofern als sie abhängt nicht nur von Egos Selektion einer bestimmten Handlungsoption, sondern auch von Alters Reaktion auf Egos Selektion. Sowohl Ego als auch Alter stehen also vor dem Problem der eigenen Selektion (der Wahl einer bestimmten Handlungsoption) in Abhängigkeit von einer anderen Selektion – nämlich der von Alter Ego – ohne diese andere Selektion aber selber bestimmen zu können, da Alter auch als Alter Ego eine intransparente „black box“ bleibt. Das Problem der doppelten Kontingenz lässt es damit zunächst einmal sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass es überhaupt zu irgendeiner Form von Handlungskoordination zwischen den beiden Akteuren kommt – und macht so die alltäglich zu beobachtende reale Handlungskoordination erklärungsbedürftig. Wenn sowohl Egos Selektion als auch Alters Selektion in Antwort auf Egos Selektion prinzipiell kontingent sind, warum sollten dann ausgerechnet zwei passende Handlungen aufeinander abgestimmt werden?

Habermas verdankt Parsons nun nicht nur den Hinweis auf das Problem der doppelten Kontingenz, sondern auch die Vorlage für dessen Lösung. Parsons hatte den Ausweg in einem der Handlungswahl präexistenten und vorgelagerten normativen Konsens gesehen. Sozialisation und geteilte Werte würden dafür sorgen, dass gemeinsame Situationsdefinitionen und Handlungskoordination möglich, alltäglich und also gar nicht ungewöhnlich sind – zumindest unter den Angehörigen derselben übergeordneten sozialen Einheit.

Diese klassische Perspektive wird auch von Habermas geteilt, der sie allerdings im Rahmen seiner Theorie des kommunikativen Handelns noch weiter spezifiziert. Nach Habermas werden Gesellschaften über kommunikatives Handeln integriert, d. h. über einen verständigungsorientierten und vorbehaltlosen Sprachgebrauch, der auf einen intersubjektiven Konsens über problematisierte Geltungsansprüche abzielt und insofern interaktionsrelevante Folgen hat.Footnote 3 Ein kommunikatives Angebot von Ego eröffnet demnach für Alter die Möglichkeit, zu den erhobenen und damit kritisierbaren Geltungsansprüchen in Ja/Nein-Form Stellung zu nehmen. Und daraus resultieren in der Folge für beide interaktionsrelevante Verpflichtungen, die eine handlungskoordinierende Rolle übernehmen. Die Sprache an sich ist dabei teleologisch auf reziproke Verständigung angelegt (vgl. Habermas 1992, S. 18), und sie bzw. kommunikatives Handeln bildet die Grundlage für alle abgeleiteten sozialen Koordinationsmechanismen (z. B. Steuerungsmedien wie Macht und Geld oder rein strategisch-erfolgsorientiertes Handeln), welche folglich auf sich allein gestellt die Gesellschaft nicht integrieren könnten.

Während Parsons sagte: Ohne normativen Wertekonsens keine Handlungskoordination, so wird daraus bei Habermas die Aussage: Ohne kommunikatives Handeln keine Handlungskoordination. Aus der Frage, wie soziale Ordnung möglich ist, wird damit für Habermas die Frage, wie „soziale Integration auf der unwahrscheinlichen Basis von Verständigungsprozessen (…) möglich ist“ (1992, S. 42). Es genügt nicht mehr, dass geltende Werte einfach tradiert werden; die Subjekte selbst müssen sich diese jetzt vielmehr reflexiv aneignen, also entweder verwerfen oder mit dem Vorbehalt der Vorläufigkeit bis auf weiteres akzeptieren. Damit wird Parsons’ Lösung des Problems der doppelten Kontingenz durch Habermas wieder in ein Problem verwandelt. Denn eine Integration der Gesellschaft auf der Basis von Verständigungsprozessen, die in einen intersubjektiven Konsens über problematisierte Geltungsansprüche münden sollen, ist natürlich fragil.Footnote 4 Sie wird stets bedroht durch die Gefahr der Dissensäußerung. Um einen Konsens zu erzielen, müssen alle an den Beratungen teilnehmenden Subjekte zustimmen; für Dissens aber reicht schon die Ablehnung eines einzelnen Subjekts allein aus. Zudem kann in einer Gesellschaft niemals alles auf einmal problematisiert werden – die Folge wäre eine totale Blockierung jeglicher Prozesse funktionierender Handlungskoordination.

Eine die gesellschaftliche Integration bedrohende ubiquitäre Problematisierung von Geltungsansprüchen muss deshalb ihrerseits vermieden, gleichsam entproblematisiert werden. Und Habermas führt an dieser Stelle drei grundlegende Inhibitoren an, die seine Vorstellung einer sozialen Integration durch Verständigung überhaupt erst ermöglichen, indem sie die Gefahr der Dissensäußerung effektiv einschränken.Footnote 5 Diese Inhibitoren sind die Lebenswelt, ursprüngliche Institutionen sowie das moderne Recht.

2.1.2 Verschärfung des Problems in der modernen Gesellschaft und Lösung über Recht

In vormodernen, d. h. relativ undifferenzierten Gesellschaften wurde die Gefahr der Dissensäußerung nach Habermas nun überwiegend durch die ersten beiden dieser Inhibitoren eingeschränkt – also durch die Einbettung des kommunikativen Handelns in einen Kontext aus Lebenswelt und archaischen Institutionen. Die Lebenswelt stellt für Habermas eine Art massiven Hintergrundkonsens dar, welcher aus gemeinsamen Überzeugungen besteht. Sie ist ein Horizont des immer schon Vertrauten, ein unbewusstes Hintergrundwissen in Form von konsentierten Deutungsmustern, Loyalitäten und Fertigkeiten (vgl. Habermas 1992, S. 38). Kommunikatives Handeln bewegt sich innerhalb dieses Hintergrundkonsenses – und reproduziert ihn damit auch gleichzeitig. Ursprüngliche Institutionen treten ihrerseits mit einem unanfechtbaren Autoritätsanspruch auf. Sie kombinieren die „Androhung einer rächenden Gewalt und die Kraft bindender Überzeugungen“ (Habermas 1992, S. 41) und erzeugen damit eine bindende und abschreckende Wirkung zugleich. In beiden Fällen wird also eine Dissensäußerung inhibiert, indem die durch Lebenswelt und Institutionen gedeckten Geltungsansprüche einer Problematisierung entzogen werden. Aus der Perspektive der kommunikativ handelnden Subjekte geschieht dies im Fall der Lebenswelt gänzlich unbewusst, im Fall von Institutionen mehr unbewusst als bewusst.Footnote 6

In der modernen Gesellschaft spitzt sich nach Habermas nun das Risiko der Dissensäußerung aber immer mehr zu, so dass sich die Bürde und der Schwerpunkt sozialer Integration mehr und mehr auf den dritten Inhibitor – das positive Recht – verlagern müssen. Diese Entwicklung hat mehrere Ursachen: Im Zuge der Entwicklung zur modernen Gesellschaft kommt es einmal zu einer verstärkten sozialen Differenzierung und damit zu einer höheren Komplexität. Dies äußert sich im Bereich der Lebenswelt in einer zunehmenden Problematisierung von Geltungsansprüchen. Neue Interaktionserfahrungen lassen die vordem abgeblendete Kontingenz sozialen Handelns und Erlebens wieder verstärkt aufscheinen. Der Druck kontingenzerzeugender neuer Erfahrungen steigt also an.Footnote 7 Für die traditionellen Institutionen bedeutet der Prozess der Modernisierung wiederum einen zunehmenden Autoritätsverlust: das kommunikative Handeln wird aus den ehemals starken Institutionen entlassen. Zudem kommt noch hinzu, dass in modernen Gesellschaften mit dem Bereich, den Habermas als den der Systeme beschreibt, immer mehr strategische Interaktionen und interessegeleitetes, individuell erfolgsorientiertes Handeln freigesetzt werden. Entzauberung der Institutionen, Freisetzung strategischer Interaktionen, Problematisierung von Geltungsansprüchen auf post-konventionellem, nachmetaphysischem Begründungsniveau: Zusammengenommen äußert sich all dies in der Konsequenz, dass in der modernen Gesellschaft die „Spielräume für das Dissensrisiko von Ja-/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen“ (Habermas 1992, S. 42) anwachsen. Damit aber entsteht eine Funktionslücke, ein Bedarf nach einem kompensierenden Dissensinhibitor, der selbst unter diesen erschwerten Bedingungen eine Integration der Gesellschaft auf der Basis von Verständigungsprozessen noch ermöglicht. Dieser neue Inhibitor, der den weiterhin bestehenden Integrationsbedarf der Moderne und die wegbröckelnde Integrationskapazität der Tradition wieder in Einklang bringt, ist nach Habermas das moderne Recht.

2.1.3 Doppelcharakter des Rechts: Faktizität und Geltung

Um in die entstehende Funktionslücke springen zu können, muss das Recht allerdings bestimmten Anforderungen genügen. An dieser Stelle führt Habermas den Doppelcharakter von Rechtsnormen ein, bestehend aus Faktizität und Geltung.Footnote 8 Seine Kernthese lautet dabei: Damit das positive Recht seine integrative und bindende Funktion erfüllen kann, muss es legitim sein. Verdeutlichen wir uns diese These vor dem Hintergrund des oben geschilderten Prozesses der Modernisierung: Dieser Prozess, der gesellschaftliche Integration als immer problematischer erscheinen lässt, kann in dem Zusammenhang nämlich auch beschrieben werden als ein immer stärkeres Auseinandertreten der beiden Momente von Faktizität und Geltung. Allein aus der bloßen Tatsache, dass eine bestimmte Ordnung existiert, folgt in der modernen Gesellschaft noch nicht automatisch ihre Legitimität. Der Problematisierungssog, in den immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gezogen werden, weil die traditionellen Inhibitoren der Lebenswelt und der ursprünglichen Institutionen kommunikatives Handeln immer weniger einschränken, muss also unter diesen erschwerten Bedingungen mit neuen Mitteln reguliert und sinnvoll eingegrenzt werden. Und hier nun

(…) erscheint die vollständige Positivierung des bis dahin sakral gestützten und mit konventioneller Sittlichkeit verflochtenen Rechts als plausibler Ausweg aus der Sackgasse: es wird ein System von Regeln erfunden, das die beiden Strategien der Eingrenzung und der Entschränkung des im kommunikativen Handeln angelegten Dissensrisikos verbindet und zugleich arbeitsteilig differenziert. (Habermas 1992, S. 56).

Das moderne, positive Recht ermöglicht also noch einmal die Verbindung der beiden Momente der Faktizität und der Geltung, obwohl diese im Zuge der Modernisierung immer stärker auseinandertreten und nicht mehr so einfach miteinander verschmolzen sind, wie sie es im Fall der traditionellen Inhibitoren noch waren.Footnote 9 Dies gelingt ihm, indem es kommunikatives Handeln als Integrationsmechanismus einerseits eingrenzt und andererseits entschränkt. Eingegrenzt wird kommunikatives Handeln durch die Faktizität des geltenden Rechts: Wenn es um dessen Durchsetzung geht, stellen Sanktionen einerseits die Motive der Regelbefolgung frei und erzwingen andererseits Nachachtung. Es geht hier also nicht mehr um Überzeugungen, sondern nur noch um Gehorsam. Entschränkt wird kommunikatives Handeln dafür durch die Geltungsbedürftigkeit eben dieses positiven Rechts. Wenn es um dessen Setzung geht, dann muss eine kritische Überprüfung der entsprechenden normativen Geltungsansprüche stattfinden (s. hierzu ausführlicher Habermas 1992, S. 45 ff.).

Nach Habermas können also moderne Rechtsnormen nur dann ihre Integrationsfunktion wahrnehmen, wenn sie diesen Doppelcharakter der Faktizität und der Geltung aufweisen: Sie müssen gleichzeitig durch faktischen Zwang Folgebereitschaft und durch legitime Geltung Einsicht bewirken können. Dieser These kommt in Habermas’ Theorie eine zentrale Scharnierfunktion zu. Denn über sie kann Habermas die Integrationsfunktion des Rechts mit der Idee der Selbstgesetzgebung verknüpfen und fortan argumentieren, dass ohne Selbstgesetzgebung ein Legitimitätsanspruch von Rechtsnormen nicht zu haben ist.Footnote 10 Damit sind wir beim Prozess der Gesetzgebung angelangt, mit dem ich mich im nächsten Abschnitt beschäftigen werde. Vorher soll das bereits Gesagte noch einmal zusammengefasst werden.

Eine auf Verständigungsprozessen basierende gesellschaftliche Integration wird nach Habermas stets durch die Äußerung von Dissens bedroht; sie ist immer fragil. Gerade in der modernen, pluralisierten und ausdifferenzierten Gesellschaft stellt sich Integration aus dieser Perspektive als besonders fragil dar, denn die traditionellen Garanten für Sicherheit, wie sie die Lebenswelt und die archaischen Institutionen darstellten, verlieren nun immer mehr an Bedeutung. Faktizität und Geltung, ehemals fest miteinander verschmolzen, treten als unterschiedliche Momente jetzt immer weiter auseinander: Was als von außen vorgegeben erscheint, wird gerade deshalb jetzt angezweifelt. In die damit entstehende Funktionslücke springt das Recht ein, welches noch einmal beide Momente – der Faktizität und der Geltung – so miteinander kombinieren kann, dass einerseits Integration sichergestellt wird, andererseits aber als selbst entworfen und gestaltet erfahren werden kann. Kommunikatives Handeln (mit der Gefahr der Dissensäußerung) wird einerseits eingegrenzt, wenn es um die Durchsetzung von Rechtsnormen geht – nämlich durch die Positivität des Rechts, welches in Verbindung mit Sanktionen legales Verhalten erzwingen kann. Andererseits wird es aber auch entschränkt, wenn es um die Setzung der entsprechenden Rechtsnormen geht. Hier müssen die Normen ihren Anspruch auf rationale Akzeptabilität einlösen, und dies geschieht durch ihre kritische Überprüfung in einem Legitimationsprozess.Footnote 11 Derjenige Ort in der Gesellschaft, an dem es um die Verständigung über problematisierte Geltungsansprüche von Rechtsnormen geht – und das ist der Ort der Gesetzgebung – ist insofern das eigentliche Zentrum gesellschaftlicher Integration.Footnote 12 Damit kann ich überleiten zum idealen Modell der deliberativen Demokratie, wie es Habermas zunächst normativ einführt (2.2) und für das er anschließend eine empirische Übersetzung anstrebt (2.3).

2.2 Ein ideales Modell der deliberativen Demokratie

2.2.1 Das Ideal der Selbstgesetzgebung und seine Umsetzung im Rechtsstaat

Ich komme nun zum eher normativen und im engeren Sinn demokratietheoretischen Teil von Habermas’ Diskurstheorie des Rechts und der Politik. Zu Beginn gilt es darum zunächst, den normativen Hintergrund für Habermas’ Modell der deliberativen Demokratie aufzuzeigen. Dieser normative Kern liegt dabei ganz klassisch im Ideal der autonomen Selbstbestimmung einer Rechtsgemeinschaft. Es geht Habermas um „das Modell einer Rechtsgemeinschaft, die sich über die gemeinsame Praxis der Staatsbürger selbst bestimmt“ (Habermas 1992, S. 105) bzw. um eine „Rechtsgemeinschaft, die als eine Assoziation freier und gleicher Bürger die Regeln ihres Zusammenlebens selber bestimmt“ (ibid., S. 24).

Der besondere Reiz dieser ursprünglich antiken Idee liegt für Habermas nun darin, dass sie gerade für die moderne Gesellschaft formuliert wird, deren differenzierte und komplexe Strukturen auf den ersten Blick die Verwirklichung der Selbstregierung als unwahrscheinlich erscheinen lassen. Habermas wehrt sich also gegen „die defaitistische Preisgabe jener radikalen Gehalte des demokratischen Rechtsstaates, für die ich eine neue, den Umständen einer komplexen Gesellschaft angemessene Lesart vorschlage.“ (Habermas 1992, S. 13).Footnote 13

Vor dem Hintergrund dieses normativen Kerns müssen nach Habermas dann die Setzung legitimen Rechts durch die Bürger und damit die Sicherung ihrer politischen Autonomie als Verfahren rechtlich gesichert und institutionalisiert werden. Die Antwort auf dieses Problem ist bei Habermas das ‚System der Rechte‘ bzw. der ‚Rechtsstaat‘.Footnote 14 Zusammen stellen beide ein notwendiges Arrangement zur Implementierung des Ideals der Selbstregierung dar. Dabei können zwei Mechanismen unterschieden werden: Erstens muss die Willensbildung in angemessener Form durch Rechte ermöglicht werden und zweitens muss dann dieser Wille auch tatsächlich umgesetzt werden können.

Um dies zu verdeutlichen, führt Habermas eine für die weitere Argumentation zentrale Unterscheidung ein: die zwischen kommunikativer und administrativer Macht.Footnote 15 Dabei versteht er unter ‚kommunikativer Macht‘ in Anlehnung an Hannah Arendt vereinfacht formuliert die Macht, die tatsächlich vom Volk ausgeht. Sie wird verstanden als ein spontanes, dynamisches, vor allen Dingen aber symmetrisches Phänomen, welches sich zwischen den Menschen immer dann bildet, wenn diese sich zusammentun. Sie ist damit ein Potential, welches dem einzelnen Individuum als solchem gerade nicht zur Verfügung steht. In Abgrenzung dazu wird ‚administrative Macht‘ als diejenige Macht definiert, die vom Staat und seinen Institutionen ausgeht. Sie ist Befehls-, Sanktions-, Organisations- und Exekutivmacht. Hier also kommt erst die Asymmetrie ins Spiel, die bei klassischen Machtbegriffen (wie z. B. dem von Max Weber) sonst immer das zentrale Element darstellt. Für Habermas sind beide Machtformen aufeinander angewiesen, sie sind jeweils füreinander konstitutiv: Kommunikative Macht bedarf des Instruments der kontrollierten administrativen Macht nicht nur zur Umsetzung des gebildeten Willens, sondern allein schon um die Voraussetzungen ihres eigenen Entstehens zu gewährleisten.Footnote 16 Und administrative Macht bedarf der Legitimation durch kommunikative Macht, sonst verkommt sie zur bloßen Gewalt und droht sich über kurz oder lang selbst zu zerstören. Habermas will nun in diesem Zusammenhang zeigen, dass das System der Rechte und der Rechtsstaat dasjenige Arrangement darstellen, welches eine glückliche Verbindung von kommunikativer und administrativer Macht ermöglicht. Dies soll im Folgenden erläutert werden. Die oben bereits angeführten zwei Mechanismen bei der Implementierung des Ideals der Selbstregierung können dafür in Habermas’ Terminologie wie folgt reformuliert werden: Es muss erstens die Entstehung von kommunikativer Macht durch Rechte ermöglicht werden (2.2.2) und zweitens muss die Steuerung der administrativen Macht seitens dieser kommunikativen Macht durch den Rechtsstaat garantiert sein (2.2.3).

2.2.2 Die Entstehung kommunikativer Macht: System der Rechte, Diskurs- und Demokratieprinzip

Wie entsteht also kommunikative Macht? Die erste Voraussetzung zur Entstehung von kommunikativer Macht ist wie bereits gesagt das System der Rechte.Footnote 17 Formal sind dies für Habermas diejenigen Rechte, die sich die Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft gegenseitig zugestehen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts autonom regeln wollen. Inhaltlich besteht dieses System der Rechte im Prinzip aus den bekannten Grundrechten, wie sie mittlerweile in die meisten modernen Verfassungen Eingang gefunden haben – wobei sie von Habermas bewusst zunächst als Rechtskategorien auf einer abstrakten Ebene hergeleitet werden, die die konkrete Verwirklichung und Formulierung im jeweiligen Einzelfall noch offen lässt. Diese Grundrechte sind vereinfacht zusammengefasst die folgenden: 1) Das Recht auf Freiheit und Gleichheit; 2) das Recht auf Bürgerschaftsstatus; 3) das Recht auf Rechtsschutz; 4) das Recht auf Partizipation; 5) soziale/materielle Rechte im Sinne einer Garantie für die Fähigkeit zur effektiven Wahrnehmung der vorstehenden Rechte.Footnote 18

Grundrechte als erste Voraussetzung einer autonomen Selbstregierung – hier bewegt sich Habermas auf wohlerkundetem Terrain. Sein System der Rechte stellt nun aber bei genauer Betrachtung für die Bildung kommunikativer Macht nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung dar. Denn es kann nicht aus sich selbst heraus garantieren, dass die privaten Rechtssubjekte auch effektiv von diesen Rechten Gebrauch machen werden, um die öffentlichen Angelegenheiten autonom zu regeln.Footnote 19 Habermas weiß, dass Rechtsnormen, indem sie es ihren Adressaten freistellen, ob diese ihnen gegenüber eine objektivierende oder eine performative Einstellung einnehmen, die Bürger nicht zur Ausübung ihrer Autonomie zwingen können: Das Recht auf Meinungsäußerung schließt es ein, sich der Äußerung zu enthalten. Die Grundrechte müssen sich daher darauf beschränken, es den Bürgern anzusinnen, auch effektiv von ihnen Gebrauch zu machen, um ihr Zusammenleben legitim zu regeln (vgl. Habermas 1992, S. 165).

Selbst für den Fall, dass dies geschieht, bleibt das System der Rechte jedoch nur ein erster Schritt in der Formierung von kommunikativer Macht. Denn kommunikative Macht entsteht erst durch konkrete Beratungs-, Verständigungs- und Willensbildungsprozesse auf der Grundlage des Systems der Rechte. In Form einer „Meinung, auf die sich viele öffentlich geeinigt haben“ (Habermas 1992, S. 182 f.),Footnote 20 entsteht und bildet sich der Wille des Volkes erst in solchen Verständigungsprozessen; hier erst kommt er zum Ausdruck. Und damit ist kommunikative Macht nach Habermas ein Ergebnis von Deliberation, d. h. von Verfahren der Beratung und der Meinungs- und Willensbildung in Diskursen. Als Diskurs wird dabei ein „Versuch der Verständigung über problematische Geltungsansprüche“ (Habermas 1992, S. 138) verstanden, wobei es in den hier interessierenden politischen bzw. rechtlichen Diskursen um die unparteiliche Setzung von Handlungsnormen (zur Erreichung kollektiver Ziele oder zur Regelung von Konflikten) geht, mit dem Ziel eines rational motivierten Konsenses über die Geltung einer Handlungsnorm. Um dies zu erreichen, müssen die gesuchten Handlungsnormen dem Diskursprinzip genügen:

Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten. (Habermas 1992, S. 138).

Das Diskursprinzip wird von Habermas zunächst gleichermaßen sowohl für rechtliche wie für moralische Handlungsnormen formuliert. Uns interessieren im Folgenden vor allem die Rechtsnormen, da sie – im Unterschied zu Moralnormen – den genuinen Gegenstand des Gesetzgebungsprozesses und der damit verbundenen Meinungs- und Willensbildung darstellen. So kommen wir zum Demokratieprinzip, welches sich eben genau aus der Verschränkung von Diskursprinzip und Rechtsform ergibt – und welches endlich dem Prozess der Rechtsetzung legitimitätserzeugende Kraft verleiht. Das Demokratieprinzip, welches also die Bedingung legitimer Rechtsetzung festlegen soll, besagt:

[N]ur die juridischen Gesetze [dürfen] legitime Geltung beanspruchen (…), die in einem ihrerseits rechtlich verfaßten diskursiven Rechtsetzungsprozeß die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können. (Habermas 1992, S. 141).

Mit dem System der Rechte, dem Diskurs- und dem Demokratieprinzip ist die Entstehung kommunikativer Macht damit im Idealfall rekonstruiert: Auf der Grundlage des Systems der Rechte entsteht sie in Diskursen, die in der Setzung von konsentierten Rechtsnormen ihr vorläufiges Ende finden. Zwei Differenzierungen werden diesbezüglich noch eingeführt, auf die ich hier aber aus Platzgründen nur kurz eingehen will: 1) Habermas’ Prozessmodell der vernünftigen politischen Willensbildung unterscheidet zum einen pragmatische, ethisch-politische, moralische und juristische Diskurse sowie verfahrensregulierte Verhandlungen. Diese bilden zusammen ein Netz von Diskursen und Verhandlungen, in welchem sich insgesamt die Willensbildung vollzieht – mit entsprechenden Übergängen von einer Diskursform zur anderen (vgl. Habermas 1992, S. 201 ff.). 2) Bezüglich der Form, die die Beratungen annehmen sollen, um zu legitimen Entscheidungen zu führen, spezifiziert Habermas nochmals die Verfahrensbedingungen. Er übernimmt sie in Faktizität und Geltung von Cohen (1989, S. 17 ff.), hatte aber in früheren Schriften selber schon ähnlich argumentiert. Demnach vollziehen sich die Beratungen in argumentativer Form, sind inklusiv und öffentlich (alle von den Beschlüssen möglicherweise Betroffenen haben gleiche Chancen des Zugangs und der Teilnahme), sind ferner frei von externen und internen Zwängen (jeder hat die gleichen Chancen, gehört zu werden, Themen einzubringen, Beiträge zu leisten, Vorschläge zu machen und zu kritisieren; Ja-/Nein-Stellungnahmen sind allein motiviert durch den zwanglosen Zwang des besseren Argumentes) und zielen schließlich auf ein rational motiviertes Einverständnis (vgl. Habermas 1992, S. 369 ff.). Entscheidend ist für mich dabei allein die Tatsache, dass durch diese weiteren Differenzierungen die Idealisierungen des Diskurs- und Demokratieprinzips nicht wirklich abgeschwächt, sondern konsequent durchgehalten werden: Die Legitimation durch Verfahren à la Habermas zeigt sich kompromisslos gegenüber der Realität.Footnote 21 Am Beispiel des Diskurs- und Demokratieprinzips wird zudem sehr deutlich die Verbindung der soziologischen Theorie des kommunikativen Handelns mit der politischen Theorie der deliberativen Demokratie bei Habermas erkennbar. Habermas geht aus von einer über Konsens und Verständigungsprozesse integrierten Gesellschaft, die im Bereich der Politik und des Rechts auf allgemein verbindliche Handlungsnormen abzielt; er entsubstantialisiert den notwendigen Commonsense, indem er sich auf die Vorgabe eines inhaltlich neutralen Verfahrens zur Findung der gesuchten Handlungsnormen beschränkt. Aus seiner Perspektive einer über Verständigungsprozesse integrierten Gesellschaft heraus entwickelt er also ein auf den Bereich der Politik und des Rechts abzielendes Modell der legitimen Gesetzgebung, welches ebenfalls auf intersubjektiven Konsens abstellt.

2.2.3 Die Steuerung administrativer und ökonomischer Macht durch kommunikative Macht im Rechtsstaat

Für das Ideal der Selbstregierung einer konkreten Gemeinschaft von Rechtsgenossen reicht die Bildung kommunikativer Macht allein nicht aus. Sie bildet vielmehr einen ersten Schritt, auf den dann noch ein zweiter folgen muss: Die effektive Steuerung administrativer Macht durch kommunikative Macht. In diesem Zusammenhang wird von Habermas zugestanden, dass die Gesellschaft nicht ausschließlich über kommunikatives Handeln und Verständigungsprozesse integriert werde. Zwar wird diesem Integrationsmodus ein klarer Primat eingeräumt, jedoch sieht Habermas (im Anschluss an Talcott Parsons) bestimmte Bereiche der Gesellschaft auch über Systeme integriert, die sich auf der Basis eines verhärteten, der Problematisierung entzogenen Codes ausbilden. Es handelt sich um das administrative System mit dem Steuerungsmedium der administrativen Macht und um das ökonomische System mit dem Steuerungsmedium Geld. Welches Problem ergibt sich daraus nun für die kommunikative Selbstbestimmung der Bürger, die natürlich nach wie vor das normative Ideal für Habermas ist? Die mediengesteuerten Handlungsbereiche der Ökonomie und der Administration drohen sich derart gegen die Verständigungspraxis der Bürger abzuschotten, dass sie sich jeglicher Kontrolle entziehen und ungeachtet ihrer externen Effekte auf die Lebenswelt verselbständigen. Habermas (vgl. 1992, S. 58) bezeichnet dieses Problem auch als rechtsexterne Spannung zwischen Faktizität und Geltung – in Abgrenzung zur rechtsinternen, die jede Rechtsnorm in sich trägt, indem sie gleichzeitig durch faktischen Zwang Folgebereitschaft und durch legitime Geltung Einsicht bewirken können muss (s. o.). Die illegitime Einwirkung ökonomischer Macht auf den Gesetzgebungsprozess ebenso wie eine Selbstprogrammierung der administrativen Macht stellen also die deliberative Politik auf die Probe und fordern sie heraus. Die Selbstbestimmung droht zur Farce zu werden, wenn freie Willens- und Meinungsbildungsprozesse zwar stattfinden, eine effektive Umsetzung des gebildeten Willens jedoch ausbleibt bzw. am Widerstand der Systeme scheitert. Talk ohne action würde dann das Ideal deliberativer Politik ad absurdum führen.Footnote 22

Die Lösung für die Bewältigung der rechtsexternen Spannung von Faktizität und Geltung liegt nun für Habermas im Rechtsstaat. Dieser stellt das Postulat auf, dass sich sowohl ökonomische als auch administrative Macht nicht am legitim gesetzten Recht vorbei in politischen Entscheidungen niederschlagen dürfen.Footnote 23 Nur auf diese Weise kann letztlich der Primat des Rechts als grundlegendem Integrationsmedium der modernen Gesellschaft durchgesetzt werden gegenüber den abgeleiteten Steuerungsmedien Geld und administrativer Macht.

Konkret geschieht dies in Form einer „rechtliche(n) Institutionalisierung von Märkten und bürokratischen Organisationen“ (Habermas 1992, S. 101). So bleiben auch die Systeme in den Spannungsbereich aus Faktizität und Geltung einbezogen. Kein gesellschaftlicher Bereich kann dann definitiv der Geltungsdimension sozialer Ordnung den Rücken zukehren und sich allein auf seine Faktizität verlassen. Auf diese Weise kann das Recht zwischen den Systemen einerseits und der Lebenswelt andererseits vermitteln:

Das Recht funktioniert gleichsam als Transformator, der erst sicherstellt, daß das Netz der sozialintegrativen gesamtgesellschaftlichen Kommunikation nicht reißt. Nur in der Sprache des Rechts können normativ gehaltvolle Botschaften gesellschaftsweit zirkulieren; ohne die Übersetzung in den komplexen, für Lebenswelt und System gleichermaßen offenen Rechtskode, würden diese in den mediengesteuerten Handlungsbereichen auf taube Ohren treffen. (Habermas 1992, S. 78; Herv. i. O.).

Mit der Entstehung kommunikativer Macht und ihrer Umformung in administrative Macht habe ich das ideale Modell deliberativer Politik von Habermas in diesem Abschnitt nachgezeichnet. Vor dem nächsten Abschnitt soll das bisher Gesagte noch einmal zusammengefasst werden. Habermas’ Idealmodell deliberativer Politik beschreibt im Kern einen Prozess legitimer Rechtsetzung. Es geht aus von der Annahme, dass moderne Gesellschaften vor allem über Recht integriert werden, und dass dafür das Recht legitim sein muss. Legitimes Recht ist nach dem Modell deliberativer Politik dann ein Resultat von Diskursen, und die wichtigste Bedingung für die Möglichkeit solcher Diskurse sind wiederum bestimmte rechtliche Institutionen: Das System der Rechte und der Rechtsstaat bilden die Grundlage für die Entstehung kommunikativer Macht und deren Umformung in administrative Macht. Garantieren können sie sie aber nicht. Deshalb stellt sich die Frage nach der Realität deliberativer Politik in konkreten demokratischen Gemeinschaften, die nun diskutiert werden soll.

2.3 Die soziologische Übersetzung des idealen Modells

Im vorangegangenen Abschnitt wurde gezeigt, wie Habermas zunächst ein „mit Idealisierungen befrachtete(s) Verfahrenskonzept“ (Habermas 1992, S. 349) deliberativer Politik entworfen hat. Habermas selbst räumt nun ein, dass bei diesem Modell unklar sei, wie es an empirische Untersuchungen Anschluss finden könne, „welche die Politik in erster Linie als eine Arena von Machtprozessen begreifen und unter Gesichtspunkten interessengeleiteter strategischer Auseinandersetzungen oder systemischer Steuerungsleistungen analysieren.“ (ibid.) Das ideale Modell deliberativer Politik wirft mithin das Problem einer „soziologischen Übersetzung“ (Habermas 1992, S. 432) auf. Dabei geht es insbesondere um die Frage, welches Gewicht dem oben erläuterten rechtsstaatlich regulierten Machtkreislauf (damit meint Habermas die Steuerung der administrativen Macht durch kommunikative Macht) empirisch zukommt. Habermas’ These lautet diesbezüglich: Zwar gibt es im politischen Alltag Widerstände gegen den rechtsstaatlich vorgeschriebenen offiziellen Machtkreislauf, jedoch sind diese überwindbar und stellen das Modell der deliberativen Demokratie nicht per se in Frage. Im Kern von Habermas’ Argumentation steht dabei das Konzept einer zweigleisig verlaufenden deliberativen Politik, welches eine Ergänzung von institutionalisierter (die offiziellen Beratungen innerhalb des ausdifferenzierten, rechtsstaatlich verfassten politischen Systems) und nichtinstitutionalisierter Meinungs- und Willensbildung (die spontane Meinungsbildung innerhalb von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft) vorsieht.

2.3.1 Das Konzept der zweigleisig verlaufenden deliberativen Politik

Um sein Modell deliberativer Politik einem Realitätstest zu unterziehen und eine Antwort auf die Frage nach der Durchsetzungsfähigkeit des rechtsstaatlich regulierten Machtkreislaufs zu geben, bedient sich Habermas eines Zentrum-Peripherie-Modells des politischen Systems von Peters (s. für das Folgende Habermas 1992, S. 429 ff.). Demnach gliedert sich das politische System in ein Zentrum (Verwaltung, Regierung, Gerichtswesen, Parlament, Parteien) und eine Peripherie (Zivilgesellschaft, Interessengruppen, Verbände, Öffentlichkeit). Die Crux des Modells liegt dabei wie auch bei Habermas’ eigener Theorie in der Legitimitätsproblematik politischer Entscheidungen. Denn die Legitimität der Entscheidungen im Zentrum ist nach Peters abhängig von Meinungs- und Willensbildungsprozessen in der Peripherie: Bindende Entscheidungen des Zentrums müssen, um legitim zu sein, von Kommunikationsflüssen gesteuert sein, die von der Peripherie ausgehen. Nur wenn dies auch tatsächlich der Fall ist, liegt der offizielle, rechtsstaatlich regulierte, durch kommunikative Macht gesteuerte Machtkreislauf vor, wie wir ihn oben dargestellt haben.

Allerdings konkurriert dieser offizielle Machtkreislauf im politischen Alltag ständig mit einem Gegenkreislauf, welcher die Entscheidungsprozesse des Zentrums gerade an der Peripherie vorbei lenkt – sei es in der Form einer Selbstprogrammierung der Verwaltung, sei es in der Form des illegitimen Eindringens mächtiger ökonomischer Interessen in den Gesetzgebungsprozess. In solchen Fällen wird zwar auch von der Gesetzes- bzw. Rechtsform Gebrauch gemacht, aber die eigentliche Legitimation durch kommunikative Macht umgangen.

Habermas räumt an dieser Stelle ein, dass eine realistische Betrachtung des politischen Geschehens schnell zu dem Ergebnis führe, dass der Gegenkreislauf in der Regel dominiere: In den meisten Fällen würden die Entscheidungsprozesse tatsächlich an der Peripherie vorbei gelenkt und dann in ihren Ergebnissen nur noch der Öffentlichkeit präsentiert.Footnote 24Dies spricht nach Habermas jedoch nicht prinzipiell gegen das Modell deliberativer Politik. Denn die Tatsache eines dominierenden Gegenkreislaufs könne auch als Entlastung der Bürger verstanden werden – und zwar vom politischen Alltagsgeschäft, d. h. von der Bürde der zeitaufwendigen Deliberation mit entsprechendem Entscheidungszwang. Der Gegenkreislauf (selbst wenn er nicht nur gelegentlich, sondern überwiegend an die Stelle des offiziellen Kreislaufs trete) sei also insofern unproblematisch, als dadurch schlicht Komplexität reduziert werde – gesetzt den Fall natürlich, dass dies auch inhaltlich im Sinne der Bürger geschehe. Entscheidend ist deshalb aus Habermas’ Perspektive vielmehr, dass in Konfliktfällen die Routine des Gegenkreislaufs stets problematisiert werden können muss. Für den Fall also, dass die Bürger während eines laufenden Entscheidungsprozesses oder angesichts einer schon getroffenen Entscheidung massive inhaltliche Bedenken anmelden, muss der offizielle Machtkreislauf gegen den bis dahin praktizierten Gegenkreislauf wieder voll zur Geltung gebracht werden können – so dass dann bei den zu klärenden Fragen wieder die eigentlichen Träger der kommunikativen Macht, also die Bürger, das letzte Wort haben (zumindest vermittelt über das gewählte Parlament und die für ihre Anliegen offenen Gerichte).

Auf diese Weise würden sich ein normaler und ein außerordentlicher Entscheidungsmodus im politischen System ergänzen. Der normale (zwar nicht im normativen, aber im faktischen Sinne) wäre der Gegenkreislauf, der außerordentliche der offizielle Kreislauf. Und dies durchaus im Sinne deliberativer Politik, unter der Voraussetzung, dass im Falle der Problematisierung durch die Öffentlichkeit der offizielle Machtkreislauf obsiegt.Footnote 25 Damit aber dies geschehen kann, müssen wiederum zwei Bedingungen erfüllt sein: Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft müssen im Namen der Bürger die im Zentrum ablaufenden politischen Prozesse effektiv überwachen können; d. h. sie müssen erstens Missstände wahrnehmen und sie zweitens auch thematisieren können (vgl. Habermas 1992, S. 435).

2.3.2 Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft

Damit „fällt ein guter Teil der normativen Erwartungen, die mit deliberativer Politik verknüpft sind, auf die peripheren Strukturen der Meinungsbildung.“ (Habermas 1992, S. 434). Hier kommen nun die Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft ins Spiel. Wie stellt sich Habermas diese vor? Habermas denkt hier an Netzwerke nichtinstitutionalisierter öffentlicher Kommunikation, die mehr oder weniger spontane Meinungsbildungsprozesse ermöglichen. Es geht um resonanzfähige und autonome Öffentlichkeiten, d. h. um eine Öffentlichkeit, die erstens die Fähigkeit besitzt, diejenigen Probleme aufzuspüren, welche einer politischen Regelung bedürfen, und die zweitens auch dazu in der Lage ist, sich mit ihren Problematisierungen im politischen System Gehör zu verschaffen.

Ein erster wichtiger Punkt bei Habermas’ Konzeption von Öffentlichkeit ist deshalb deren kritische Funktion: Für Habermas ist Öffentlichkeit nicht gleich Öffentlichkeit. Sie ist nicht zu verwechseln mit der bloß statistischen Aggregation individueller Meinungen, ebenso wenig ist sie identisch mit repräsentativen Umfragen. Entscheidend sind vielmehr eine spezifische Art des Zustandekommens, eine gemeinsam verfolgte Kommunikationspraxis – sie erst machen eine qualifizierte öffentliche Meinung aus. Habermas meint damit die Notwendigkeit einer

mehr oder weniger erschöpfenden Kontroverse, in der Vorschläge, Informationen und Gründe mehr oder weniger rational verarbeitet werden können. Mit diesem ‚Mehr oder Weniger‘ an ‚rationaler‘ Verarbeitung von ‚erschöpfenden‘ Vorschlägen, Informationen und Gründen variieren allgemein das diskursive Niveau der Meinungsbildung und die ‚Qualität‘ des Ergebnisses. (Habermas 1992, S. 438; Herv. i. O.).

Über die „Qualität“ einer öffentlichen Meinung entscheiden also spezifische Kriterien ihres Zustandekommens – genauer gesagt der diskursive Charakter von Prozessen der öffentlichen Meinungsbildung. Dieser begründet für Habermas „ein Maß für die Legitimität des Einflusses, den öffentliche Meinungen auf das politische System ausüben.“ (ibid., S.  439).Footnote 26

Habermas geht dabei allerdings von einer Differenzierung zwischen Akteuren und Publikum aus. In der öffentlichen Meinung werde i. d. R. stellvertretend um Einfluss auf politische Entscheidungen gerungen: Organisierte Akteure versuchten die Willensbildung im Namen ihrer Mandanten aktiv zu beeinflussen. Das Substrat und die letzte Instanz der Öffentlichkeit blieben jedoch stets die zum Publikum vereinigten Privatleute.

Aber der politische Einfluß, den die Akteure über öffentliche Kommunikation gewinnen, muß sich letztlich auf die Resonanz, und zwar die Zustimmung eines egalitär zusammengesetzten Laienpublikums stützen. Das Publikum der Bürger muß durch verständliche und allgemein interessierende Beiträge zu Themen, die es als relevant empfindet, überzeugt werden. Das Publikum besitzt diese Autorität, weil es für die Binnenstruktur der Öffentlichkeit, in der Akteure auftreten können, konstitutiv ist. (Habermas 1992, S. 440; Herv. i. O.).

Habermas hegt also die Vorstellung einer Kontinuität der öffentlichen Meinung, ausgehend von den privaten Erfahrungen der Bürger und endend bei den abstrakt und konzentriert vorgetragenen Argumentationen in Form von professioneller Öffentlichkeitsarbeit. Dieser Punkt ist wiederum typisch für die gesamte Theorie deliberativer Politik, die einen Bruch zwischen Bürgern und Repräsentanten ja gerade vermeiden will – bei allen Entlastungen, arbeitsteiligen Routinen und alltäglichen Widerständen.

Von daher erschließt sich schließlich auch die Verknüpfung von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in Habermas’ Demokratietheorie: Die wichtigsten Akteure der Öffentlichkeit sind für Habermas freiwillige zivilgesellschaftliche Assoziationen – denn sie sorgen für die soziale Verankerung der Öffentlichkeit in der Lebenswelt. In der Lebenswelt der Bürger treten die Konsequenzen der durch die Systeme verursachten externen Effekte offen zutage; sie stellt eine Art sensiblen „Resonanzboden“ (Habermas 1992, S. 77) für gesamtgesellschaftliche Problemlagen dar. Zivilgesellschaftliche Assoziationen bündeln dabei die Belange der Bürger, die mit den zu regelnden Problemen konfrontiert werden, und verschaffen ihnen im politischen System Gehör,

indem sie die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten. (Habermas 1992, S. 443).

Habermas muss dabei allerdings einen sehr restriktiven Begriff von Zivilgesellschaft in Kauf nehmen, denn er will eine Manipulation oder aktive Beeinflussung des authentischen Bürgerwillens seitens organisierter Akteure ausschließen. Deshalb schließt er Parteien ebenso wie Interessenverbände und Unternehmen aus seiner Definition von Zivilgesellschaft aus (s. Habermas 1992, S.  443 ff.). Da bleibt dann freilich nicht mehr viel übrig: nicht-staatliche, nicht-ökonomische, bürgerliche Assoziationen auf freiwilliger Basis beschränken sich wohl auf neue soziale Bewegungen, Bürgerforen und bestimmte NGOs.

Habermas muss sich deshalb zuletzt der Frage stellen, welchen Platz seine idealen Konzepte der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft in den modernen repräsentativen Demokratien im Zeitalter der Massenkommunikation tatsächlich einnehmen. Die Öffentlichkeit räsoniert und resoniert, sie bezieht ihre Impulse dabei vor allem aus denjenigen freiwilligen Assoziationen, die in der Lebenswelt verankert sind und im politischen System den durch die Bürger wahrgenommenen Problemen eine Stimme verleihen – dieses Bild ist ein normatives, welches mit einer Vielzahl an soziologischen Untersuchungen zu den empirisch beobachtbaren Prozessen öffentlicher Meinungsbildung nicht unbedingt harmoniert. Habermas räumt das ein, aber er sieht hier wiederum keinen prinzipiellen Einwand gegen seine Konzeption von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. Es bleibe eine empirische Frage, ob die kritische Funktion der Öffentlichkeit im Einzelfall wahrgenommen werde oder nicht. Und zivilgesellschaftliche Assoziationen hätten gegenüber den staatlichen Akteuren immerhin einen klaren Vorsprung, wenn es darum ginge, neue und wichtige politische Themen aufzuspüren, da sie in der Lebenswelt verankert seien und einen direkten Bezug zu den Bürgern mit ihren Problemen hätten. Zudem kann für Habermas nach dem Modell zweigleisiger deliberativer Politik selbst eine im politischen Alltag im Ruhezustand verharrende Öffentlichkeit in Krisenfällen wieder einen entscheidenden kritischen Einfluss auf die verfasste politische Willensbildung erlangen.

Angesichts der für ihn nur am konkreten Einzelfall zu beantwortenden Frage nach der empirischen Gestalt von Prozessen der öffentlichen Meinungsbildung konzentriert sich Habermas daher lieber auf die normativen Anforderungen an die entsprechenden Akteure, so z. B. auf die Forderung, die Massenmedien sollten sich als Sprecher der zum Publikum versammelten Privatleute verstehen, anstatt sie zu manipulieren (vgl. Habermas 1992, S. 456 ff.). Er beschränkt sich allgemein auf die normativen Anforderungen, denen die Öffentlichkeit genügen soll und verknüpft dies lediglich mit dem Hinweis, dass sie im Zweifelsfall auch eine kritische Rolle spielen kann. Ob sie dies aber auch tatsächlich tut, lässt er offen.Footnote 27 Damit wird er aber seiner angestrebten „soziologischen Übersetzung“ des Modells deliberativer Politik nur in einem geringen Maß gerecht. Sollte sie sich tatsächlich darauf beschränken, dem Beobachter lediglich weitere Kriterien an die Hand zu geben, um überprüfen zu können, inwiefern in einem konkreten politischen System der offizielle demokratische Machtkreislauf vorliegt? Habermas führt ja tatsächlich viele empirische Einwände gegen sein Modell deliberativer Politik an: z. B. Hinweise auf vermachtete, von politischen und wirtschaftlichen Akteuren manipulierte Öffentlichkeiten, die ihrer kritischen Funktion nur noch in einem stark eingeschränkten Ausmaß nachkommen können.Footnote 28 Wenn er sich angesichts dieser Einwände dann aber auf den Hinweis beschränkt (welcher nicht mit einem empirischen Nachweis zu verwechseln ist), dass eine kritische Funktion der Öffentlichkeit in Krisenfällen weiterhin möglich bleibe, umgeht er damit die eigentlich interessante Frage nach der Realität deliberativer Politik. Insgesamt lässt sich insofern bei Habermas’ Ausführungen zu Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, ja überhaupt bei seinem Vorschlag der soziologischen Übersetzung des idealen Modells deliberativer Politik, ein Rückzug aus dem Analytischen ins Normative konstatieren. Habermas’ rekonstruktive Soziologie wird so mehr und mehr zum bloßen Wunschdenken – und dies gerade an der Stelle, wo sie erst richtig gefordert wäre; gilt es doch hier, Theorie und Praxis in ein sinnvolles Verhältnis zu setzen.Footnote 29

Aber damit greife ich bereits einer Kritik vor, die erst im letzten Abschnitt des Buches systematisch entfaltet werden soll. Einstweilen habe ich Habermas’ Theorie der deliberativen Demokratie (soweit es hier möglich und für meine Zwecke erforderlich ist) in ihren zentralen Zügen rekonstruiert und dabei gezeigt, welchen Platz Habermas solchen Phänomenen wie dem Recht, dem Rechtsstaat, der diskursiven Meinungs- und Willensbildung, der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft jeweils einräumt. Der Gang der Darstellung bewegte sich vom Stellenwert des Rechts als wichtigstem Integrationsmedium der modernen Gesellschaft zum Prozess der Rechtsetzung, für den zunächst ein ideales Verfahren entworfen wurde, um schließlich nach dessen möglicher Umsetzung zu fragen. Es gilt jetzt, den rechts- und demokratietheoretischen Überlegungen von Habermas jene von Luhmann entgegenzustellen.