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Was Lothar de Maizière dazu trieb, IM zu werden

Als ihr letzter Ministerpräsident führte Lothar de Maizière die DDR in die Wiedervereinigung. Kurz darauf wurde er als „IM Czerni“ enttarnt. Ein beklemmendes Stück Einheitsgeschichte.
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Anwalt, Kirchenvertreter, Humanist: Ministerpräsident Lothar de Maizière (Jg. 1940) in der letzten DDR-Volkskammer Anwalt, Kirchenvertreter, Humanist: Ministerpräsident Lothar de Maizière (Jg. 1940) in der letzten DDR-Volkskammer
Anwalt, Kirchenvertreter, Humanist: Ministerpräsident Lothar de Maizière (Jg. 1940) in der letzten DDR-Volkskammer
Quelle: picture-alliance / ZB

Gemeinsam hatten sie das Land vereinigt, und gemeinsam vereinigten sie die CDU: Helmut Kohl und Lothar de Maizière, auf dem Parteitag in Hamburg am 1. Oktober 1990. Damals war de Maizière noch DDR-Ministerpräsident für zwei Tage. Seit dem 3. Oktober dann nur noch Bundesminister und stellvertretender CDU-Vorsitzender. Lothar de Maizière war nach der Wende und durch die Wende höher aufgestiegen als jeder andere DDR-Bürger. Deshalb konnte er auch tiefer fallen.

Als er im Dezember 1990 mit Unterlagen des früheren Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) konfrontiert wurde, in denen er als inoffizieller Mitarbeiter bezeichnet wird, entschloss er sich, die Vorwürfe zu bestreiten. Eine Überprüfung der Stasi-Karteien, sagte er, habe schon Anfang des Jahres ergeben, dass belastende Vorgänge über ihn nicht vorlägen. De Maizière wähnte sich mit diesen Worten im Recht, denn die Karteien waren vorher gründlich gesäubert worden. Der Chef der MfS-Nachfolgebehörde, General Wolfgang Schwanitz, hatte im späten November 1989 eine groß angelegte Reißwolf-Aktion gestartet.

Doch die Bestände wurden nicht gründlich genug zerhäckselt. Man übersah dabei mehrere Karteien und Akten, auch über de Maizière.

DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière (M.) bei der Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 31. August 1990. Amt Tisch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (l.) und DDR-Staatssekretär Günther Krause
DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière (M.) bei der Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 31. August 1990. Amt Tisch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (l.) und DDR-Staatss...ekretär Günther Krause
Quelle: picture-alliance / dpa

Zum einen handelte es sich dabei um eine Karte aus der sogenannten „Straßenkartei“ der fürs Archiv zuständigen Stasi-Hauptabteilung XII (eine gesonderte Kartei zum besseren Überblick über die räumliche Verteilung der Agenten). Unter der Adresse „Am Treptower Park 31“ war dort ein inoffizieller Mitarbeiter (IM) mit dem Decknamen „Czerni“ gelistet, genau genommen tätig als IMB („Inoffizieller Mitarbeiter mit Feindberührung“), Registrationsnummer: XV/3468 aus dem Jahr 1981.

Geführt wurde „Czerni“ von der Abteilung XX in der Stasi-Bezirksverwaltung Berlin, zuständig für die Bekämpfung des „politischen Untergrundes“. Die Bundesregierung bestätigte die Existenz dieser Karte im Stasi-Archiv. Bei jener Liegenschaft im Ost-Berliner Stadtteil Treptow handelte es sich um die „Villa Luise“. Hier wohnte Lothar de Maizière, Rechtsanwalt und ehemaliger DDR-Kirchenpolitiker.

De Maizière hatte sich immer wieder mit Abscheu und Empörung über das Spitzelsystem geäußert: So sagte er einmal: „Was in den sechs Millionen Akten der Staatssicherheit aufgezeichnet und abgeheftet wurde, das dokumentiert die Menschenverachtung des alten SED-Staates. Hier bespitzelte der Nachbar den Nachbarn, der Bruder den Bruder, der Sohn den Vater, die eigene Frau ihren Mann, der Freund den Freund.“

Und offenbar der Rechtsanwalt und Kirchenpolitiker die kirchlichen Würdenträger und bundesdeutsche Politiker.

Nach dem Sieg bei der Volkskammerwahl trat Lothar de Maiziere (l.) als Vorsitzender der Ost-CDU am 21. März 1990 vor die Presse. An seiner Seite Rainer Eppelmann (r.), Vorsitzender des Demokratischen Aufbruchs
Nach dem Sieg bei der Volkskammerwahl trat Lothar de Maiziere (l.) als Vorsitzender der Ost-CDU am 21. März 1990 vor die Presse. An seiner Seite Rainer Eppelmann (r.), Vorsitzender... des Demokratischen Aufbruchs
Quelle: picture-alliance / ZB

Auftraggeber von IM „Czerni“ war die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg. Bis zu ihrer Auflösung im Dezember 1989 war sie zuständig für die Beobachtung und Zersetzung der in Berlin besonders in Kirchenkreisen aktiven politischen Opposition. Sie beschränkte sich nicht auf Schnüffeleien. Unter dem Fachbegriff „Zersetzung“ wurden die hinterhältigsten Aktivitäten der Stasi-Gruppe durchgeführt. Zielpersonen solcher Maßnahmen waren vor allem Pfarrer Rainer Eppelmann, Friedensaktivist Reinhard Schuldt und Bürgerrechtler Ralf Hirsch. Psychoterror gehörte zum Repertoire.

Auch über solche Aktionen kamen 1990 Akten ans Licht, die bei jener „Säuberung“ von General Schwanitz offenbar übersehen worden waren. Erhalten blieb eine umfangreiche MfS-interne Ermittlungsakte gegen Offiziere, die in ihrer Zersetzungsarbeit sogar für Stasi-Verhältnisse über die Stränge geschlagen hatten und sich 1988 dafür verantworten mussten. Dabei handelte es sich ausgerechnet um drei Führungsoffiziere des inoffiziellen Mitarbeiters Referat 4 der Abteilung XX, die Kirchenabteilung, in Berlin eine besonders rabiate Stasi-Truppe. Offizielle und inoffizielle Mitarbeiter wurden bei den internen Ermittlungen durchleuchtet.

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In der Akte waren Decknamen und Klarnamen aller Spitzel verzeichnet, die für die Abteilung in Kirchenkreisen arbeiteten – insgesamt mehrere Dutzend. Auch aus ihr ging hervor, wer sich hinter dem Decknamen „Czerni“ versteckte. Neben „normalen“ Schmutzkampagnen kreisten demnach in der Kirchenabteilung der Stasi auch verwegene Gedankenspiele, die die interne Untersuchung aufdeckte. So erwogen Stasi-Offiziere, dem besonders aktiven Bürgerrechtler Ralf Hirsch in einer strengen Winternacht Alkohol einzuflößen, um ihn anschließend in der Kälte erfrieren zu lassen. Als Hirsch das Stasi-Papier einsah, meinte er: „Das erschüttert mich doch ein bisschen, ich bin ja fast mit Glück von der Schippe gesprungen.“

Man freut sich ja, wenn man das so liest, über die Menschlichkeit einzelner Vorgesetzter der Staatssicherheit, wenn hier steht, die Aktion wurde durch die Abteilungsleitung abgelehnt
Rainer Eppelmann

Auch was den Stasi-Hauptfeind Rainer Eppelmann betrifft, sind Überlegungen zur „theoretischen Möglichkeit physischer Vernichtung“ dokumentiert. Im Untersuchungsbericht hieß es, man habe einen Autounfall ins Auge gefasst, mithilfe gelockerter Radmuttern zum Beispiel. Die Vorgesetzten hätten die Aktion aber nicht genehmigt.

Als Eppelmann erfuhr, was die Stasi gegen ihn im Schild geführt hatte, bemerkte er fast schon anerkennend: „Man freut sich ja, wenn man das so liest, über die Menschlichkeit einzelner Vorgesetzter der Staatssicherheit, wenn hier steht, die Aktion wurde durch die Abteilungsleitung abgelehnt, da das zu Schaden kommen von unbeteiligten Personen nicht ausgeschlossen werden konnte. Im Normalfall habe ich in dem Auto nicht allein gesessen, sondern meine Frau ist da mit dabei gewesen, Mutter von vier Kindern.“

Die tatsächlich durchgeführten Aktionen, zum Beispiel gegen Reinhard Schuldt, waren gemein, aber nicht mörderisch. Manchmal jedoch auch genauso lächerlich wie hinterhältig. So stahl man dem Friedensaktivisten, um seine Mobilität einzuschränken, die Ventile aus dem Fahrrad.

Lothar de Maiziere als Ministerpräsident am Rednerpult der Ost-Berliner Volkskammer
Lothar de Maiziere als Ministerpräsident am Rednerpult der Ost-Berliner Volkskammer
Quelle: picture-alliance / dpa

Die interne Stasi-Untersuchung wurde von der ZAIG, der Zentralen Aufklärungs- und Informationsgruppe, geführt. Die Einheit, die direkt Stasi-Chef Erich Mielke unterstand, war so etwas wie die „Innere Revision“ des Ministeriums, verantwortlich für Disziplinarverfahren. Der Stasi-Apparat war wie jeder Geheimdienst nach dem Prinzip „Need to know“ geführt worden, die verschiedenen Abteilungen blieben untereinander strikt abgeschottet. Die ZAIG aber führte praktisch Aufsicht über alle Ressorts. In eines ihrer Ermittlungsverfahren zu geraten war das Schlimmste, was einem Stasi-Mitarbeiter passieren konnte.

Das Kommando über die Abteilung hatte der Stasi-General Werner Irmler. Sein persönlicher Adjutant war Oberst Gerd Bäcker. Pikanterweise war dieser nach der Wende dem runden Tisch bei der Aufklärung der Stasi-Struktur behilflich. Als nach der Wiedervereinigung die „Gauck-Behörde“ die Aktenbestände der Stasi übernahm, wurde Oberst Bäcker als ranghöchster ehemaliger Stasi-Offizier dort angestellt. Er arbeitete unmittelbar dem Direktor der Behörde, Hansjörg Geiger, zu. Der zweite Mann der ZAIG kannte sich im Labyrinth der früheren MfS-Bürokratie bestens aus und war an allen wichtigen Ermittlungen gegen ehemalige inoffizielle Mitarbeiter der Stasi beteiligt. In Kreisen seiner früheren Kollegen war er deshalb der bestgehasste Mann.

Ausgerechnet Oberst Bäcker hatte 1988 die Ermittlungen gegen die Abteilung „Schmutzige Tricks“ der Stasi-Bezirksverwaltung Berlin geführt. Die beschuldigten Offiziere waren der Ansicht, dass sie nur deshalb ins Schussfeld gerieten, weil sie für Glasnost und Perestroika in der DDR eingetreten waren. So auch der starke Mann der Truppe, der stellvertretende Referatsleiter Major Edgar Hasse, der bis dahin immer blendende Zeugnisse erhalten hatte. Zitat aus der Ermittlungsakte: „Genosse Major H. zeigt seit seiner Einstellung in das MfS stets hohe Einsatzbereitschaft und Engagement in der operativen Arbeit.“

Lothar de Maizière unweit der väterlichen Anwaltskanzlei in der Berliner Friedrichstraße
Lothar de Maizière unweit der väterlichen Anwaltskanzlei in der Berliner Friedrichstraße
Quelle: picture-alliance / ZB
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Der besonders tüchtige Stasi-Offizier hatte allerdings auch eine besonders hochkarätige Quelle, die er manchmal sogar im Büro aufsuchte: Anwalt Lothar de Maizière, Kanzleiadresse Berlin, Friedrichstraße 114. Das ging eindeutig aus den Akten der Stasi-internen Untersuchung gegen Hasse und andere hervor.

So wurde auf einem Aktenstück unter dem Namen Hasse, Major, handschriftlich akribisch aufgelistet, mit welchen IM er arbeitete. Darunter auch „Czerni“. Und die Untersuchungsführer aus der ersten Kontrollbrigade notierten säuberlich Decknamen, Registrationsnummer und Klarnamen des IMB „Czerni“: „Lothar de Maizière“. Rechts daneben schrieben sie weitere Details über den IM, die sie aus Akten und Befragungen rekonstruiert hatten. Ein Beispiel: „Hinweise auf Dekonspiration gegenüber Kirche“. Mit anderen Worten: Der Verdacht, „Czerni“ sei innerhalb der Kirche enttarnt worden, was indes nicht zutraf.

Bezüge zu de Maizière finden sich an mehreren Stellen: „Treffs finden unter anderem in Wohnung, Büro des IM statt. Bundessynodaler als Rechtsanwalt für Kirche tätig. Verbindung zu leitenden Mitarbeitern der ständigen Vertretung.“ Tatsächlich war de Maizière 1985 zum Synodalen des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR gewählt worden, 1986 sogar zum Vizepräsidenten der DDR-Synode.

Kraft Person und Amt hielt de Maizière nicht nur Kontakt zu den höchsten Kreisen der Kirche, sondern auch zur ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. So wundert es nicht, dass „Czerni“ für den Staatssicherheitsdienst immer interessanter wurde. Folgerichtig wurde in der ZAIG-Untersuchung bemängelt, dass für den mehrfach einsetzbaren „Czerni“ nur Absprachen, aber keine Einsatzkonzeptionen mit der Spionageabteilung II erarbeitet worden seien. Im Klartext: Der Rohdiamant „Czerni“ könne geschickt und gezielt eingesetzt zum Stasi-Juwel werden.

Die amtlichen Prüfer aus der ZAIG, der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe im Stasi-Ministerium, fanden nach dem Studium aller Akten „Czerni“ so wichtig, dass sie anregten, ihn aus der Bezirksverwaltung abzuziehen, ihn direkt dem Ministerium zu unterstellen und in dessen Kirchenabteilung zu übernehmen.

Beim Geigenspiel anlässlich seines 65. Geburtstags 2005 in Berlin
Beim Geigenspiel anlässlich seines 65. Geburtstags 2005 in Berlin
Quelle: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Damals bestritt Lothar de Maizière die sich aus den Akten ergebenden Vorwürfe. Doch „Czernis“ Führungsoffizier Major Hasse gab kurz vor einer Sendung gegenüber „Spiegel-TV“ zu Protokoll: „Er, de Maizière, ist mit Wissen und freiwillig zu Gesprächen mit dem MfS bereit gewesen. Diese haben auch in konspirativen Wohnungen stattgefunden. De Maizière kannte den Namen ,Czerni‘. Ich glaube, er hatte ihn sich selbst ausgesucht. Ich wäre auf diese Idee nicht gekommen. Ich traf ihn etwa zehn- bis zwölf Mal im Jahr.“

Warum hat Lothar de Maizière mit der Stasi zusammengearbeitet, was versprach er sich davon? Hasse äußerte sich vor der Sendung auch dazu: „Geld spielte eigentlich keine Rolle. De Maizière erhielt aber gelegentlich Geschenke“ – laut Akten zwischen 1986 und 1988 im Gesamtwert von 1476 Mark. Nicht viel. Doch wer als Rechtsanwalt in der DDR arbeiten durfte, war genug belohnt und hatte bei etwaiger Stasi-Arbeit keinen Anspruch auf Zubrot.

Major Hasse zog eine andere Erklärung vor. „Mein Eindruck war, dass er glaubte, mit diesen Gesprächen von seiner bürgerlich-humanistischen Position aus zu gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR beizutragen, in der insbesondere solche Aspekte wie Rechtsstaatlichkeit und humanitäre Fragen gefördert würden. Hierzu lieferte er kircheninterne Einschätzungen, etwa aus der Synode, und aus Gesprächen mit verschiedensten wichtigen Kirchenvertretern, sicherlich auch Bischoff Forck und Konsistorialpräsident Stolpe.“

Ein anständiger Mann als Helfer des Ministeriums für Staatssicherheit. So wie die Stasi ja insgesamt „von der bürgerlich-humanistischen Position aus zu gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR beitragen“ wollte.

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