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Die drei Teile des Stunden-Buchs entstanden unabhängig voneinander in jeweils kurzen Schaffensperioden: vom 20. September bis 14. Oktober 1899 in Berlin-Schmargendorf (ursprünglicher Titel: „Die Gebete“), vom 18. bis 25. September 1901 in Westerwede und vom 13. bis 20. April 1903 in Viareggio; 1905 erschien das Gesamtwerk, nach leichter Überarbeitung durch den Autor, im Insel-Verlag.

Mit dem Titel bezieht Rilke sich auf das Genre der ‚Stundenbücher‘, also auf Laienbreviere des späten Mittelalters mit Gebeten für bestimmte Stunden und Tage (wie etwa die reich illuminierte Handschrift Très riches heures du Duc de Berry, 1410–1489). In Rilkes Stunden-Buch handelt es sich (vor allem im ersten und zweiten Teil) um die ‚Gebete‘ eines Rollen-Ichs, das zugleich als fiktiver Autor des Textes fungiert: ein russischer Mönch, der sowohl dichtet als auch Ikonen malt.

In Thematik und Motivik sind die drei Werkteile durch die sehr unterschiedlichen Erfahrungen ihrer Entstehungszeit geprägt: das Erlebnis der Renaissance während Rilkes Aufenthalt in Florenz (1898), die zwei Russlandreisen (1899 und 1900), die Ehekrise (die sich schon bald nach der Heirat mit Clara Westhoff am 24. April 1901 anbahnte) und die erste, schockhafte Begegnung mit der Pariser Großstadtrealität (1902/03). Unter diesen Einflüssen war Russland der prägendste. Rilke und seine Reisegefährtin und Geliebte Lou Andreas-Salomé erlebten es, durchaus zeittypisch, als Prototyp einer prä-modernen Kultur: als Land der noch ungebrochenen geistigen Ordnungen und der ‚tiefen‘, gütigen und leidensbereiten ‚russischen Seele‘. Vom russischen Volk kann der vernunftgläubige, alles Fremde und Unbeherrschbare verdrängende moderne ‚Westler‘ lernen, was Nietzsche das „große Ja“ zum Leben nennt. In seinem Aufsatz Russische Kunst (1901) rühmt Rilke am „russischen Charakter“ die „sorglose Hingabe an alle Inhalte des Lebens, auch an die fremdesten“, die „werdende Weltanschauung einsamer Menschen, die sich von Gegensatz zu Gegensatz erstreckt, alle Mächte und Meinungen begreift und etwas Hintergrundhaftes, Tiefes auch noch hinter jenen Schicksalen behält, die uns den Himmel verdecken“.

Damit sind zentrale Stichworte zur Charakterisierung des weit vom orthodoxen Christentum abweichenden Gottesbildes im Stunden-Buch genannt. Dessen Gott ist nicht transzendent, sondern ganz und gar immanent, ein Gott der Erde, der ‚Tiefe‘ und des ‚Dunkels‘; er wird nicht personal gedacht, sondern, pantheistisch und monistisch, als Grund des Lebens, als in allem Werden und Vergehen pulsierende elementare Kraft und Bewegung. Vor allem aber denkt Rilke Gott nicht als seiend, sondern als werdend, wobei sich dieses Werden zugleich mit dem des je einzelnen Ichs vollzieht: Da Gott- und Ich-Suche so letztlich identisch sind, ist die Religiosität im Stunden-Buch eine dezidiert moderne, die die Emanzipation des Subjekts voraussetzt, eine Feier des Lebens, für die Rilke eine neue Formensprache sucht.

Diese findet er in einer originellen Adaption der Linien- und Ornamentästhetik des Jugendstils. Die verschlungene, verschiedenste Gegenstände und Themen zu einer emotional und vital bewegten Einheit verschmelzende Ornamentik des Textes entsteht zum einen auf der thematischen Ebene, wo Gott, Ich und Welt in ständigen Wechsel- und Austauschbeziehungen miteinander stehen, zum anderen über die fluide Bildlichkeit, den gleitend-wiegenden Rhythmus und die Verse und Strophen verwebenden Reimbänder.

Im ersten Teil des Stunden-Buch entwirft Rilke das mythopoetische Weltmodell seines lebensphilosophisch grundierten Monismus, im zweiten Teil setzt er dieses gezielt ein, um eine existenzielle Krise und Verunsicherung zu überwinden. Ein entsprechender Versuch, im dritten Teil auch die neue und verstörende Pariser Großstadterfahrung mit der bewährten Gestaltungsweise zu bannen, ist zum Scheitern verurteilt, da das am prä-modernen Russland entwickelte monistische Weltbild wenig geeignet ist, Krisenphänomene der Modernisierung zu integrieren. Das verdrängte Sterben der Moderne und die Kritik an deren Materialismus werden ihre gültige Gestaltung erst in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) finden.

Zu Lebzeiten Rilkes war Das Stunden-Buch mit einer Auflage von rund 60 000 Exemplaren, neben dem Cornet, das populärste Werk des Autors. Von sozialgeschichtlich orientierten Interpreten hat in letzter Zeit vor allem das dritte Buch scharfe Kritik erfahren, da sie Rilkes Apotheose der ‚wahren Armut‘ als Rechtfertigung sozialer Missstände lasen.