Es sind noch mehrere Wochen bis zur Adventszeit, aber Cher hat bereits ein Weihnachtsalbum veröffentlicht. Es hat den unmissverständlichen Titel „Christmas“, weil sonst keiner merken würde, dass es sich um ein Weihnachtsalbum handelt. Auf dem Cover trägt sie ein weißes Hemd und eine ausgewaschene Jeans, für Chers Verhältnisse ein Outfit von alarmierender Schlichtheit – immerhin hat die Künstlerin einst stolz erklärt, dass man sie in Netzstrumpfhosen begraben möge.
Der ersten Singleauskopplung „DJ Play a Christmas Song“ fehlt es an allem, was man von einem anständigen Weihnachtssong erwartet, außer dem Hinweis auf das Wetter. Weil es draußen kalt ist, will sie in den Club und die ganze Nacht tanzen. Dabei kommt häufig der Autotune-Effekt zum Einsatz, so wie vor 25 Jahren in „Believe“, ihrem möglicherweise besten Song und dem ersten Autotune-Hit überhaupt. So betrachtet, unterstreicht das frühe Weihnachtsalbum nur, dass Cher schon immer ihrer Zeit voraus war.
Sie war 16, als sie auf eigene Faust nach Los Angeles zog, 17, als sie ihre erste Single veröffentlichte, 18, als sie Sonny Bono heiratete, und 19, als die Single „I Got You Babe“ sie im Sommer 1965 zum Star machte. Das ist inzwischen 58 Jahre her, und dennoch ist „Christmas“ das erste Weihnachtsalbum ihrer langen Karriere. „Mein Leben scheint länger zu sein als das eines jeden anderen Menschen, jemals“, erklärte sie kürzlich in einem Interview mit dem britischen „Guardian“. Der Eindruck ist verständlich, sie ist bereits 77 Jahre alt – und feiert gerade mal wieder ein Comeback, nicht nur als Sängerin, sondern als wandelndes Kunstwerk, das offenbar keine Verschleißerscheinungen kennt.
Nach einer längeren Bühnenabstinenz schritt sie bereits im September letzten Jahres neben Ashley Graham und Brooklyn Beckham für die französische Luxusmarke Balmain über den Laufsteg, in einem hautengen, metallisch glänzenden Ganzkörperanzug und auf schwindelerregend hohen Plattformabsätzen, während ihr Hit „Strong Enough“ aus den Lautsprechern tönte. „Wir alle erfinden uns selbst“, hatte sie zu Beginn in einer Videoeinspielung verkündet, „nur haben manche von uns mehr Vorstellungskraft als andere.“
Chers Auftritt bildete den Höhepunkt des Defilees. Es sei die wahrscheinlich beste Modenschau aller Zeiten gewesen, twitterte sie im Anschluss. Wer es eine Nummer kleiner möchte, ist bei Cher an der falschen Adresse.
Am Rand des Ruins
Im Mai 1946 als Cherilyn Sarkisian im kalifornischen El Centro geboren, war Ruhm seit jeher ihr größter Wunsch. Wer dieses Karriereziel angeht, darf sich von vereinzelten Rückschlägen nicht aus der Bahn werfen lassen. Chers Debütsingle „Ringo I Love You“ war ein Flop; die Radiosender weigerten sich, das Lied über ihre Liebe zum Schlagzeuger der Beatles zu spielen, weil ihre Stimme so tief klang, dass man sie für die eines Mannes hätte halten können. Auch ihr erster Film „Wild on the Beach“ (1965) war ein Misserfolg, der zweite ebenfalls. Ihr dritter Film „Chastity“ (1969) scheiterte derart gewaltig, dass er Cher und ihren Gatten Sonny, der das Werk finanziert hatte, an den Rand des Ruins trieb.
Als 1983 der Trailer ihres fünften Films „Silkwood“ in den Kinos lief, soll sich das Publikum vor Lachen ausgeschüttet haben, als es Chers Namen neben Meryl Streep und Kurt Russell sah. Man muss die Zuschauer von damals verstehen. Cher als Arbeiterin in einem Kernkraftwerk, wie sollte das zusammengehen? Wie geht bei Cher überhaupt etwas zusammen? Die Musik, die Filme, das Erscheinungsbild?
Anfang der 70er hatte sie sich als Sängerin die Marktlücke erschlossen, schwungvolle Lieder über die beklagenswerte Behandlung ethnischer Minderheiten aus der Ich-Perspektive zu singen, auch wenn sie zu den Minderheiten eigentlich keine Verbindung hatte. Ihr ist zu verdanken, dass weibliche Stars auf der Bühne und roten Teppichen bis heute gerne weitgehend auf Kleidung verzichten. 1974 erschien sie zur Met Gala in einer Art Nackt-Kleid mit Federn, das laut André Leon Talley, dem verstorbenen Editor-at-Large der „Vogue“, „alles veränderte“.
Die Segnungen der plastischen Chirurgie
Ihr Stil beeinflusste Generationen von Dragqueens, die wiederum sie beeinflussten, während sie in „Die Maske“ die Mutter eines schwer deformierten Jungen spielte und dafür in Cannes als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Für „Mondsüchtig“ bekam sie 1988 einen Oscar als beste Hauptdarstellerin und trug ein Jahr später ihren Song „If I Could Turn Back the Hands of Time“ auf einem Flugzeugträger voller entfesselter Matrosen vor. Dabei nahm sie rittlings auf einem Kanonenrohr Platz und trug eine luftige Kreation, die als Vorläufer von Borats Mankini gelten darf.
Wollte man aus Chers Lebensweg eine Lehre ziehen, dann ist es wohl die Erkenntnis, dass Sinnhaftigkeit alles in allem überbewertet wird. Aus der Frage nach dem Warum macht sie ein „Warum nicht?“ Sie setzte früh auf die Segnungen der plastischen Chirurgie und legte mit zunehmendem Alter ihren Schwerpunkt auf die Gesellschaft deutlich jüngerer Männer.
Ihr aktueller Freund, Musikproduzent Alexander „AE“ Edwards, der an den Aufnahmen des neuen Albums beteiligt war, bringt es auf 40 Jahre Altersunterschied, was offenbar zur Folge hat, dass er oft nicht versteht, wovon sie eigentlich spricht. Aber wer versteht sie schon? Sie schreibt Tweets nur in Großbuchstaben und singt in der Tierschutz-Doku „Cher and the Loneliest Elephant“ einem traurigen Elefanten Frank Sinatras „My Way“ vor. Sie macht das, weil sie Cher ist und im Oktober Weihnachtsalben veröffentlichen kann.