Charles Michel: Ein Porträt

Inhaltsverzeichnis:

  1. Einführung: Ein Mann des schnellen Aufstiegs
  2. Ein Mann der Kompromisse
  3. Infografik
  4. "Monsieur Patate" oder pragmatischer Visionär?
  5. Anmerkungen

Einführung: Ein Mann des schnellen Aufstiegs

Jenseits der belgischen Grenzen und vor seiner Wahl zum Präsidenten des Europäischen Rates war Charles Michel für die europäische Öffentlichkeit kaum ein Begriff. Doch sein politischer Werdegang ist beachtlich und zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben.

Charles Michel stammt aus Namur, der Hauptstadt der belgischen Region Wallonie. Seine politische Karriere gleicht einem Höhenflug. Mit 18 Jahren zog er in den Rat der Provinz Wallonisch-Brabant, fünf Jahre später wurde er jüngster Abgeordneter in der belgischen Kammer. Im Alter von 24 Jahren wurde Michel wallonischer Innenminister, mit 32 Jahren Minister für Entwicklungszusammenarbeit in der Regierung Verhofstadt III, sowie in den Regierungen Leterme und Van Rompuy, mit 36 Jahren Chef der wallonischen Liberalen – der Partei Mouvement Réformateur (MR). Von 2006 bis 2014 war Michel auch noch Bürgermeister der Stadt Wavre – obwohl er das Amt wegen höherer Amtsverpflichtungen nicht ununterbrochen bekleidete.

Im Jahr 2014 erreichte er schließlich die Spitze der belgischen Politik und bekleidete das Amt des Ministerpräsidenten. Vor ihm stand wohl die größte Bewährungsprobe seiner politischen Karriere: Nämlich die Legislaturperiode zu überstehen und Belgien sicher durch die Gewässer eines zersplitterten politischen Systems zu führen und die politische Handlungsfähigkeit des kleinen europäischen Landes zu gewährleisten.

Charles Michel: Erneut ein Belgier an der Spitze des Europäischen Rates

Den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 folgte ein politisches Tauziehen zwischen den EU-Mitgliedstaaten über die Präsidentschaften der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates. Die Ernennung der ehemaligen deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin durch den Europäischen Rat wurde mit dem Segen Frankreichs und der taktischen Unterstützung der Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei durchgesetzt. Das Europäische Parlament sprach von der Leyen schließlich sein Vertrauen aus und wählte sie als erste Frau an der Spitze der Europäischen Kommission. Nicht unbedeutender war die Wahl des Belgiers Charles Michel zum Präsidenten des Europäischen Rates. Für viele Beobachter der europäischen Politik galt Charles Michel als der Kompromisskandidat schlechthin. Damit wurde er zum dritten Präsidenten des Europäischen Rates und zum zweiten Belgier, der für dieses Amt seit dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages im Jahr 2009 gewählt wurde.

Ein Mann der Kompromisse

Charles Michel ist kein Politiker oder Staatsmann alten Schlages und man würde gewiss nicht den Versuch wagen, ihm jene charismatische Anziehungskraft zuzuschreiben, die politischen Größen wie Willy Brand, Konrad Adenauer, John F. Kennedy oder Barack Obama gemeinhin attestiert wurden. Letztere fallen nach Max Weber in die Typologie charismatischer Führungstypen, die Kraft ihrer Gnadengabe und aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeit eine amorphe Masse in treue Gefolgschaft zu wandeln imstande sind.[1] Charles Michel dagegen gehört eher zu den Führungsfiguren, die sich durch Verhandlungsstärke und die Fähigkeit auszeichnen, nach politischen Kompromissen zu suchen und Lösungen im Sinne der Gemeinschaft durchzusetzen. Nach dem Wissenschaftler Oran R. Young (1991) würde man solche Führungspersonen etwa als entrepreneurial leader bezeichnen. Derartige Führungspersönlichkeiten zeichnen sich durch das besondere Verhandlungsgeschick aus, Themen auf eine Weise zu gestalten, die integrative Verhandlungen fördert und dabei die breite Zustimmung aller Verhandlungsparteien sichert. Entrepreneurial leaders sind nicht Protagonisten im Verhandlungsprozess, sondern nehmen aus einer institutionellen Position Einfluss darauf.[2] Kompromissfähigkeit gehört unumstritten zur Grundausrüstung eines belgischen Ministerpräsidenten, denn ohne sind die verschiedenen Interessen der politisch heterogenen Regionen Belgiens nicht mehrheitsfähig zu machen, um das Land effizient zu regieren. So konnte Charles Michel als belgischer Premier mittels Verhandlungsgeschick, Kompromissbereitschaft und Weitsicht mit seiner konfliktgeplagten Koalition aus flämischen Nationalisten (N-VA), flämischen Christdemokraten (CD&V) und flämischen Liberalen (Open VLD) bis kurz vor Ende seiner Amtszeit schwierige Reformen durchsetzen.[3]

„Monsieur patate“ oder pragmatischer Visionär?

Auch auf EU-Ebene hat sich der liberale Charles Michel als engagierter und überzeugter Europäer bereits einen Namen gemacht. In seiner Funktion als Premierminister eines vergleichsweise kleinen Landes stimmte er sich oft mit den europäischen Partnern ab und festigte sein europäisches Netzwerk. So pflegt Charles Michel unter anderem einen guten Draht zur deutschen Kanzlerin, dem französischen Präsidenten sowie dem luxemburgischen Premier und hat enge persönliche Beziehungen aufgebaut, die sich ihm bei seiner Rolle im Europäischen Rat als wertvoll erweisen werden, die europäische Agenda im Sinne eines vereinten Europas voranzutreiben. Seine Vision für die künftige Arbeit des Europäischen Rates stellte er auf dem Europäischen Rat vom 12. bis 13. Dezember 2019 vor. Sie spiegelt ein klimaneutrales, grünes, faires, soziales und selbstbewusstes Europa wider, das auch auf der Weltbühne agiert und nicht bloß Beobachter des weltpolitischen Geschehens ist. Michel ist fest davon überzeugt, dass die EU der Motor eines wiederbelebten Multilateralismus sein kann, der die großen Herausforderungen der Menschheit zu bewältigen imstande ist. Die Notwendigkeit, Europas Handlungsfähigkeit auf internationaler Bühne zu steigern, hatte Michel bereits als belgischer Ministerpräsident bei seinem Auftritt im Europäischen Parlament im Jahr 2018 beworben. Für Michel gehörten schon als belgischer Ministerpräsident der Schutz der Grundwerte, auf denen das Fundament der Europäischen Union gründet, zu seinen politischen Prioritäten. Dazu gehört insbesondere die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU. Die Regierung Michel setzte sich seit 2016 für die Einrichtung eines Peer-Review-Mechanismus für Rechtsstaatlichkeit ein. Kurz gesagt sollen sich alle Mitgliedstaaten in Sachen Rechtsstaatlichkeit gegenseitig auf Grundlage der Gleichbehandlung überprüfen. Tatsächlich wäre dies eine weiche Form der Konditionalität, die die EU-Mitgliedschaft mit einer regelmäßigen Debatte darüber verbinden würde, was es bedeutet, eine rechtsstaatliche Demokratie zu sein.

Als ständiger Präsident des Europäischen Rates hat Charles Michel nun die Möglichkeit, seinem ursprünglichen Vorschlag neues Leben einzuhauchen, indem er die deutsche Ratspräsidentschaft dazu nutzt, die Ausgestaltung eines Kontrollmechanismus zur Überwachung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit zu beeinflussen. Bereits jetzt, in der aktuellen Gesundheits- und Wirtschaftskrise, steht Michel vor der Aufgabe und der Gelegenheit, schwerwiegende Entscheidungen zu begleiten, die das Schicksal der EU noch lange bestimmen werden.

- Von Ermal Ndini,  Brüssel -

Anmerkungen

[1] Weber, Max: Politik als Beruf, München und Leipzig 1919.

[2] Young, Oran R. (1991):  Political leadership and regime formation: on the development of institutions in international society, in: International Organization, 1991, Heft 45, S. 281 – 308.

[3] Kaiser, Markus: Charles Michel - Wie der Vater, so der Sohn?, 2019, in: Friedrich Naumann Stiftung, https://www.freiheit.org/eu-charles-michel-wie-der-vater-so-der-sohn (abgerufen am 28.06.2020).