It’s never me - Warum Songs immer Literatur sind, und die Personen, die in ihnen auftreten, Fiktion. Aus Anlass von Taylor Swifts neuem Album „The Tortured Poets Department“ : literaturkritik.de

It’s never me

Warum Songs immer Literatur sind, und die Personen, die in ihnen auftreten, Fiktion. Aus Anlass von Taylor Swifts neuem Album „The Tortured Poets Department“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

In der FAZ vom 17.4.2024 („Hergeholt aus reichem Leben“, in der Wissenschaftsbeilage, Seite N3) stellt Hanna Sellheim die Inszenierungsstrategien von Sängerinnen, hier vor allem Taylor Swifts vor. Sie fokussiert dabei auf den Umstand, dass die Songs von weiblichen Singer-Songwritern einerseits von ihren Fans autobiografisch gelesen, von der Autorin aber andererseits auch als autobiografisch inszeniert würden. So sei bei Miley Cyrus‘ „Flowers“ darüber spekuliert worden, ob sie in ihm die Trennung mit einem gleichfalls populären Schauspieler verarbeitet habe. Im Falle Taylor Swifts erschienen, so Sellheim, bei einer Google-Suche, die nach autobiografischen Hintergründen frage, lauter Songs, bei denen über solche Bezüge, soll hier heißen Beziehungen und Affären der Sängerin spekuliert werde. Anzunehmen ist, dass damit nicht die philologischen Kompetenzen gemeint sind, die im Teaser zu Sellheims Text vorgeblich den Fans der Sängerin anerzogen werden sollen.

Auffallend ist jedoch, dass Sellheim aus dieser Bestandsaufnahme in beiden Fällen eine „Masche“, einen „Vermarktungstrick“ abliest, obwohl hier keine Maßnahmen der Sängerinnen oder ihrer Agenturen beschrieben werden, sondern die Fankulturen und deren Umkreis am Werk gesehen sind.

Allerdings kann konzediert werden, dass in der Popmusik die Engführung von Song und Interpret resp. Autor in das Gesamtmuster eingeschrieben ist, wie Sellheim das nahelegt. Soll heißen, Interpreten/Autoren bieten unabhängig vom Geschlecht die autobiografische Interpretation an und ihre Vermarktung basiert darauf. Die Fankultur ihrerseits setzt diese Engführung als Rezeptionsbasis voraus, sie ist für eine identifikatorische Rezeption zwingend geboten. Nur wenn das Besungene persönlich erlebt ist, ist es glaubwürdig (vulgo authentisch) und damit wert, auf das eigene Erlebnis angewendet zu werden, sich also damit zu identifizieren. Identifikatorische Lektüren setzen Authentizität der Texte voraus. Wie das bei offensichtlich fiktionalen Texten funktioniert, ist ein bisschen komplizierter, soll heißen, da greift eine Modifikation des autobiografischen Pakts, die sicherstellt, dass ich mich vielleicht mit Obi-Wan Kenobi identifizieren kann, weil ichs will.

Dass popkulturelle Größen wie Taylor Swift auf diesem Basismuster Marketingstrategien aufbauen, ist also weder verwunderlich, widersprüchlich oder gar verwerflich noch suspendiert das ihre Glaubwürdigkeit, wie Sellheim fragt. Ganz im Gegenteil, Swift muss dieses Muster bedienen, um ihren Erfolg zu begründen und zu verstetigen, da er eben nicht auf der Komplexität oder Qualität ihrer Songs beruht, sondern auf deren Identifikationspotential und damit auf deren Authentizität. Das aber unterscheidet Literatur nicht von der Popkultur, wie Sellheim an anderer Stelle anzudeuten scheint, denn auch die Popularität von Literatur basiert in großem Maße darauf, dass Text und Autor enggeführt werden.

Wenn Swift in der Tat am jetzigen Punkt ihrer Karriere, wie Sellheim meint, den Gegensatz zwischen Popkultur und Literatur in Richtung literarische Qualität aufzulösen versuchte, ginge sie ein erhebliches Risiko ein, auch wenn das Ziel sein mag, ihre Akzeptanz außerhalb des engeren Bereichs der Popkultur zu erhöhen. Der Titel des neuen Albums scheint diese Beobachtung zu bedienen.

Der Widerspruch zwischen Inszenierung und Authentizität besteht im Übrigen nur solange, wie nicht die Notwendigkeit konzediert wird, dass Texte und andere fiktionale Erzeugnisse, zu denen auch populäre Songs gehören, zwingend inszeniert sein müssen, um überhaupt entstehen und damit wahrgenommen werden zu können. Kein Text, kein Lied also ohne Inszenierung. Authentizität muss zwar so tun, als ob es keine Techniken gebe, mit denen Texte produziert werden. Dennoch gibt es sie zweifelsohne (die Rhetorik beschreibt sie beispielsweise).

Die Kritik an einer identifikatorischen Rezeption begleitet die Populärkultur schon lange, man möge sich nur an die „kleinen Ladenmädchen“ Siegfried Kracauers erinnern, die „ins Kino gehen“. Das Phänomen ist vielleicht sogar noch älter, wenn man an Thomas Manns Abweisung einer autobiografischen Lektüre der Buddenbrooks verweisen darf, publiziert 1906 unter dem Titel Bilse und ich.

Solche Verweise zeigen, dass eine identifikatorische Lektüre (also die Zurichtung jeder Form der Literatur, zu der auch Songs gehören, soweit sie Text sind) unter der Hand Texte als Schlüsselliteratur lesen muss, um sie als – wahlweise – anwendbar, akzeptabel und werthaltig (im Falle Manns freilich als verwerflich) einzustufen. Das mag mit den besonderen Bedingungen der Moderne zusammenhängen oder auch daran, dass in abstrakten und fremdbestimmten Umwelten der Mangel an konkreter Erfahrung kompensiert werden muss oder soll. Anna Seghers hat das im Aufstand der Fischer von St. Barbara mit dem Verweis auf frühere, einfachere Verhältnisse vorgeführt, in denen Auseinandersetzungen zwischen den Fischern und ihren Reedern noch direkt und unvermittelt, soll heißen mit den Fäusten ausgetragen wurden. Seitdem das nicht mehr möglich ist, muss halt was anderes her. In der Literatur heißt das (hier ein wenig kurzschlüssig), dass ich mit Geschichten, die ich lese – seien sie fiktional oder nicht –, nur dann was anfangen kann und will, wenn sie vom Autor persönlich erlebt wurden. Die Wahrheit ist – auch das eine Abwandlung – immer konkret. Erfundene Wahrheiten reichen nicht. Die Person steht für die Geschichte. Und eine vollwertige, hinreichend authentische Persönlichkeit ist heutzutage selbstreflexiv und voller Selbstzweifel, was nicht nur dem weiblichen Rollenbild entsprechen mag, sondern auch dem Subjekt generell zugeschrieben wird.

Das lässt es sogar zu, die Verhältnisse derart umzukehren, wie dies Sellheim in ihrem Artikel für die FAZ tut, indem sie schreibt, dass der Umstand, dass in den Songs die jeweiligen Männergeschichten der Sängerinnen vermutet würden, eigentlich dazu führen muss, ihnen die Autorschaft an der Geschichte zuzuschreiben. So gesehen seien „Männer“, so Sellheim, die „geheimen Autoren der Lieder“ von Frauen. So eingekürzt ist das zweifellos „im Kern misogyn“, etwas abstrakter aber heißt das, dass die Verhältnisse die Geschichten schreiben, nicht die Autoren (welcherlei Geschlechts auch immer).

Dem gegenüber behauptet Sellheim eben nicht nur die Autorhoheit Taylor Swifts (gegen die „geheime“ ihrer Männer), sondern auch die Literarizität ihrer Songs und damit deren Fiktionalität. Sellheim nimmt also zwei, im übrigen rhetorische Operationen vor, sie betont die Autorschaft Swifts und hebt den literarischen Charakter ihrer Songs hervor.

Die Separierung der popkulturellen Songs von Literatur scheint demgegenüber aber eher eine willkürliche Operation zu sein, die nicht zuletzt auf der Dichotomie und U- und E-Kultur fußt. Selbst wenn man dem folgen würde, wäre damit dem Popsong das Literarische aber nicht auszutreiben, mit anderen Worten: Popsongs sind immer auch Literatur (und dafür muss noch nicht einmal die übliche Überlappung von Lyrik und Lied herangezogen werden) und sie sind immer fiktional, selbst wenn sie „nur“ ein persönliches Erlebnis präsentieren würden.

Damit aber werden alle Stimmen und Personen, die in ihnen auftreten, als literarische Funktionen bestimmt, die nach mehr oder weniger komplexen Mustern miteinander verbunden werden. Ob sich solche Texte samt Musikanteil dann von selbst schreiben oder Autoren zugewiesen werden, bleibt dem Geschmack oder der literarturtheoretischen Position vorbehalten. Sellheim würde allem Anschein nach für einen eher konventionellen Zugriff optieren, für die Autorin als Ursprung aller Songs, die sich viele Rechte selbst zuschreiben kann. Nur so kann sie sich auch als vollständiges, selbstreflexives Subjekt ermächtigen.

Was erneut zu Sellheims Text führt, in dem, nachdem sie die zahlreichen Manöver vorgeführt hat, die Swift in ihren Arbeiten ausführt, um ihren fiktionalen Charakter zu behaupten, die Sängerin auf einmal – im Song „The last great american dynasty“ – doch wieder höchstpersönlich auftreten lässt: Mit dem Hinweis, dass das Haus, dessen Geschichte sie im Song schildere, schließlich von ihr selbst gekauft worden sei („was bought by me“) melde sie sich nach langen fiktionalen Skizzen zu Wort und zeige sich „somit als vergleichbare Störfigur innerhalb amerikanischer Traditionen“ wie eine gewissen Rebekah Harkness, die die Vorlage für eine der beiden Hauptfiguren des Songs gewesen sei.

Nun mag man an dem Nachweis der Komplexität und auch Fiktionalität der Songs einen Hinweis darauf sehen, dass Taylor Swift nicht zu Unrecht eine so große Popularität genießt. Was sie macht, ist also gut gemacht, was auch in der Populärkultur hoch zu schätzen ist. Allerdings ist Sellheim an dieser Stelle nun doch zu widersprechen, denn was immer auch in diesen Songs geschieht, Taylor Swift taucht als Person darin nie und nimmer auf, bestenfalls als „persona“, mithin als inszenierte Persönlichkeit, die innerhalb des literarischen Gefüges dieses Songs (oder dieser Songs) eine spezifische, allerdings immer inszenierte Rolle einnehmen soll. Das „Ich“ der Person ist immer ein anderes als das der „persona“.

PS: Über die Musik Taylor Swifts ist damit nichts gesagt.

PPS: Erst recht nicht über das neue Album.