Ex-Präsident: Zum Tode von Richard von Weizsäcker - WELT
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Deutschland Von Weizsäcker, †94

Der augenzwinkernde König der Bonner Republik

Richard von Weizsäcker 2005 in seinem Berliner Büro. Er gab den Deutschen, wonach sie sich sehnten – eine republikanische Heimat, mit ein bisschen augenzwinkerndem Monarchiegefühl dazu Richard von Weizsäcker 2005 in seinem Berliner Büro. Er gab den Deutschen, wonach sie sich sehnten – eine republikanische Heimat, mit ein bisschen augenzwinkerndem Monarchiegefühl dazu
Richard von Weizsäcker 2005 in seinem Berliner Büro. Er gab den Deutschen, wonach sie sich sehnten – eine republikanische Heimat, mit ein bisschen augenzwinkerndem Monarchiegefühl ...dazu
Quelle: picture alliance / dpa
Richard von Weizsäcker war humorvoll und ernst, herrisch und schüchtern zugleich. Der beliebte Präsident zeigte: Aristokratisches Auftreten, Gedankentiefe und Freiheit passen in Deutschland zusammen.

Bei einem Geburtstagsempfang in Berlin trat Richard von Weizsäcker an das Ende einer längeren Wartereihe der Gratulanten. Er war damals schon über 90, ging am Stock und wurde natürlich sofort gebeten, bitte vorzugehen, einen betagten früheren Bundespräsidenten lässt man doch nicht warten. Weizsäcker zierte sich. Mit leiser, kaum hörbarer Stimme bat er darum, an seinem Platz bleiben zu dürfen; seine Lippen bekamen einen scheuen, verlegenen Zug.

Es war ein kennzeichnender Augenblick für das neben Theodor Heuss und Gustav Heinemann bislang bedeutendste, fraglos aber berühmteste Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland. Richard von Weizsäckers Zurückzucken in der Warteschlange war ein Hinweis darauf, warum er zu der Statur gefunden hat, als die ihn eine ganze Generation Deutscher in Erinnerung behalten wird: Eigentlich, man glaubt es kaum, war er ein schüchterner Mensch.

Die instinktive Anwandlung, sich kleinmachen zu wollen, kam für ihn in solchen Augenblicken womöglich genauso überraschend wie für die Umstehenden. Weizsäcker hatte 1937 in Oxford studiert, war sechs Jahre lang Soldat und arbeitete nach dem Krieg erst als Stahl- und Pharma-Manager, dann als Bankier. Von 1964 bis 1970 und 1979 bis 1981 war er Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Weizsäcker gehörte zwölf Jahre lang dem Bundestag an, war von 1981 bis 1983 Regierender Bürgermeister West-Berlins und vom 1. Juli 1984 bis Ende Juni 1994 Bundespräsident. Ein solcher Mann hat doch Selbstbewusstsein!

Selbstbewusst war er ja auch, jedenfalls nach außen; er konnte auf andere sogar beinahe herrisch wirken. Er war in vielen Stunden auch vergnügt, ja lustig, ganz im Gegensatz zum Eindruck, den nicht wenige von ihm als einem ernsten, stolzen Mann hatten. Das war er zwar ebenfalls. Aber sein Humor war ihm wichtig. Ihm machte es diebischen Spaß, die oh so bedeutsame Politik oder die oh so unsinnigen Alltagszufälle mit einer verschmitzten Bemerkung zu bedenken.

In einer wichtigen Rede brachte er einmal einen humorvollen deutschen Begriff unter, der mit dem Thema der Ansprache nichts zu tun hatte. Er hatte im Familienkreis gewettet, dass er es schaffen würde, das Wort auf eine Weise in die Rede einzubauen, dass kein Zuhörer verwundert aufmerken würde. Als er das Wort aussprach, zwinkerte er in die Fernsehkameras. Das Zwinkern galt seiner Familie.

Seine Familie bedeutete ihm, dem überzeugten Nichtberufspolitiker, zeitlebens alles. Nie hätte er einen Karriereschritt um den Preis angestrebt, seine Frau und seine Kinder hinter sich zu lassen, statt sie hinter sich zu wissen.

Schneeballschlacht mit Richard von Weizsäcker
24. November 1988: Weizsäcker nutzt den Schnee im bulgarischen Badeort Varna am letzten Tag seines Staatsbesuchs, um sich mit den Journalisten eine Schneeballschlacht zu liefern
Quelle: pa/Martin Atehns/dpa

Er war aber eben zu einem Gutteil auch schüchtern. Nicht im Sinne von gehemmt oder verklemmt. Sondern im Sinne von: sensibel, intuitiv begabt, innerlich bescheiden mit einem Sinn für die Entfaltungschancen anderer; und in manchen Minuten grundeinsam. Ohne solche Empfindungsfähigkeit und Selbstrelativierung bei aller Auftrittssicherheit wäre seine enorme Wirkung als Bundespräsident gar nicht zustande gekommen.

Verlust des Bruders war besonders prägend

Richard von Weizsäcker spürte die Stimmungslage der Bundesrepublik, keineswegs beschränkt auf das Segment, das „großbürgerlich“ genannt wird. Er spürte zeitlebens auch die Prägung seiner Eltern und älteren Geschwister – des so introvertiert wie energisch wirkenden Vaters Ernst, eines früheren Offiziers der Kaiserlichen Marine; dann der stattlichen Mutter Marianne sowie der älteren Schwester Adelheid und der beiden älteren Brüder Carl-Friedrich und Heinrich.

Aristokrat und „Präsident aller Bürger“

Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist tot. Er starb am Samstag im Alter von 94 Jahren in Berlin. Er war einer der prägenden Politiker der deutschen Nachkriegszeit.

Quelle: N24

Die Familie war sein mit Deutschland verwobenes Schicksal. Der Soldatentod seines nächstälteren Bruders Heinrich keinen Kilometer von ihm entfernt, nur Stunden nach Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939, hat Richard von Weizsäckers Leben auf immer verändert. Heinrich sei der begabteste Spross gewesen, hieß es; die Erinnerung an die Totenwache im Felde hat den Familienjüngsten nie mehr verlassen. Heinrich war sein Bindeglied zu den älteren Geschwistern.

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Als Diplomatensohn hatte der junge Richard wegen häufiger Umzüge – Stuttgart, Kopenhagen, Oslo, Bern, Berlin – kaum echte Jugendfreunde gewonnen. Von seinem Geburtsjahrgang 1920 überlebten nicht viele den Krieg. Heinrich fehlte nun für immer; ähnlich einschneidend für den späteren Bundespräsidenten war auf andere Weise nur der Tod des Sohnes Andreas Jahrzehnte später.

Der Vater ist bis heute hoch umstritten

Zu dieser Konstellation trat die Verwicklung der Familie in das NS-Regime. Richard von Weizsäcker war neben seinem Amts-Vorvorgänger Walter Scheel und Bundeskanzler Helmut Schmidt der letzte Politiker, der noch wusste, wie sich Hitlers Machtübernahme 1933 im unmittelbaren Erleben anfühlte. Anders als Scheel und Schmidt aber hatte Weizsäcker intimen Einblick in Hitlers Politik – erst durch die Lektüre unzensierter Zeitungen während der Schulzeit in Bern und des Studienjahres in Oxford, dann durch seinen Vater.

Ernst von Weizsäcker war Staatssekretär im Auswärtigen Amt und danach Botschafter beim Vatikan. Bis heute reißt die Debatte darüber nicht ab, ob der Vater die ganze Dimension des Massenmords an den Juden gekannt habe und wie eng er führenden Nazis zur Hand gegangen sei. Ähnliches gilt für die Frage, welche Rolle der ältere Bruder, der Atomphysiker Carl-Friedrich, in der NS-Rüstung spielte.

Der Wunsch, in einer Institution nach oben zu kommen, die Karrieren zulässt, ist immer eine Zier
Richard von Weizsäcker, Ex-Bundespräsident

In einer Runde sagte Richard von Weizsäcker einmal: „Der Wunsch, in einer Institution nach oben zu kommen, die Karrieren zulässt, ist immer eine Zier.“ Sein melodischer Bariton schien dabei ins Apodiktische zu gleiten. Aber er bezog den Satz spürbar nicht etwa auf sich, jedenfalls längst nicht nur auf sich. Er war gefragt worden, ob ein unbedingtes Nach-oben-kommen-Wollen als solches verwerflich sei; die Leistungs- und Karriereskepsis einer „postmodernen Gesellschaft“ war in dem Kreis ebenso angeklungen wie die Frage, welchen moralischen Preis persönliche Leistungsbereitschaft haben dürfe. Nein, der Karrierewunsch als solcher ist keineswegs verwerflich, befand Weizsäcker. Nicht in einer Demokratie.

Eine solche Haltung gehört zu einem Leben, in dem Weizsäcker wie etliche andere lernen musste, wie viele moralische Fallen es auf einem solchen Weg geben kann. Und wie viel Selbstüberwindung und Mut zur Wahrheit nötig sind, um vor anderen und vor allem vor sich selbst zu bestehen.

Richard von Weizsäcker kam durch militärische Kameradschaft in engen Kontakt mit dem Widerstand. Axel von dem Bussche, der in Russland durch Zufall Massenerschießungen sah und der sich bei einer Uniformvorführung 1943 mit Hitler in die Luft hatte sprengen wollen, wurde einer seiner engsten Freunde. Anfang der 90er-Jahre zog Bussche als Witwer nach Bad Godesberg, um Weizsäcker nahe zu sein. Seine große Gestalt fiel in der Neubausiedlung auf, vor allem aber sein Habitus, besonders in Gesellschaft Jüngerer. Es war in seinem Gesicht ein inneres Leuchten, ein in sich ruhendes, lebensgesättigtes Wissen darum, auf der richtigen Seite gestanden zu haben, als es wirklich darauf ankam, das Richtige zu tun. Bussche, der Ritterkreuzträger im Widerstand, wollte kein Vorbild sein, er war das Gegenteil eines Menschen, der sich anderen aufdrängt; aber wenn es nötig war, konnte er Vorbild sein.

Von Weizsäcker stellte Fragen, die die Antwort in sich trugen

Richard von Weizsäcker, der die Nazis von Anfang an skeptisch betrachtet hatte, wirkte anders. In ihm schienen auch zerfahrenes Grübeln, Melancholie, der Anflug zorniger Verstörtheit zu Hause zu sein, er hatte in seinem Auftreten etwas Faustisches. Er wusste offenbar, was die vergebliche Suche nach Ruhe nicht vor, sondern nach einem Sturm bedeutet – nämlich dass es Seelenfrieden niemals mehr geben kann. Es ist vorstellbar, dass Richard von Weizsäcker sich heimlich nach der inneren Eindeutigkeit sehnte, die Axel von dem Bussche am Lebensabend auszustrahlen schien. Aber gerade das Selbstquälerische, das hinter Weizsäckers sportlicher, großbürgerlicher Eleganz und seiner kantigen Entschlossenheit aufschien, war sein größtes Kapital.

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Ihm ging die Leutseligkeit ab, die andere ernsthafte Sucher wie Johannes Rau etwas zu stark in den Vordergrund stellten, weil sich so zu verhalten scheinbar dem Zeitgeist entsprach. Der Zeitgeist war in Wahrheit aber gar nicht auf solche demonstrative Jovialität erpicht. Mit Blick auf die Nazizeit spürten die Deutschen immer noch Wolfgang Borcherts Frage im Nacken: „Gibt denn keiner, keiner Antwort?“ Der bunte Frohsinn der 70er-Jahre war auch eine Flucht, und allzu volksnah auftretende Politiker verloren die Fähigkeit, im Ernstfall wirklich Zuflucht zu sein. (Rau merkte in seinen ersten tristen Monaten als Bundespräsident 1999, was das bedeutete.) Weizsäcker fehlte auch die schneidige Gewissheit Helmut Schmidts, der selber im tiefsten Herzen ein musisch Schüchterner war.

Der Bundespräsident konnte sehr nachdrücklich, ja scharf befehlen. Vor allem aber besaß er eine andere, seltene Fähigkeit – Fragen zu stellen, die die Antwort schon behutsam unausgesprochen in sich trugen; und Antworten zu geben, die in Wahrheit hilfreiche, weil unaufdringlich mitfühlende Fragen waren. Er weckte Vertrauen darin, dass es ihm nicht um sich selber ging, wenn er ein Amt anstrebte. Mit dieser Persönlichkeit eroberte er 1981 West-Berlin für die CDU und befriedete die latent depressive ehemalige Frontstadt, die er seit der Abiturientenzeit auch als seine Heimat empfand. Mit seinem faustischen Unterton traf er den Seelenzustand der Republik. „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“, sagte er zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 im Bundestag. Das hatte so klar noch kein Bundespräsident gesagt. Weizsäcker sprach zugleich eindringlich über die vielen Facetten von Schuld, Verführung, Trauer und Mitgerissen-Werden der zwölf NS-Jahre; er sprach als jemand, der alle Gefühlsseiten kannte.

Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge
Richard von Weizsäcker, Ex-Bundespräsident

Das ist auch kaum verwunderlich. Wenn ein so sensibler Mann wie Weizsäcker die historische Last und Erbschaft Hitlers betrachtete, die ohne sein Zutun in vielen Facetten auch mit der Familie verknüpft war, wenn er der Frage nachging, ob sich jemals ein gemeinsamer Nenner für das Gesamtgeschehen finden lassen könnte oder überhaupt finden lassen dürfe – dann gab und gibt es keine abschließende Antwort. Gerade weil der Bundespräsident das spürte, fand er zum 40. Jahrestag des Kriegsendes die richtigen Worte für ein noch immer traumatisiertes Land.

„Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge“ – das war ein väterlich fürsorglicher, in der Sache klarer Schlusssatz, der Millionen Menschen auch deshalb berührte, weil er kein Schlussstrich war. Der Redner hatte ja selber erkennbar mit sich gerungen und würde immer weiter um eine Antwort ringen, so wie die allermeisten Deutschen, die diese Zeit erlebt hatten. Das Suchende in Weizsäckers Wesen, die Politikbegründung aus dem konstruktiven Selbstzweifel war schon bei Willy Brandt spürbar. Weizsäcker rundete die Erfahrung ab, dass Politik tatsächlich mehr bieten kann als die dröge Herkömmlichkeit von Parteitagszeremoniellen und einer manchmal nervenzermürbenden rhetorischen Selbsterhebung durchschnittlicher Amtsinhaber in den Stand von leicht erregbaren, rasch empörten Unfehlbaren.

8. Mai 1985: Richard von Weizsäcker hält seine berühmte Rede im Bonner Bundestag
8. Mai 1985: Richard von Weizsäcker hält seine berühmte Rede im Bonner Bundestag
Quelle: dpa

Es hat natürlich Menschen gegeben, die dem sechsten Präsidenten der Bundesrepublik Predigertum, Opportunismus oder aristokratische Unduldsamkeit vorwarfen. Am bösartigsten, weil mit einem Körnchen Wahrheit versehen und doch ins Lügenhafte verdreht, war der Satz eines Rechtsradikalen, Weizsäcker bewältige nicht sein Vaterland, sondern nur seinen Vater.

Ernst von Weizsäcker spielte in allem Grübeln und Streben des Sohnes sicherlich eine Rolle, aber nicht als Privatvorhaben. Millionen haben zwischen 1914 und Weizsäckers Rede von 1985 ihre Väter bewältigen müssen, allerdings in einem ganz anderen Sinn als dem widerlichen Anwurf. Die deutsche Geschichte war seit Napoleon durchweg auch eine Geschichte glühend idealistischer und dann gescheiterter Väter, seien es die Freiheitskämpfer von 1813, die Republikaner von 1848, die Reichseiniger von 1871 oder die Kriegsbegeisterten von 1914 gewesen, die Demokraten und Künstler und Wagnerianer des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, die HJ- und BDM-Mitglieder, die SED-Kommunisten der frühen und der letzten Stunde, viele Konservative der Bundesrepublik, viele 68er.

Eine Generation gescheiterter Idealisten und Opportunisten

Es gab unzählige gescheiterte Idealisten und Opportunisten. Zu spüren, wie schwer das ist, im Rückblick nicht nur gescheitert, sondern im Urteil der Nachwelt wegen Hitler sogar zum Verbrecher, zum Mittäter, Gehilfen, bestenfalls zum Unfallflüchtigen der Geschichte oder zum Pogrom-Zaungast wider Willen geworden zu sein – das war ein wesentlicher Teil des deutschen Gefühls nach 1945. Willy Brandt und Richard von Weizsäcker verkörpern solche Selbstbefragung. Weizsäcker hat Brandts stummem Warschauer Kniefall die angemessenen Worte zur Seite gestellt.

Vier Jahre nach seiner Rede spürte er dann ziemlich schmerzhaft die eigenen Grenzen. Im November 1989 war es plötzlich Helmut Kohl, der die Bühne beherrschte. Und es war Willy Brandt, der die wortlose Begeisterung des 9. November in den Satz goss, nun wachse zusammen, was zusammengehöre. Richard von Weizsäcker äußerte sich ebenfalls, aber im Sinne der Geschichtsschreibung blieb er stumm. Nicht einer seiner Sätze hatte die Wucht der Rede zum Kriegsende.

Das war kein Zufall. Der frühe Anhänger einer Verständigungspolitik mit den Ostblockstaaten hatte sich tiefer als viele andere mit der möglichen historischen Logik der Nachkriegsordnung von Jalta auseinandergesetzt. Als Bundespräsident griff er bis ins Mittelalter zurück, um darüber nachzudenken, ob die nationalstaatliche Einheit die einzige naturgegebene Existenzform der deutschen Nation sei.

Sogar das Hochdeutsche, sagte er einmal in einem Zuhörerkreis, sei doch in Wahrheit nur die sächsische Kanzleisprache gewesen, in Wirklichkeit seien doch die Dialekte die deutschen Sprachen. Das alles war keine Absage an die Nation. Richard von Weizsäcker war Patriot, und jede andere Bezeichnung hätte er sich verbeten. Solches Nachdenken war aber ein Indiz dafür, dass Weizsäcker damit rang, als Bundespräsident die Staatsräson einer westdeutschen Bundesrepublik zu definieren, die auf das Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz verzichten würde.

Von Weizsäcker, der Versöhner nach innen

Er war auf diesem Weg durchaus kein einsamer Denker. Wenn Brandt die Nachkriegsversöhnung der Bundesrepublik nach außen verkörperte, dann war Weizsäcker der Versöhner nach innen, der Orator einer westdeutschen Gesellschaft, die Mitte der 80er-Jahre willens war, ein neues deutsches Kapitel aufzuschlagen. Mit Weizsäcker, mit Steffi Graf und Boris Becker, mit dem enormen Eindruck der Rede zum 8. Mai und den anschließenden Erfolgen bei dem prestigeträchtigsten Sportturnier der westlichen Welt, dem Tennisturnier von Wimbledon, schien die Bundesrepublik bei sich anzukommen.

14. Mai 1988: Weizsäcker verleiht den Tennis-Spielerinnen Steffi Graf (l.) und Claudia Kohde-Kilsch in Berlin anlässlich der Deutschen Meisterschaften das Silberne Lorbeerblatt
14. Mai 1988: Weizsäcker verleiht den Tennis-Spielerinnen Steffi Graf (l.) und Claudia Kohde-Kilsch in Berlin anlässlich der Deutschen Meisterschaften das Silberne Lorbeerblatt
Quelle: picture-alliance / dpa

Zugleich sah es wegen Michail Gorbatschow so aus, als sei die Humanisierung des Ostblocks nur noch eine Frage der Zeit. Die Bonner Republik war im Begriff, sich unter dem Stichwort „Verfassungspatriotismus“ noch einmal neu zu erfinden. Die Wiedervereinigungsrhetorik der ersten Jahrzehnte wirkte auf viele Westdeutsche nun wie eine antiquierte Mitgift am Ende eines Irrweges, der 1871 begonnen hatte. Das Wiedervereinigungsgebot sah sogar gefährlich für ein Europa aus, in dem dank Gorbatschow plötzlich eine Ordnung von Jalta mit menschlichem Antlitz und die Abschaffung der Atomwaffenarsenale möglich schienen.

Die Frage, ob in einer solchen politischen Großwetterlage die Verweigerung der vollen DDR-Anerkennung durch Bonn womöglich das einzige Hindernis auf dem Weg zum stabilen Frieden werden könnte, begann mit Gorbatschows Amtsantritt ab 1985 an Gewicht zu gewinnen. Eine Isolierung Bonns in dieser Frage wirkte so absehbar wie riskant. Auch immer mehr Politiker in der CDU/CSU wollten nun, dass die Bundesrepublik sich nicht länger mehr als provisorischer Rumpfstaat verstand, sondern als eigenständiges, völlig neues Völkerrechtssubjekt. Richard von Weizsäcker war das bewusst, und er begab sich auf die Suche nach Antworten.

Die europäische Revolution von 1989 machte die Suche obsolet. Bei der Feier des 60. Geburtstags Helmut Kohls im April 1990 in der Bonner Beethovenhalle wirkte der Bundespräsident still, ja beinahe kaltgestellt. Seine suchenden Zweifel waren nicht mehr gefragt. Gefragt waren jetzt Antworten auf den Zusammenbruch der Nachkriegsordnung, deren Sinnstifter Weizsäcker beinahe geworden wäre. Antworten hatte niemand unter den tausend Gästen. Außer Helmut Kohl.

9. Januar 1989: Helmut Kohl (l.) und Richard von Weizsäcker beim Neujahrsempfang in der Bonner Villa Hammerschmidt. In der Mitte: die Frau des Präsidenten, Marianne von Weizsäcker
9. Januar 1989: Helmut Kohl (l.) und Richard von Weizsäcker beim Neujahrsempfang in der Bonner Villa Hammerschmidt. In der Mitte: die Frau des Präsidenten, Marianne von Weizsäcker
Quelle: picture alliance / dpa

Richard von Weizsäcker hat sich erst drei Jahre später wieder mit kritischen Äußerungen über die Machtversessenheit und Machtvergessenheit deutscher Parteien in Erinnerung gebracht. Die Kritik von 1992 machte ihn noch einmal populär, allerdings nicht bei den Kohl-Anhängern. Deren Unbehagen an Weizsäckers Überparteilichkeit schlug in unverhüllte Verächtlichkeit um. In den Augen der Kohl-Anhänger hatte nur die Kohäsionskraft der demokratischen Parteien die Bundesrepublik erst durch eine Gründerkrise gebracht, dann durch den Kalten Krieg und schließlich durch den Zusammenbruch des Ostblocks.

Sich mithilfe der CDU zum Bundespräsidenten zu machen und die Partei dann in die Tonne zu treten – das haben viele in der CDU ihm lange nicht verziehen, weniger wegen des Inhalts der Kritik als wegen des Zeitpunkts. Weizsäckers Amtszeit sollte 1994 enden. Dies war also nun sein Abschiedsgruß an die Partei, die ihm gewährt hatte, was er politisch hatte werden wollen – ein Fußtritt mitten hinein in die schlimme Wiedervereinigungskrise, als im Osten die Wirtschaft und das Vertrauen kollabierten, und mitten hinein in den beginnenden Balkankonflikt, als mit Jugoslawien die neue Friedensordnung schon im Geburtsstadium zu scheitern schien.

Er war „weder Dichter noch Denker“

Das aber war die Sichtweise der „Kohlianer“; andere sahen es anders. Ohne Weizsäckers Offenheit und Kritikwilligkeit, ohne seine Bereitschaft, unter Wahrung der bürgerlichen Formen manche bürgerlichen Axiome auf den Prüfstand zu stellen – ohne alles dies wären zum Beispiel die Grünen nicht so rasch in der Bundesregierung heimisch geworden. Weizsäcker versöhnte die Totalopposition mit dem Staat. In seine zweite Amtszeit wurde er im Mai 1989 ohne Gegenkandidaten gewählt. Vorher und seither hat es das nicht noch einmal gegeben.

Richard von Weizsäcker hat gezeigt, dass aristokratische Auftrittssicherheit und alternative Lebensentwürfe gleichberechtigt der Staatsidee eines Deutschlands entsprechen, das allen gehört und nicht nur wenigen. Sein Silberscheitel war nicht preußisch und nicht reaktionär, sondern schlicht und einfach ein Symbol dafür, dass Ordnung und Menschennähe, Prinzipien und Mitgefühl, Autorität und Offenheit in der Bundesrepublik keine Gegensätze sind.

„Ich bin weder Dichter noch Denker“, sagte er in London bei einem Staatsbesuch 1986. Aber die Deutschen sahen ihn so. Richard von Weizsäcker war ein Johann Wolfgang von Goethe der Tat. Er hat den Deutschen gegeben, wonach sie sich sehnten – eine republikanische Heimat, mit ein bisschen augenzwinkerndem Monarchiegefühl dazu.

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