Willy Brandts Rücktritt: Die Rätsel der Guillaume-Affäre

Willy Brandts Rücktritt: Die Rätsel der Guillaume-Affäre

Günter Guillaumes Verhaftung als Stasiagent am 24. April 1974 führte zum Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt. Der Fall wirft noch immer Fragen auf.

In den Rücken gefallen: Bundeskanzler Willy Brandt besucht am 8. April 1974 eine Veranstaltung in Helmstedt. Zu dieser Zeit weiß er, dass sein persönlicher Referent Günter Guillaume, hier mit Sonnenbrille, der Spionage für die DDR verdächtigt wird.
In den Rücken gefallen: Bundeskanzler Willy Brandt besucht am 8. April 1974 eine Veranstaltung in Helmstedt. Zu dieser Zeit weiß er, dass sein persönlicher Referent Günter Guillaume, hier mit Sonnenbrille, der Spionage für die DDR verdächtigt wird.Rust/IMAGO

Am Morgen des 24. April 1974 kommt im beschaulichen Villenviertel von Bad Godesberg in Bonn ein politischer Tsunami ins Rollen. Auf dem Bürgersteig vor dem unscheinbaren dreigeschossigen Wohnhaus Ubierstraße 107 unweit des Rheins parken fünf Blaulicht werfende Polizeifahrzeuge, anbei stehen zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite finden sich Schaulustige ein.

Es ist 6.32 Uhr, als vier Beamte der „Sicherungsgruppe Bonn“ an der Wohnungstür im ersten Stock rechts klingeln. Kurz darauf öffnet ein Mann im Bademantel die Tür. Einer der Beamten fragt: „Sind Sie Herr Günter Guillaume?“ Und sagt, ohne eine Antwort abzuwarten: „Wir haben einen Haftbefehl des Generalbundesanwalts.“ Schon drängen die unerwarteten Besucher den verdutzten Günter Guillaume, 47, rückwärts in den Flur.

Während die Beamten damit beginnen, die Wohnung auf den Kopf zu stellen – sie durchwühlen Wäsche, demontieren Schränke, zerteilen Seife mit einem Messer, drücken Zahnpasta aus der Tube –, versuchen Günter Guillaume und seine Frau Christel, 46, ihren aus dem Schlaf geschreckten Sohn Pierre, 17, zu beruhigen: Alles werde gut.

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Es wäre vielleicht alles gut geworden, hätte sich Günter Guillaume nicht zu dieser überlieferten Äußerung hinreißen lassen: „Ich bin Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit! Ich bitte, meine Offiziersehre zu respektieren!“ Dieses Geständnis, abgegeben aus Stolz auf seinen Rang als Hauptmann der NVA und seinen Dienst als Mitarbeiter des MfS oder aus Sorge um seinen Sohn, wird zum Grundstein der Anklage gegen ihn.

Dass seine (Guillaumes) Entlarvung das Ende meiner Kanzlerschaft bedeuten würde, ich wusste es nicht und ahnte es nicht einmal.

Willy Brandt

Um die Mittagszeit desselben Mittwochs landet auf dem Airport Köln/Bonn das Regierungsflugzeug mit Bundeskanzler Willy Brandt an Bord. Auf den Kanzler, der aus Kairo kommt, warten Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher und Staatssekretär Horst Grabert, der Chef des Bundeskanzleramtes. Beide überbringen Brandt die Nachricht: Sein persönlicher Referent Günter Guillaume ist unter dem dringenden Verdacht der Spionage für die DDR verhaftet worden – und mit ihm seine Frau.

„Die Nachricht war ein Hammer“, schreibt Brandt in seinen 1989 veröffentlichten Erinnerungen, „wenn auch nicht einer, der mich hätte betäuben können.“ Dass aber die Entlarvung Guillaumes das Ende seiner Kanzlerschaft bedeuten würde, „ich wusste es nicht und ahnte es nicht einmal.“  

In der Geschichte der BRD gilt die „Guillaume-Affäre“ als einer der größten Spionagefälle. Zu den Akteuren gehören: ein überschätzter Topagent; überforderte, fahrlässige und unfähige Sicherheitsleute, Beamte und Politiker; ein naiver Bundeskanzler und intrigante Parteigenossen.

Der Reihe nach.

Auf Tuchfühlung mit dem Bundeskanzler. Willy Brandt spricht am 4. November 1972 bei einer Wahlkampfreise im Speisewagen seines Sonderzugs mit Journalisten. Seit kurzem ist Günter Guillaume, der Mann im Vordergrund, sein persönlicher Referent.
Auf Tuchfühlung mit dem Bundeskanzler. Willy Brandt spricht am 4. November 1972 bei einer Wahlkampfreise im Speisewagen seines Sonderzugs mit Journalisten. Seit kurzem ist Günter Guillaume, der Mann im Vordergrund, sein persönlicher Referent.Sven Simon/IMAGO

Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR wirbt Günter und Christel Guillaume Anfang der 1950er-Jahre an. Als „Kundschafter des Friedens“ soll das Ehepaar in der BRD spionieren. Sein Auftrag: „Integration und Aufklärung der SPD“. Die zum MfS gehörende Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) – der zivile Auslandsgeheimdienst der DDR – führt ihn unter dem Decknamen „Hansen“, sie als „Heinze“.   

Für die Guillaumes wird es 1956 ernst. Beide siedeln in die Bundesrepublik über, zusammen mit 279.187 DDR-Bürgern, von denen viele unter dem Eindruck des niedergeschlagenen Volksaufstandes in Ungarn ihrer Heimat den Rücken kehren. Im Gepäck hat das Ehepaar mehrere Tausend D-Mark Startkapital von der Staatssicherheit. Es zieht nach Frankfurt am Main, wo Christels Mutter Erna Boom wohnt. Dort betreiben sie einen Laden, in dem sie Kaffee und Tabak sowie Spirituosen verkaufen, das „Boom am Dom“.

Die Guillaumes treten 1957 in die SPD ein. Günter Guillaume versucht, sich im konservativen Flügel der Partei zu profilieren, kommt aber nur langsam voran. Erst ist er Geschäftsführer des SPD-Unterbezirks in Frankfurt, ab 1968 der SPD-Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung; im selben Jahr wird er in die Stadtverordnetenversammlung gewählt.

War Christel Guillaume besser als ihr Mann?

Für Christel Guillaume dagegen läuft es einwandfrei: Sie wird Büroleiterin des SPD-Politikers Willi Birkelbach, bis 1964 Mitglied des Bundestages und des Europäischen Parlaments, danach und bis 1969 als Staatssekretär Chef der Staatskanzlei des Landes Hessen. Über ihren Schreibtisch – und von dort nach Ost-Berlin – gehen gewichtige Schriftstücke: von innerparteilichen Strategiepapieren bis zu geheimen Nato-Dokumenten.

Es wurmt Christel Guillaume, dass sie, die so erfolgreich kundschaftet, ihrem Mann untergeordnet ist. Darauf verweist der Historiker Eckard Michels in seinem Buch „Guillaume, der Spion“, das 2013 erschien. Sie beschwert sich bei ihrem Führungsoffizier in Ost-Berlin, versucht sogar zu erreichen, dass sie die Vorgesetzte ihres Mannes wird. Vergeblich. Sie bleibt „Günters Frau“.

In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre boten die Guillaumes der HVA nicht mehr viel. Ihre Berichte wurden 1989/90 vernichtet, aber die Verzeichnisse über die Zahl der Aktenbände blieben erhalten. Aus ihnen ergibt sich, dass bis 1966 zu Günter und Christel Guillaume je 16 Bände angelegt worden waren, in den Jahren bis 1970 aber zu ihm nur zwei weitere und zu ihr kein einziger mehr. Zog sie sich aus Enttäuschung gegenüber dem MfS zurück? Oder aus Pflichtgefühl, sprich: um ihrem Mann den Rücken freizuhalten?

Der Aufstieg Günter Guillaumes beginnt im Bundestagswahlkampf 1969. Dank Guillaumes Organisationstalent bekommt Bundesverkehrsminister Georg Leber in seinem Frankfurter Wahlkreis sehr viele Erststimmen. Leber vermittelt Guillaume als Referent in die Abteilung Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik des Bundeskanzleramtes. Dort ist er für die Kontakte zu Gewerkschaften und Parteien zuständig.

Eigentlich sollte Guillaume nach der Bundestagswahl – in deren Folge bildete sich erstmals auf Bundesebene eine sozialliberale Koalition mit Willy Brandt als Bundeskanzler – Pressereferent im Verkehrsministerium werden. Es fehlte ihm dazu aber die Qualifikation für den höheren Verwaltungsdienst.

Dass Bundeskanzleramtschef Horst Ehmke Guillaume auf Vermittlung Lebers einstellte, hatte nach Ansicht des Historikers Eckard Michels einen einfachen Grund: Es sei hauptsächlich darum gegangen, „einen Genossen als Belohnung für seinen Einsatz so zu versorgen, dass er auch bei mangelnder Qualifikation nicht zu viel Schaden anrichten konnte“.

Die Brisanz der Guillaume-Affäre besteht darin, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) Günter Guillaume schon früh als potenziellen Agenten verdächtigt hatte, Folgen aber ausblieben. Ein Mitarbeiter des Ost-Berliner Verlags Volk und Wissen, wo Guillaume tätig war, meldete 1954 dem BND: Guillaume habe den Auftrag, in die BRD einzureisen, „mit dem Zweck, Einfluss in Verlagen, Druckereien und Personen zu gewinnen, um sie dann östlich zu infiltrieren“. Und im Jahr darauf wird der „Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen“, eine von der CIA finanzierte West-Berliner Menschenrechtsorganisation, auf Guillaume aufmerksam.

Als Günter Guillaume auf dem Sprung ins Bundeskanzleramt ist, kommt der BND auf den Spionageverdacht zurück. Dessen Präsident Gerhard Wessel rät Bundeskanzleramtschef Horst Ehmke, Guillaume persönlich damit zu konfrontieren. An dem darauffolgenden Gespräch nimmt auch Staatssekretär Herbert Ehrenberg teil. Beide finden: Der „Junge“ ist in Ordnung.

Geburtstagsgrüße der Stasi entlarven die Guillaumes

Das Kanzleramt stellt Günter Guillaume Ende Januar 1970 ein, rückwirkend zum Jahresbeginn. Zweieinhalb Jahre später steigt er zu einem von drei persönlichen Referenten Willy Brandts auf.

„Im Herbst ’72 hatte ich Bedenken, ihn aufrücken zu lassen, nicht weil ich Verdacht gehegt hätte, sondern weil ich ihn für beschränkt hielt“, schreibt Brandt in seinen Erinnerungen. „Die Mischung von Servilität und Kumpelhaftigkeit ging mir auf die Nerven, doch machte ich daraus kein Aufheben. Daß er vor allem den Terminkalender korrekt und zuverlässig überwachte, war wichtiger.“

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat die Guillaumes ab Februar 1973 im Visier. Dem Oberamtsrat Heinrich Schoregge war aufgefallen, dass in drei Spionagefällen der Name Guillaume auftaucht. Schoregge erfährt bei seinen Ermittlungen von drei alten Funksprüchen, die der BND abgefangen und archiviert hat. Ihm gelingt es, die Mitteilungen Günter und Christel Guillaume zuzuordnen.

Die Funksprüche beinhalten Glückwünsche der HVA: Am 1. Februar 1956, dem Geburtstag von Günter Guillaume, sendet die Abteilung Geburtstagsgrüße an „Georg“, am 6. Oktober 1956, dem Geburtstag von Christel Guillaume, Geburtstagsgrüße an „Chr.“ und Mitte April 1957, kurz nach der Geburt des Sohns Pierre, die Nachricht „Glückwunsch zum zweiten Mann!“

Über den Verdacht, das Ehepaar Guillaume stehe in Diensten der Staatssicherheit der DDR, informiert Schoregge seinen Chef Günther Nollau, den Präsidenten des Verfassungsschutzes. Der setzt am 29. Mai 1973 Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher und dessen Büroleiter und persönlichen Referenten Klaus Kinkel in Kenntnis. Dabei schlägt Nollau vor, Günter Guillaume vorerst in seiner Position zu belassen, um sich ein Bild über das Ausmaß seines Verrats zu machen und um Beweismaterial gegen ihn zu sammeln.

Im Zentrum der Kritik. Der Untersuchungsausschuss, der die Guillaume-Affäre aufarbeiten sollte, warf Günther Nollau, rechts, und dem von ihm geleiteten Bundesamt für Verfassungsschutz Gedankenlosigkeit und fehlende Sorgfalt vor.
Im Zentrum der Kritik. Der Untersuchungsausschuss, der die Guillaume-Affäre aufarbeiten sollte, warf Günther Nollau, rechts, und dem von ihm geleiteten Bundesamt für Verfassungsschutz Gedankenlosigkeit und fehlende Sorgfalt vor.Sven Simon/IMAGO

Der Untersuchungsausschuss, der die Guillaume-Affäre aufarbeiten sollte, übte insbesondere am Bundesamt für Verfassungsschutz harsche Kritik: Gedankenlosigkeit und fehlende Sorgfalt seien Merkmale des Nollauschen Amtes gewesen. Es stellte sich heraus, dass die Verfassungsschützer noch im Mai 1973 davon ausgegangen waren, Günter Guillaume sei Referent in der Abteilung Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik des Bundeskanzleramts; er war jedoch seit Herbst 1972 persönlicher Referent des Kanzlers.

Vom Gespräch mit Nollau unterrichtet Genscher den Bundeskanzler. Brandt stimmt dem Vorschlag zu, Guillaume beobachten zu lassen. Zudem lässt er sich darauf ein, dass der ihn bei seinem Sommerurlaub in Norwegen begleitet. Der Kanzler wird zum Köder. In seinen Erinnerungen schreibt er dazu: „Ich Rindvieh hätte mich auf diesen Rat eines anderen Rindviehs nie einlassen dürfen!“

Es war auch nicht klug, dass Brandt nur seinen Büroleiter Reinhard Wilke und Kanzleramtschef Horst Grabert über den Verdachtsfall Guillaume informierte. Weder Egon Bahr, des Kanzlers engster Berater, noch Horst Ehmke, der als Graberts Vorgänger Guillaume eingestellt hatte, wurden ins Bild gesetzt.

Warum er es nicht tat, begründet Brandt in seinen Erinnerungen so: „Ich hatte die Mutmaßung nicht ernst genommen und meine Menschenkenntnis – nicht zum ersten Mal – überfordert gesehen.“ Auch habe er es „nicht für wahrscheinlich gehalten, daß die Verantwortlichen im anderen deutschen Staat einen über Jahre als konservativen Sozialdemokraten getarnten Agenten auf mich ansetzen würden, während ich mich gegen sehr viel Widerstand mühte, die zwischenstaatlichen Beziehungen zu entkrampfen“.

Inkompetente Behörden, dünne Beweislage

Ein Rätsel bleibt das Verhalten der Sicherheitsbehörden. Wie vom obersten Verfassungsschützer Günther Nollau Ende Mai 1973 vorgeschlagen, sollte Günter Guillaume beobachtet werden. Doch das BfV legte sein Hauptaugenmerk auf Christel Guillaume: Sie wurde circa 75 Tage beobachtet, ihr Mann 14 – und in Norwegen nicht einen Tag.

Nicht nur dafür fand auch der Untersuchungsausschuss keine Erklärung, sondern nur Unverständnis: „Weder im Bundeskanzleramt noch im Bundesinnenministerium noch im Bundesamt für Verfassungsschutz ist ein Mensch auf die Idee gekommen, ob und was geschehen müsse, um von der Bundesrepublik Deutschland Schaden abzuwenden, wenn sich der am 29. Mai 1973 Minister Genscher und Bundeskanzler Brandt eröffnete Spionageverdacht gegen Guillaume als wahr herausstellen würde.“

Die Festnahme der Guillaumes erfolgt erst, nachdem Innenminister Genscher gegenüber Nollau darauf gedrängt hatte, der Verfassungsschutz solle die Ermittlungen abschließen und die Ergebnisse an den Generalbundesanwalt weiterleiten. Doch die Beweislage ist dünn.

„Günters Frau“ – das war Christel Guillaume für ihre Vorgesetzten, obwohl sie erfolgreicher spionierte als ihr Mann. Das Foto zeigt sie am 24. August 1975 in Düsseldorf, wo sie und ihr Mann sich vor dem Oberlandesgericht wegen Landesverrats verantworten müssen.
„Günters Frau“ – das war Christel Guillaume für ihre Vorgesetzten, obwohl sie erfolgreicher spionierte als ihr Mann. Das Foto zeigt sie am 24. August 1975 in Düsseldorf, wo sie und ihr Mann sich vor dem Oberlandesgericht wegen Landesverrats verantworten müssen.Sven Simon/IMAGO

Wie aus den Datenbanken der HVA hervorgeht, war Günter Guillaumes Spionagetätigkeit weniger bedeutend als von Bonn befürchtet, von Ost-Berlin erhofft und von beiden Seiten suggeriert: Zwischen Juli 1969 und April 1974 gingen unter Guillaumes Decknamen „Hansen“ nur 24 Berichte und Dokumente ein. Die Hälfte beinhaltete „Parteiklatsch“ (Willy Brandt), ein knappes Viertel befasste sich mit Gewerkschaftsfragen, der Rest mit Regierungspolitik. Nach Einschätzung der HVA waren von 19 Informationen, die sie benotete, 14 von mittlerem Wert und fünf wertvoll – also keine sehr wertvoll.

Dass Günter Guillaume als Topspion gesehen wurde, begründet der Historiker Sven Felix Kellerhoff so: „Beide deutschen Staaten hatten ein Interesse daran, Guillaumes Bedeutung höher anzusetzen, als sie tatsächlich war. Immerhin war über den Agenten ein überaus beliebter Bundeskanzler gestürzt, wenn auch die tatsächlichen Gründe eher innerhalb der SPD zu suchen waren. Für die DDR war es ein Triumph, einen Spion in der Regierungszentrale des ‚Klassenfeindes‘ installiert zu haben, auch wenn er wenig zu berichten gehabt hatte.“

Es spielt allerdings eine untergeordnete Rolle, wie erfolgreich oder -los Günter Guillaume spionierte. Dass er es überhaupt konnte, war der Skandal. Und es sollte noch übler werden.

Die Guillaume-Affäre wird zur Sex-Affäre

Am 30. April 1974 teilt Bundesjustizminister Gerhard Jahn dem Kanzler mit, die Bundesanwaltschaft deute an, Guillaume könne ihm, Brandt, „Mädchen zugeführt“ haben. „Ich sagte Jahn, dies sei lächerlich“, schreibt Brandt in seinen Erinnerungen. „Er könne dem betr. Bundesanwalt sagen, wegen dieser ‚Vermutung‘ ließe ich mir zusätzlich keine grauen Haare wachsen.“

Die Andeutung ist verschriftlicht in dem vom Bundeskriminalamt (BKA) verfassten Dossier, das Klaus Kinkel, der Büroleiter und persönliche Referent von Innenminister Genscher, Brandt am 1. Mai aushändigt. Im Zuge der Ermittlungen gegen Guillaume waren Sicherheitsbeamte zu Brandts Privatleben befragt worden. Es finden sich in den Protokollen Aussagen über Alkoholkonsum und Sexaffären.

Überraschend schnell berichten die Medien über diese Pikanterie in der Guillaume-Affäre. Es ist zu vermuten, dass Behörden- oder Parteikreise Informationen weitergegeben haben. In Brandts Umfeld wächst die Befürchtung, der politische Gegner könne die Vorwürfe für eine Kampagne nutzen. Die Chefs des BfV und des BKA, Günther Nollau und Horst Herold, sehen zudem die Gefahr der Erpressbarkeit des Kanzlers. In einem persönlichen Gespräch rät Nollau dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, Brandt zum Rücktritt zu bewegen.

Auf der Suche nach Antworten. Willy Brandt erscheint am 12. Mai 1974 vor dem Untersuchungsausschuss in Bonn. Fünf Tage zuvor erfolgte sein Rücktritt als Bundeskanzler.
Auf der Suche nach Antworten. Willy Brandt erscheint am 12. Mai 1974 vor dem Untersuchungsausschuss in Bonn. Fünf Tage zuvor erfolgte sein Rücktritt als Bundeskanzler.Sven Simon/IMAGO

Ein systematisches Vorgehen vermutete Brandt in der Ende April einsetzenden Entwicklung. „Einige Sicherheitsbürokraten“ suchten „von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken“, empört er sich in seinen Erinnerungen. „(...) man nahm sich mein Privatleben vor und ließ es zur Karikatur werden. Überforderte Sicherheitsleute, unter ihnen politische Widersacher und seltsame Tugendwächter, produzierten ein Machwerk, das sich verselbständigte und dem gegenüber ich mich rat- und machtlos fühlte.“

Am Abend des 4. Mai 1974 treffen sich Brandt und Wehner am Rande der Beratungen zwischen SPD und Gewerkschaften in Bad Münstereifel zu einem einstündigen Gespräch. Wehner deutet an, BfV-Chef Nollau empfehle ihm, dem Kanzler, den Rücktritt.

Er habe Brandt versichert, behauptete Wehner später, sich für ihn „zerreißen“ zu lassen, solle er sich entscheiden, die Affäre durchzustehen. Brandt hingegen beteuerte, Wehner und andere hätten ihm die Unterstützung versagt. Es heißt, Brandts Ehefrau Rut habe letztlich den Ausschlag gegeben, indem sie ihrem Mann sagte: Einer müsse die Verantwortung übernehmen.

Tatsächlich nahm ich mehr auf mich, als ich zu verantworten hatte.

Willy Brandt

Am Morgen des 5. Mai 1974 verkündet Brandt den in Bad Münstereifel anwesenden Parteigenossen seine Entscheidung zurückzutreten. Zwei Tage später, am 7. Mai 1974, um 0 Uhr, gibt der Norddeutsche Rundfunk den Rücktritt bekannt.

Sein Rücktritt sei nicht zwingend gewesen, stellt Brandt in seinen Erinnerungen klar. „Tatsächlich nahm ich mehr auf mich, als ich zu verantworten hatte. Die Schwierigkeiten in und mit der Regierung hatten seit Jahresbeginn ’73 zugenommen und meine Position, gewiß auch mein Durchhaltevermögen, geschwächt.“

Vier Tage vor dem Rücktritt traf die Journalistin Wibke Bruhns den Kanzler. „Brandt ahnte wohl, dass er dies nicht durchstehen könne“, erinnerte sie sich, „dass nach den jahrzehntelangen Diffamierungskampagnen der rechten Massenblätter ihn jetzt die Kombination von Sex und Spionagethriller zur Strecke bringen werde.“

Das Oberlandesgericht Düsseldorf spricht im Dezember 1975 Günter und Christel Guillaume des Landesverrats in einem besonders schweren Fall schuldig. Er wird zu 13 Jahren, sie zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.

„In Anerkennung außerordentlicher Verdienste (...) im Kampf für Frieden und Völkerfreundschaft“ verleiht Erich Honecker 1981 Christel Guillaume – und auch Günter Guillaume – den Karl-Marx-Orden.
„In Anerkennung außerordentlicher Verdienste (...) im Kampf für Frieden und Völkerfreundschaft“ verleiht Erich Honecker 1981 Christel Guillaume – und auch Günter Guillaume – den Karl-Marx-Orden.Detlev Konnerth/IMAGO

Schon vor der Verurteilung bemühte sich die DDR, das Ehepaar Guillaume freizubekommen. Die Bundesregierung lehnte wiederholte Anfragen ab, wegen zu geringwertiger „Gegenangebote“. Im Rahmen eines Agentenaustauschs, der zugleich mehreren Hundert Familien die Ausreise aus der DDR in die Bundesrepublik ermöglicht, kehren die Guillaumes 1981 in die DDR zurück, sie im Januar, er im Oktober. Ihr Sohn – er wusste nichts von dem Doppelleben seiner Eltern – war 1975 übergesiedelt.

Die DDR bejubelt die Rückkehrer. „In Anerkennung außerordentlicher Verdienste (...) bei der schöpferischen Anwendung des Marxismus-Leninismus und im Kampf für Frieden und Völkerfreundschaft“ verleiht SED-Parteichef und DDR-Staatsratsvorsitzender Erich Honecker beiden den Karl-Marx-Orden. Günter Guillaume erhält im Januar 1985 die Ehrendoktorwürde der Hochschule des MfS in Potsdam.

Nach seiner Rückkehr in die DDR hält Günter Guillaume Vorträge vor Mitarbeitern des MfS. Bei einer Veranstaltung in Rostock sagt er: „Unser wirklicher Fehler war, dass wir uns nicht vorstellen konnten, dass die feindlichen Dienste ihren eigenen Regierungschef so hundsmiserabel behandeln und in die Pfanne hauen, dass sie mithalfen, den Knüppel zu finden, mit den man den Mann aus dem Amt prügelte.“

Zu Beginn des Jahres 1994 veröffentlicht die Frankfurter Allgemeine Zeitung Willy Brandts „Notizen zum Fall G“, 43 handschriftliche Seiten, die er vermutlich zwischen dem 27. Mai und 14. September 1974 zu Papier gebracht und anschließend verwahrt hatte. Die Aufzeichnungen haben es in sich. Darin verdächtigt Brandt seinen Parteigenossen Herbert Wehner – er beschreibt ihn als „den ewig Gekränkten und Enttäuschten“, dem „der Weg an die Spitze unserer Partei versagt war“ –, seinen Sturz betrieben zu haben, zusammen mit der SED.

Dicke Luft. Willy Brandt und Herbert Wehner – hier in der Bildmitte beim SPD-Parteitag im März 1968 in Nürnberg, neben ihm Helmut Schmidt – hatten ein angespanntes Verhältnis. Welche Rolle spielte er beim Rücktritt Brandts als Bundeskanzler?
Dicke Luft. Willy Brandt und Herbert Wehner – hier in der Bildmitte beim SPD-Parteitag im März 1968 in Nürnberg, neben ihm Helmut Schmidt – hatten ein angespanntes Verhältnis. Welche Rolle spielte er beim Rücktritt Brandts als Bundeskanzler?Sven Simon/IMAGO

Der Vermutung Brandts zufolge ist Wehner im Mai 1973 von Günther Nollau, dem Chef des Verfassungsschutzes, über den Spionageverdacht gegen Günter Guillaume informiert worden. Wehner habe darüber mit Honecker gesprochen. Auch gebe es Briefe, die ihm, Brandt, vorenthalten worden seien. Helmut Schmidt habe das bestätigt.

Von Wehners Reise nach Moskau im September 1973 ist überliefert, dass er Brandt mit zwei Äußerungen verunglimpfte: „Der Herr badet gerne lau“ und „Der Regierung fehlt ein Kopf“. Der erste Satz soll auf dem Rückflug gefallen sein, der zweite ist aus einem längeren Relativsatz sinnentstellt gerissen worden. Wie auch immer. Brandt nahm an, Wehner sei von seinen Moskauer Gesprächspartnern mit Informationen „gefüttert“ worden, welche die DDR aus den Berichten Guillaumes hatte. Im Mai 1974 schließlich habe Wehner den Kanzlerwechsel in Tuchfühlung mit Ost-Berlin abgewickelt.

Auch wenn die offizielle Stellungnahme der DDR-Regierung, man habe Guillaume im Zuge der Entspannungspolitik zwischen beiden deutschen Staaten bereits „abgeschaltet“ gehabt, bezweifelt werden muss, kann der Sturz Brandts nicht im Interesse Ost-Berlins gelegen haben. Markus Wolf, damals Chef der HVA, bezeichnete ihn als „Panne“.

Die Entspannungspolitik wird fortgesetzt, vorläufig

Die deutsch-deutschen Beziehungen waren damals auf einem guten Weg. Am 2. Mai 1974, fünf Tage vor Brandts Rücktritt, eröffneten gemäß dem Grundlagenvertrag die BRD in Ost-Berlin und die DDR in Bonn Ständige Vertretungen, Dienststellen mit der Funktion einer Botschaft.

Als Brandts Nachfolger war Helmut Schmidt bestrebt, diesen Weg nicht zu verlassen. Nach seinem Amtsantritt am 16. Mai ließ er Ost-Berlin wissen, die Bundesregierung werde die Entspannungspolitik fortsetzen. Diese Absichtserklärung erhielt auch Moskau.

Günter Gaus, der erste Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, machte am 23. Mai 1974 gegenüber Kurt Nier, dem stellvertretenden DDR-Außenminister, klar: In dem Fall Guillaume sehe die Bundesregierung „nicht nur eine persönliche Brüskierung des bisherigen Bundeskanzlers, sondern auch ein Beispiel für einen Versuch der DDR, den Regierungsapparat der Bundesrepublik zu infiltrieren“. Aber Gaus sagte auch: Wenn derartige Aktivitäten unterblieben und „von den Nachrichtendiensten bestimmte Grenzen“ beachtet würden, „könnten sich die Beziehungen in der von beiden Seiten gemäß der Vertragspolitik gewünschten Weise entwickeln“.

Wenig später nahmen die Spannungen wieder zu. Weil die Sowjetunion ihre auf Westeuropa gerichteten atomaren Mittelstreckenraketen durch moderne Flugkörper ersetzte, forderte Bundeskanzler Helmut Schmidt 1977 in einer Rede in London die westlichen Verbündeten zum Handeln auf. Es war der Startschuss zum Nato-Doppelbeschluss.