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Ausland In Moskau ermordet

Der Mann, der auf Jelzin hätte folgen können

Boris Nemzow – hier bei einem Anti-Putin-Protest im März 2012 – blieb sich selbst bis zu seiner Ermordung mit 55 Jahren immer treu Boris Nemzow – hier bei einem Anti-Putin-Protest im März 2012 – blieb sich selbst bis zu seiner Ermordung mit 55 Jahren immer treu
Boris Nemzow – hier bei einem Anti-Putin-Protest im März 2012 – blieb sich selbst bis zu seiner Ermordung mit 55 Jahren immer treu
Quelle: dpa
Boris Nemzow hätte der mächtigste Mann Russlands werden können. Doch der potenzielle Nachfolger von Jelzin scheiterte an Moskaus Politbetrieb. Unser Autor kannte ihn persönlich. Eine Erinnerung.

Moskau im Juni 1997: Der Mann passte so gar nicht in das staatstragende Ambiente des russischen Regierungssitzes. Breitbeinig wie ein Cowboy schlenderte er über den langen Flur auf der fünften Etage des Weißen Hauses – auf den Lippen das Lächeln eines Politikers, der sicher war, in Zukunft noch viel bewegen zu können. Mit seinem schwarzen Lockenkopf wirkte der 37-jährige Boris Jefimowitsch Nemzow in seinem überdimensionierten Büro wie ein Junge, dem man ein viel zu großes Spielzeug geschenkt hatte. Nur eine Kleinigkeit hatte sich verändert: Er trug nicht mehr Jeans und Wollpullover wie als Gouverneur von Nischni Nowgorod, sondern ein weißes Hemd und Krawatte.

Welt geschockt über Mord an Boris Nemzow

Entsetzliches Verbrechen vor den Mauern des Kreml: Der Oppositionelle Boris Nemzow wurde auf offener Straße erschossen. Der 55-Jährige ist von vier Schüssen in den Rücken getroffen worden.

Quelle: N24

Nemzow war zu diesem Zeitpunkt gerade seit 100 Tagen Erster Vizepremier der Zentralregierung, gemeinsam mit dem ehemaligen Privatisierungsminister Anatoli Tschubais. Voller Tatendrang, voller Energie. Es war ein Samstagmittag, 25 Minuten hatte Nemzow eingeplant für sein erstes Interview mit einem deutschen Medium (ich führte es gemeinsam mit Michael Thumann für die „Zeit“) seit seinem Wechsel von der Provinz in die Hauptstadt. Es ging um Reformen, die hohen Erwartungen und den russischen Präsidenten Boris Jelzin, als dessen Nachfolger Nemzow damals gehandelt wurde.

Sein Wechsel in das heiße politische Umfeld der Hauptstadt war im In- und Ausland fast einhellig als ein Signal des Aufbruchs für Russland gewertet worden. Entsprechend groß waren die Hoffnungen auf Therapie für den größten Flächenstaat der Welt, nachdem dieser vor allem Schocks erlitten hatte. Bis heute hält sich der Mythos von der vermeintlichen radikalen Marktwirtschaft in den 90er-Jahren. Doch wenn Staatsmonopole völlig unkontrolliert in einer von Rohstoffen dominierten Wirtschaft privatisiert werden, dann entsteht keine Marktwirtschaft, sondern ein brutaler Verteilungskampf unter den Eliten. Nemzow, das war die Erwartung damals, würde sich mit Jelzins Rückendeckung gegen diese Eliten durchsetzen. Es sollte sich als Irrtum herausstellen.

Antiprogramm zum Politiker und Frauenschwarm

In Nischni Nowgorod, der Stadt rund 400 Kilometer östlich von Moskau – in die einst der Physiker und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow verbannt wurde – hatte Nemzow relativ ungestört arbeiten können. Noch kam er nicht in Konflikt mit den Moskauer Oligarchen oder den mächtigen Herrschern über das Gas.

Boris Nemzow in den 90er-Jahren
Boris Nemzow in den 90er-Jahren
Quelle: Getty Images

Der studierte Physiker war das Antiprogramm zum etablierten Politiker, ein ziemlich cooler Typ, der als Frauenschwarm galt und selbst neckische Schneeballschachten mit gut aussehenden Fernsehreporterinnen vor laufenden Kameras nicht scheute. Allerdings zeichnete Nemzow in seiner Nischni-Zeit auch etwas anderes aus: Er setzte sich durch, schaffte Fakten und blieb trotzdem sehr beliebt.

Ständig war er unterwegs in seinem Gebiet. Im Frühjahr 1995 ging es auf der Ladefläche eines Militärhubschraubers zu Bauern ins Dorf Tumanka am Rande seines Regierungsgebiets, um bei der Privatisierung einer Kolchose dabei zu sein. Nemzow hatte die Weltbank-Tochter International Finance Corporation (IFC) zu Hilfe geholt, um ihn bei diesem Vorhaben zu unterstützen.

Als der Hammer an diesem Tag zum letzten Mal fiel, waren 188 Bauern zu Kleinunternehmern geworden. „Boris Jefimowitsch tut wenigstens etwas“, sagte einer der Landwirte. „Das ist selten genug in unserem Land.“ Der damalige Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin, ein Apparatschik, bezeichnete Nemzows Landreform als Vorbild für Russland. Allerdings ging auch einiges schief: So holte sich Nemzow die Herlitz International Trading AG aus München als Investor in die Papierfabrik AO Wolga. Es endete im Fiasko, für beide Seiten.

Er hatte auch eine kühle Seite

Dass er als Reformer beliebt blieb, hatte viel mit seiner selbstbewussten, aber doch sympathischen Art zu tun. Als er sich mit Unternehmensführern in der Region traf, stieß er schon mittags mit Wodka an. Man sollte den ersten besser ablehnen – was ungläubige Nachfragen von seiner Seite provozierte –, wenn man vom Rest des Tages noch etwas haben wollte.

Nemzow hingegen stand auch nach einem solchen Mittagessen noch ein Pensum durch, das Respekt abforderte. Und er driftete nicht ab, sondern blieb bodenständig. Zurück in Nischni Nowgorod wurde er an diesem Tag von einem Wolga, einer Sowjetkarosse, am Flughafen abgeholt. Nemzows Frau und seine Tochter warteten im Auto. Herzlich war er nicht zu ihnen, er beachtete sie kaum. Das war die andere Seite des Boris Nemzow: Er konnte kühl, manchmal sogar schroff sein.

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Solange er in der Provinz blieb, schien er sich frei entfalten zu können. Das änderte sich in Moskau. Die Berufung in die Hauptstadt kam zu früh, die Mission war zu groß für ihn, Jelzins Rückhalt zu schwach.

Nemzow startete wie in Nischni: kompromisslos, direkt und auch populistisch. Sein erster Erlass lautete, dass Politiker nur noch russische Autos fahren dürften. Er führte die Pflicht für Beamte ein, ihre Vermögensverhältnisse offenzulegen. Er selbst bezifferte im Interview sein Gehalt damals auf umgerechnet 2200 D-Mark; als Gouverneur habe er 700 verdient. „Außerdem habe ich ein anständiges Honorar für mein Buch erhalten, sodass ich gut über die Runden komme.“

Nemzow hielt nicht einmal eineinhalb Jahre durch

Jelzins Schützling sollte bald merken, dass er sich nicht auf seinen Ziehvater verlassen konnte; seine Anweisungen liefen ins Leere. Nemzow selbst erzählte einmal in einem vertraulichen Gespräch, dass von ihm unterschriebene Erlasse auf den Fluren des Weißen Hauses verloren gingen.

Als „Kamikaze-Mission“ hatte er im März 1997 seine Ernennung zum Vizepremier bezeichnet. Er sollte recht behalten: Nach nicht einmal eineinhalb Jahren hatte er sich aufgerieben im Moskauer Politsumpf. Nach einem Börsenabsturz im Juni 1998 bat Nemzow Präsident Jelzin um Entlassung.

Es spricht für ihn, dass er im Gegensatz zu seinem Vizepremier-Partner Tschubais nicht nach dem großen Geld gestrebt hat. Tschubais, der stets eine enge Verbindung zu den Oligarchen gepflegt hatte, wurde Chef des nationalen Stromkonzerns EES. Nemzow blieb in der Politik und musste mit ansehen, wie der Familienclan Wladimir Putin zum Nachfolger auserkor – ein ehemaliger Geheimdienstmann, der quasi aus dem Nichts kam und als gefügig galt.

Kritik formulierte er wie kein anderer

Nemzow emigrierte in die Opposition und wählte damit den wohl schwierigsten Weg in einem Land, das zunehmend autokratisch regiert wurde und in dem Andersdenkende heute als Vaterlandsverräter, Faschisten oder psychisch Kranke diffamiert werden. Nemzow blieb sich, trotz einiger Fehltritte, immer selbst treu, war mutig und artikulierte Kritik wie kaum ein anderer.

Es war klar, dass seine Opposition gegen den Ukraine-Feldzug des Kreml die geringe Toleranz des Machtapparats, allen voran des Geheimdienstes FSB und des Militärs, irgendwann überstrapazieren würde. Der Gegenwind wurde immer stärker, Nemzow immer desillusionierter, bis er schließlich spürte, dass man ihm nach dem Leben trachtete.

Jelzin hatte mich ja als seinen Nachfolger vorgesehen, hat es sich dann aber anders überlegt und machte Putin zum Präsidenten. Das war sein größter Fehler
Boris Nemzow, am Abend seines Todes
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„Millionen werden es nicht sein“, sagte Nemzow am Freitagabend in seinem letzten Interview mit dem ukrainischen Radiosender Vesti. Damit meinte er die Teilnehmerzahl der Demonstration an diesem Sonntag in Moskau. Ein Marsch gegen Krieg und die Krise seiner Bewegung namens Frühling sollte es werden.

Nach seiner Ermordung wird es ein Trauermarsch, und vielleicht werden es jetzt doch Millionen. Es wäre eine angemessene Würdigung von Nemzows Lebenswerk. Auf die Frage, ob er Präsident werden wolle, sagte er am Freitagabend: „Jelzin hatte mich ja als seinen Nachfolger vorgesehen, hat es sich dann aber anders überlegt und machte Putin zum Präsidenten. Das war sein größter Fehler.“ Dann lachte er. Es waren seine letzten öffentlichen Worte. Wie recht er damit hatte.

Quelle: Infografik Die Welt

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