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Gedicht, Lied

Die Sammlung entstand zwischen 1921 und 1925 und enthält 50 Gedichte bzw. Lieder der Jahre 1916 bis 1925; aus marktstrategischen Gründen verzögerte Brecht die Veröffentlichung bis 1927, nachdem er erfolgreich vom Kiepenheuer Verlag zum Ullstein-Konzern gewechselt war. Kiepenheuer durfte 1926 lediglich eine leicht abweichende Fassung mit dem Titel Taschenpostille in nur 25 Exemplaren als Privatdruck herausbringen. – Die Sammlung gilt als Abschluss sowie als Höhepunkt der frühen Lyrik Brechts, war aber zur Zeit der Publikation schon ganz untypisch für sein damaliges Werk geworden: Die meisten Gedichte stammen aus den Jahren 1919 bis 1922. Für spätere Ausgaben stellte Brecht die Texte immer wieder neu zusammen, zuletzt 1956, als er z. B. mit „Orges Wunschliste“ eines seiner letzten Gedichte einfügte. Da keine der Neufassungen zu Brechts Lebzeiten gedruckt wurde, ist die Ausgabe von 1927 die gültige.

Der Begriff „Postille“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Erklärung des vorangestellten Bibeltexts“ („post illa verba texta“) zum Hausgebrauch. Die Kommentare gelten der moralisch-religiösen Erziehung sowie der Erbauung der Gläubigen. Brechts Hauspostille ist gegliedert in fünf Lektionen („Bittgänge“, „Exerzitien“, „Chroniken“, „Mahagonnygesänge“ und „Die kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen“), ein „Schlußkapitel“ („Gegen Verführung“), einen Anhang („Vom armen B. B.“), Gesangsnoten für 14 Gedichte sowie eine vorangestellte „Anleitung zum Gebrauch der einzelnen Lektionen“. Diese Anleitung betont den Gebrauchscharakter der Sammlung, der aber auch zum Ausdruck kommt aufgrund der Einteilung in Lektionen, der Bezeichnung der Gedichte als „Kapitel“ sowie der durchgehenden Zählung der Strophen, gelesen als Ordinalzahlen. Die Sammlung „soll nicht sinnlos hineingefressen werden“ und jedes Mal, um das Gemüt wieder abzukühlen, mit der Lektüre des Schlusskapitels abgeschlossen werden. Damit wendet sich Brecht gegen den üblichen Anspruch von Lyrik, welche über ein gedankliches Zentrum einen Zyklus von thematisch miteinander verbundenen Gedichten bildet.

Die einzelnen Lektionen spielen (weitgehend) auf den katholischen Ritus an: Die „Bittgänge“ gehen auf die katholische Fürbitte zurück (z. B. für gute Ernten), die „Exerzitien“ verweisen auf die Exercitia spiritualia des Ignatius von Loyola, das geistliche Grundbuch des Jesuitenordens, die „Chroniken“ folgen auf weltliche Weise den Heiligenlegenden des Alten Testaments, wohingegen die „Mahagonnygesänge“ Brechts eigenen ‚Ritus‘ wiedergeben, während „Die kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen“ wiederum die katholischen „horae canonicae“, die zur Andacht in den Klöstern vorgeschriebenen Stunden des Tags, zum Vorbild haben.

Die zwei zentralen, sich diametral gegenüberstehenden Themen der Hauspostille sind Vergänglichkeit und Lebensgenuss. Zu Gedichten wie „Von der Kindesmörderin Marie Farrar“ oder „Vom ertrunkenen Mädchen“, die von Tod und Vergänglichkeit handeln, stehen in starkem Kontrast Texte wie „Orges Gesang“ oder der „Choral vom Manne Baal“, deren Protagonisten in vollem Lebensgenuss schwelgen und diesen auch mit Nachdruck propagieren. Dies findet seinen Höhepunkt im Schlusskapitel „Gegen Verführung“ („Laßt euch nicht verführen / Es gibt keine Wiederkehr“), das grundsätzlich das Leben als „am größten“ feiert, denn: „Ihr sterbt mit allen Tieren / Und es kommt nichts nachher“.

In den Gedichten der Hauspostille überwiegt die Balladenform (Brecht hatte die Sammlung ursprünglich auch als reines Balladenbuch angelegt). Dieses Genre ermöglicht es dem lyrischen Sprecher, eine objektiv-distanzierte, scheinbar unbeteiligte Haltung gegenüber seinen Figuren und Ereignissen einzunehmen: Auch die ungeheuerlichsten Geschehnisse werden im Ton alltäglichster Sachlichkeit gelassen wiedergegeben, was die Rezeption dazu geführt hat, die häufig drastisch-inhumane Tragweite der Themen zu verkennen, deutlich etwa im Lied „Die Erinnerung an die Marie A.“, das als romantische Liebeshymne gedeutet worden ist, in dem sich in Wirklichkeit aber das lyrische Ich zynisch als Frauenverbraucher selbst feiert (ursprünglicher Titel „Romantisches Lied No. 1004“, in Anspielung auf Don Giovannis 1003 Geliebte in Spanien).

Der Titel der Sammlung ist unmittelbar mit dem Namen des Autors (im Genitiv) verbunden, so dass Brecht als Autor, Besitzer, als Thema und schließlich auch Adressat – in moderner Gestalt – erscheint: Das Buch präsentiert sich mit dem Markenzeichen des Verfassers als Ware und scheut sich nicht, diesen (und auch seine Freunde) in mehrfacher Gestalt selbst auftreten zu lassen. Berühmt wurde die fiktive Autobiographie „Vom armen B. B.“, die in herablassender Selbstfeier des lyrischen Ichs feststellt, „daß wir Vorläufige sind / Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes“.

Bei den Melodien handelt es sich entweder um Übernahmen von marktgängigen Schlagern bzw. ‚Volksliedern‘, um Eigenkompositionen Brechts oder um von ihm angeregte Neuarrangements durch Dritte (so bei der „Marie A.“, bei der alle drei Faktoren zutreffen). Die Vertonungen der Gedichte sollen den Text erläutern bzw. in der Parodie unterlaufen mit dem Ziel, dass sich die Rezipienten das Gedicht über das Hören regelrecht „einverleiben“, ein Ziel, das Brecht mit vielen Liedern der Sammlung auch erreicht hat. Sie sind heute noch im Repertoire zahlreicher Liedermacher in aller Welt.

Die zeitgenössischen Kritiker waren überrascht, dass der angeblich bereits politisierte Dichter 1927 mit einem frechen Balladenbuch auftrat. Von kommunistischer Seite wurde besonders der „Gesang des Soldaten der roten Armee“ angeprangert, des Soldaten, der „mit blutbefleckten leeren Händen“ grinsend ins versprochene „Paradeis“ kommt, ein Gedicht, das in späteren Zusammenstellungen aus der Sammlung verschwand. Wenn „Anarchie Trumpf“ sei, so urteilte Walter Benjamin 1938, dann deshalb, weil in ihr „das Gesetz der bürgerlichen Welt“ beschlossen sei.