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Bayern 2 - Zum Sonntag


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Zum Sonntag Alles hat seine Zeit

Mit dem Wechsel von Sommer- auf Winterzeit wird einmal mehr die Vergänglichkeit vor Augen geführt, aber auch, dass eben alles seine Zeit hat, wie Beatrice von Weizsäcker meint.

Von: Beatrice von Weizsäcker

Stand: 02.11.2022

Beatrice von Weizsäcker | Bild: privat

Alles hat seine Zeit. Eine endet heute Nacht: die Sommerzeit. Die Uhren werden eine Stunde zurückgestellt.

Das heißt: eine Stunde früher Dunkelheit.

Der Sommer ist vorbei, endgültig. Der Herbst ist da, obwohl auch der schon fast vorüber ist. Die Jahreszeit mit den Kastanien für die Kinder und den farbenfrohen Blättern, die bestechend schön sind. Als wollten sie uns betören angesichts des bevorstehenden trüben Winters. Doch das bunte Laub wird weggefegt, sobald es auf dem Gehweg liegt, weggeblasen von lauten, stinkenden Laubblasgeräten. Ordnung muss sein.

Das Leben erlischt. "Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten", schrieb Rainer Maria Rilke vor genau 120 Jahren in seinem Herbstgedicht. "Sie fallen mit verneinender Gebärde."

Es bleibt der Herbst mit seinem Nebel. Und einer Dunkelheit, die jeden Tag ein wenig dunkler wird. Bereit für Allerheiligen, bereit für Allerseelen, den Tag des Totengedenken. Da hilft kein Verneinen.

Alles hat seine Zeit.

"Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit", dichtete Rilke weiter. Es stimmt. Man geht zu den Gräbern, die man eigens geschmückt hat, und zündet eine Kerze an. Man steht da, fühlt sich einsam und verlassen. Man friert und kämpft heimlich mit den Tränen. Und man weiß, dass man eines Tages selbst nicht mehr hier sein wird, sondern irgendwo, vielleicht unten, in der schweren Erde, oder oben bei den Sternen, in den Gärten des fernen Himmels, vielleicht auch beides. Wer weiß.

Alles hat seine Zeit – zu seiner Zeit.

"Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen", fuhr Rilke fort. – Ja, das Fallen ist in allem und allen, auch in uns.

Alles vergeht.

Darum werden die Gräber besungen und mit Weihwasser gesegnet. Gottes guter Geist soll sie umfangen und behüten. Auch die, die zum Friedhof kommen. Niemand soll allein sein an diesem Tag der Traurigkeit.

Auch die Kümmernis hat ihre Zeit.

Dazu kommen die vielen Sorgen. Corona, schon wieder und immer noch. Der Krieg in der Ukraine, so lange schon. Der herannahende Winter. Energiesparsorgen, Heizkostensorgen. Ein neuer Hashtag zeigt, wie groß die Sorgen sind. #IchbinArmutsbetroffen lautet er.

Die Regierung arbeitet fieberhaft, doch die Ungeduld nimmt zu. In Teilen der Bevölkerung wächst Wut. Sie bricht sich Bahn, sie wirft alles durcheinander, noch angestachelt vom CDU-Vorsitzenden, der fahrlässig von "Sozialtourismus" spricht – und die Geflüchteten aus der Ukraine meint. Der Stimmung macht gegen Menschen, die ohne den Krieg gar nicht zu uns kommen würden und unsere Hilfe brauchen.

Alles hat seine Zeit? Ungeduld ja. Wut auch. Hetze nicht.

Mit der Ungeduld indes kommt auch die Sehnsucht. Es ist eine Sehnsucht nach Geborgenheit und Glück, nach Orientierung und Halt. Es ist die Sehnsucht, dass diese Zeit, die nirgends hineinpasst, zu Ende geht. Diese Zwitter-Jahreszeit, die nichts Halbes und nichts Ganzes ist. Diese Nebel-Zeit, die den Blick verstellt. Die Dunkel-Zeit, die müde macht.

Auch die Sehnsucht hat ihre Zeit. Es ist gut, dass es sie gibt.

Denn wer sich sehnt, gibt noch nicht auf. Wer sich sehnt, der hofft. Hofft, dass der Nebel sich hebt und das Licht die Finsternis vertreibt. Der hofft auf Frieden. Auch in sich selbst.

Wir alle fallen, das ist wahr. Aber das ist nicht das Ende, weder in Rilkes Gedicht noch in unserem Leben. Denn "da ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält".

Morgen beginnt eine neue Zeit.

Es ist auch eine Zeit des Glaubens. Des Glaubens an den einen, der uns hält. Der uns unendlich sanft in seinen Händen hält. Im Sommer und im Winter.

Ob wir fallen oder nicht.


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