Wann immer in Berlin die Rede auf die 1920er-Jahre fällt, wirkt das auf den Verstand vieler Einwohner wie ein Totalbesäufnis. Der Stil! Das Tempo! Die Freiheit! Die ganze Welt in ehrfürchtiger Andacht vereint vor dieser metropoligsten Metropole aller Metropolen und Zeiten, ein Fixstern der Urbanität, ein Ort, gegen den selbst London, Paris und New York wie ein ewiger Sonntagnachmittag in der mecklenburgischen Provinz wirkten – na ja, und so weiter eben, bis noch das letzte Bisschen analytische Distanz getilgt ist.
Zu besichtigen ist bei diesen Gelegenheiten ein Mythos, von dem sich die deutsche Hauptstadt nicht erholen wird, solange sie ihn zu jeder noch so unpassenden Gelegenheit hervorkramt, also vermutlich nie. Historisch richtig an den Überhöhungen ist, dass die Not und Verzweiflung nach dem verlorenen Krieg teilweise in eine Feierwut umschlugen, die nicht nach Konsequenzen für Körper und Seele fragte.
Noch dazu sorgten viele Menschen mit unterschiedlichen Talenten in der Reichshauptstadt für ein „Gedränge der Namen“, wie es der Nobelpreisträger Elias Canetti ausdrückte. Zum Inventar dieser Personen gehört die Tänzerin Josephine Baker, die ab dem 14. Januar 1926 in der Reichshauptstadt gastierte. Die Ironie daran ist, dass Baker, 1906 in St. Louis geboren, bereits als Star nach Berlin gekommen war, die Stadt also eher wenig für sie tat.
Vor ihrer Ankunft in Deutschland hatte sie schon in Paris Furore gemacht, wenn sie mit ihrer entblößten Brust und ein paar Federn am Leib über die Bühne der „Revue Nègre“ fegte. Dass sie dabei Grimassen schnitt, amüsierte das Publikum genauso wie die Tatsache, dass sie sich wahlweise im Charleston oder auf allen Vieren über die Bühne bewegte.
Das allein hätte nicht zum Ruhm gereicht, aber die Frau hatte es auch in der Disziplin des Hinternwackelns zu einer derartigen Meisterschaft gebracht, dass den Zuschauern die Synapsen reihenweise durchknallten. „Dieser Tanz von seltener Unanständigkeit ist ein Triumph der Geilheit“, schrieb der französische Schriftsteller Pierre de Régnier. Und weil schlechte Presse schon damals guter Presse gleichkam, strahlte Bakers Name in Frankreich umso mehr.
Nun stand Paris in dem Ruf, eine Stadt mit einer libertären Tradition zu sein. Was also dort funktionierte, musste in Berlin in einer Explosion enden. Zwar mag der Viktorianismus Londoner Prägung bis heute als die Geistesrichtung gelten, die jegliches sexuelle Verlangen für wegzivilisierbar hielt – aber eine Stadt, die den Stechschritt preußischer Soldaten als „Krone des aufrechten Ganges“ erfunden hatte, konnte über Jahrzehnte nicht weniger restriktiv gewesen sein, wenn es um die Frage ging, ob Spaß im Zusammenhang mit dem Kopulationsakt erwünscht sei.
Liest man heute die zeitgenössischen Kommentare zu der Tänzerin, so sind sie ihrerseits ein Zeugnis völliger Enthemmung. Als Schwarze im Bananenrock löste Baker unter den Teutonen männlichen Geschlechts wirklich sämtliche Gefühlslagen aus, die Skala reicht von sabbernder Anbetung im nächtlichen Schnapsrausch bis zu hysterischer Verdammung am Morgen danach.
Viele Autoren sprachen der Künstlerin beispielsweise das Menschsein ab, indem sie sie zum Tier erklärten. Wobei die Arten munter durcheinander gingen: Für den einen war Baker ein Kolibri, für den anderen ein Känguru oder eine Schlange, eine Giraffe oder ein Affe; dass eine Giraffe und eine Schlange körperlich nichts gemein haben, spielte keine Rolle, die Herabwürdigung lag ganz im Auge des Betrachters.
Die Kulturzeitschrift „Der Querschnitt“ wiederum überkam beim Anblick von Bakers Rückseite eine kulinarische Assoziation: „Ihr Popo, mit Respekt zu vermelden, ist ein schokoladener Grieß-Flammerie an Beweglichkeit“, hieß es dort. Der deutschnationale Journalist Adolf Stein betrat mit der Formulierung „dieses ganze Höllengelichter aus dem Urwald“ das Feld der Botanik und fuhr fort: „Die Füße trillern wie verrückt, der federgeschmückte Steiß hat sich selbstständig gemacht und rotiert rasend wie Feuerwerk.“
Natürlich gab es auch Stimmen wie die Harry Graf Kesslers, der Baker ein „bezauberndes Wesen“ nannte. Und die Tänzerin selbst bewies große Souveränität, ignorierte den Hass und freute sich stattdessen einfach über jeden Applaus, den sie erhielt: „Berlin, das ist schon toll! Ein Triumphzug. Man trägt mich auf Händen“, schrieb sie in ihren Memoiren und lobte weiter, in dieser Stadt gebe es das beste Bier der Welt (allzu viel von dem Gebräu scheint sie andernorts nicht getrunken zu haben).
Diese Fähigkeit, Negatives systematisch auszublenden, mag damit zu tun gehabt haben, dass Baker als Kind in den Slums von St. Louis Dinge erlebt hatte, die weit schlimmer waren als das Gezeter von ein paar Spießern. Als uneheliche Tochter einer schwarzen Waschfrau und eines jüdischen Schlagzeugers musste sie schon mit acht Jahren als Dienstmädchen arbeiten, erlebte Pogrome und wurde mit 13 Jahren zwangsverheiratet.
Bakers Liebe zu Berlin ging so weit, dass sie beinahe auf das Angebot Max Reinhardts eingegangen wäre, sich von ihm zur Schauspielerin ausbilden zu lassen. Doch bei aller Begeisterung scheint sie eine innere Stimme gewarnt zu haben. Schon zum Ende der 1920er-Jahre nahm der rassistische Ton bei Europatourneen an Schärfe zu, sodass Baker 1929 die französische Staatsbürgerschaft annahm.
Nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris 1940 trat sie der Résistance bei, spionierte für Charles de Gaulle, später kämpfte sie in den USA an der Seite von Martin Luther King und lebte auf Einladung von Fürstin Gracia Patricia in Monaco. Was mit ihr passiert wäre, wenn sie im Reich geblieben wäre, malt man sich besser nicht aus.
Josephine Baker starb 1975 in Paris. Im Oktober 2021 nahmen die Franzosen sie auf Initiative von Präsident Emmanuel Macron ins Pantheon auf. Dies ist genau der Platz, der ihr gebührt. Dafür, in Deutschland zu einer Ikone aufzusteigen, hatte es selbst im Berlin der 1920er-Jahre schon zu viel Kleingeist und Aggression gegeben.
Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.
Sie wollen Geschichte auch hören? „Attentäter“ ist die erste Staffel des WELT-History-Podcasts.