Annalena Baerbock und die Benin-Bronzen: Ihre Moral bricht geltendes Recht

Annalena Baerbock und die Benin-Bronzen: Ihre Moral bricht geltendes Recht

Die guten Absichten von Annalena Baerbock sind bei den Benin-Bronzen nach hinten losgegangen. Jetzt könnten viele andere Länder einen Präzedenzfall wittern. Ein Gastbeitrag.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und der nigerianische Kulturminister Lai Mohammed.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und der nigerianische Kulturminister Lai Mohammed.Britta Pedersen/dpa

Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, weiß der Volksmund und hat damit Unrecht. Manchmal führen die guten Vorsätze nämlich auch zum Machtverlust. So war das vor fast genau 21 Jahren in den Niederlanden. Da fiel die gesamte sozialliberale Regierung unter Wim Kok, weil zwei Minister urplötzlich ihr Gewissen entdeckt hatten. Das Ganze ist ein Lehrstück darüber, was alles schiefgehen kann, wenn man in der Politik allzuviel moralisiert.

Sieben Jahre vor Wim Koks Fall hatte nämlich eine ganz andere Regierung niederländische UNO-Truppen nach Bosnien geschickt. Was sie dort genau machen sollten, war nicht ganz klar, aber um keine Seite zu provozieren und ihre friedlichen Absichten zu demonstrieren, nahmen sie nur ganz leicht gepanzerte Fahrzeuge und leichte Waffen mit.

Im Juli 1995 wurden sie dann in Srebrenica von Truppen der bosnischen Serben überrannt und mussten tatenlos zusehen, wie die bosnischen Serben die Zivilbevölkerung abschlachteten. Erst Monate später wurde klar, dass die Holländer Zeugen eines Völkermords gewesen waren – doch das kehrte die Regierung unter den Tisch und beauftragte ein Forschungsinstitut mit Nachforschungen. Das forschte und forschte und legte dann sieben Jahre später seinen Bericht vor: die damalige Regierung habe ihre Soldaten ohne Konzept und Rückzugsplan nach Srebrenica geschickt, naiv und mit ungenügender Ausrüstung und als die Sache schiefging, habe sie die Informationen über Massaker unter den Teppich gekehrt.

Wie sich Politiker in Grund und Boden moralisieren

Warum das alles? Weil man mit gutem Beispiel vorangehen und der UNO und den Menschen in Srebrenica helfen wollte. Gut gewollt ist halt oft das Gegenteil von gut gemacht. 2002 wiederholte sich das: In Koks‘ Regierung gab es nur noch zwei Politiker, die sieben Jahre zuvor bereits mitregiert hatten. Sie wollten Verantwortung zeigen und traten zurück.

Das löste bei den anderen Ministern einen Wettlauf aus: Keiner wollte den Eindruck vermitteln, er nehme die Sache nicht genauso ernst. Ergebnis: Eine Rücktrittswelle. Am 16. April 2002 begab sich Kok zur Königin und reichte den Rücktritt der gesamten Regierung ein. Die nachfolgenden Wahlen verlor Kok dann krachend. Danach stellten die Sozialdemokraten nie wieder den Premierminister. Sie hatten sich buchstäblich in Grund und Boden moralisiert.

Es darf nicht Reparationen heißen

Was in Holland passiert, wiederholt sich zehn Jahre später in Deutschland, behaupten die Niederländer manchmal, wenn sie deutscher Arroganz den Spiegel vorhalten wollen. Wie man sieht, haben sie Unrecht: Manchmal dauert es auch zwanzig Jahre. Die moralinsaure Aufwallung, der Versuch, die Politik bedingungslos der Moral unterzuordnen – jetzt sind sie in Deutschland angekommen.

Allerdings kam der entscheidende Anstoß dazu nicht aus den Niederlanden, sondern aus Frankreich: Es war Emmanuel Macron, der, den Einflüsterungen französischer Intellektueller folgend, daran ging, koloniale Raubkunst zurückzugeben. Das wiederum setzte eine Debatte um das ehemalige königliche Stadtschloss in Berlin, seinen Wiederaufbau als Humboldt-Forum und darüber in Gange, woher denn eigentlich die zahlreichen Ausstellungsstücke kommen. Und ob man sie vielleicht zurückgeben statt ausstellen sollte.

Was angefangen hatte als Dialog mit Namibia und Rwanda über die Rückgabe von Schädeln, mit denen Anthropologen vor über hundert Jahren rassenkundliche Untersuchungen anstellten, führte zu dem (vor allem in Namibia selbst) umstrittenen Abkommen über „humanitäre Zahlungen“ für koloniales Unrecht, die (vor allem in Deutschland selbst) auf keinen Fall „Reparationen“ heißen dürfen.

Die Baerbock-Doktrin

Bisheriger Kulminationspunkt: Die Bundesregierung gibt die sogenannten Benin-Bronzen zurück, obwohl Deutschland die nie geraubt hat. Man könnte das die „Baerbock-Doktrin“ nennen: Man muss Dinge nicht nur zurückgeben, wenn man sie widerrechtlich besitzt, sondern auch dann, wenn man auf eine Weise, die aus heutiger Sicht unmoralisch ist, in ihren Besitz gekommen ist. Entscheidend dabei ist nicht, was damals moralisch oder unmoralisch war und aus wessen Sicht.

In vielen Teilen Afrikas gab es damals weder Geld noch Schriftverkehr und lokale Könige und Fürsten (damals von den Deutschen meist „Sultane“ genannt, auch wenn sie nie muslimisch waren) pflegten mit Europäern (und anderen „Sultanen“) Geschenke auszutauschen, um sich Respekt zu verschaffen. Wohlgemerkt: Der Geber verschafft sich Respekt, in dem er den Beschenkten zu beeindrucken versucht.

Das hatte mit Raubzügen nichts zu tun und manche Europäer waren schlau genug, sich auf diese Weise ebenfalls Respekt zu verschaffen. Nach der Baerbock-Doktrin war es trotzdem unmoralisch, denn diese Sultane wussten ja nicht, was die Geschenke auf dem Weltmarkt damals wert waren und dass sie für wertvolles Elfenbein nur wertlosen Tand aus Europa bekamen. Und damit sind wir bei einem höchst verräterischen Prinzip gelandet, das sich in die Baerbock-Doktrin sozusagen durch die Hintertür eingeschlichen hat: Entscheidend ist nicht der Wert, den die Geschenke für die „Sultane“ hatten, entscheidend ist auch nicht, ob die Schenkung nach ihrer Vorstellung moralisch gerechtfertigt war, entscheidend ist einzig, ob das Ganze nach unseren heutigen und europäischen Vorstellungen moralisch gerechtfertigt war und welchen Wert wir dem heute in Europa zumessen.

Kolonialismus ist nicht nur Raub und Versklavung

Nur ein ganz klein wenig zugespitzt, heißt das: Entscheidend für die moralische Beurteilung des Handelns von Afrikanern und Europäern vor über hundert Jahren ist das, was wir weiße Europäer heute darüber denken. Und diese Argumentation unterscheidet sich in nichts von der Denkweise, mit der Europäer damals Afrika kolonisiert haben: Sie waren genauso davon überzeugt, dass das Handeln der Afrikaner nur aus europäischer Sicht und nach europäischen Maßstäben beurteilt werden konnte.

Und auf dieser Grundlage fanden „die Weißen“ dann „die Schwarzen“ rückständig, unreif und abergläubisch und beschlossen, sie erst einmal richtig zu erziehen, das heißt, ihnen europäische Wert- und Moralmaßstäbe beizubringen. Das übernahmen dann Kolonialbeamte und Missionare, aber auch einheimische Polizisten, Milizionäre, oder, wie man damals in Deutschland sagte: „Askaris“.

Die waren beim Durchsetzen dieser Moral oft noch rücksichtloser als ihre weißen Vorgesetzten. Kolonialismus ist nicht nur Raub und Versklavung, Kolonialismus ist auch die Art und Weise, wie man darüber denkt, unabhängig von der Hautfarbe. Kolonialismus – das ist das Fiese daran – ist sogar die Art und Weise, wie man über Kolonialismus denkt, ja sogar, wie und warum man ihn im Nachhinein verurteilt.

Koloniales Denken von anti-kolonialen Aktivisten

Nach George Floyds Tod in den USA wunderten sich manche Medienvertreter darüber, dass Rassismus und übertriebene Gewalt gegen Schwarze oft auch auf das Konto von schwarzen Polizisten gehen. Selbst manche antikolonialen Freiheitskämpfer waren so durchdrungen von der Gedankenwelt des Kolonialismus, dass sie den über die sechziger Jahre hinaus, als die meisten afrikanischen Staaten unabhängig wurden, weitertrugen.

Aus Liberia ist überliefert, wie aus den USA zurückkehrende ehemalige Sklaven nach ihrer Ankunft sofort damit begannen, sich gegenüber den Einheimischen arrogant aufzuspielen und sie zu unterdrücken. Viele anti-koloniale Aktivisten, die sich in Deutschland für die Entkolonialisierung von Straßennamen und das Schleifen kolonialistischer Denkmäler einsetzen, sind kolonialen Denkmustern verhaftet, meist ohne sich dessen bewusst zu sein.

Zum Beispiel gehen sie alle davon aus, dass der einzig gerechtfertigte Bewertungsmaßstab für diese Straßennamen, Denkmäler und anderen Artefakte ihre eigenen heutigen Moralvorstellungen sind. Und dass Dinge, die dazu nicht passen, abgeschafft, geschleift, beseitigt werden sollten. Das fanden die Kolonialbeamten, Missionare und Offiziere auch, die vor 120 Jahren in Zentralafrika ankamen und daran gingen, den angeblichen Aberglauben der Einheimischen zurückzudrängen und abzuschaffen, bis sie ihn tatsächlich zum Verschwinden gebracht hatten.

Dieses kompromisslose Streben nach vollkommener Reinheit ist es, was beide, die Kolonialisten von damals und die Kolonialismusgegner von heute, miteinander vereint. Nichts soll ihre Moralvorstellungen stören, kein Widerhaken, nichts, was daran erinnert, dass die Werte, die sie vertreten, nicht immer und nicht von allen geteilt wurden. Bloß keine Provokationen. Das erkennt man auch, wenn man in dieser Debatte nicht nur von Norden nach Süden, sondern auch von Westen nach Osten blickt.

Auf dem östlichen Auge blind

Die gesamte Kolonialismus-Debatte in Westeuropa ist auf einem Auge blind. Wie selbstverständlich wirft sie Kolonialismus mit Europa in einen Topf. Aber die gesamte östliche Hälfte Europas hat an der Eroberung und Ausbeutung anderer Kontinente nie teilgenommen, sondern wurde, wenn man sich den ausufernden Gebrauch des Begriffs zu eigen machen will, von Russland, Preußen, Italien, dem Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn kolonisiert, während Westeuropa loszog, Afrika, Asien und Lateinamerika zu erobern.

Gerade deshalb gibt es heutzutage in diesen Ländern auch „koloniales Raubgut“, das, frei nach der Baerbock-Doktrin, zurückgegeben werden müsste. Nicht, weil es geraubt wurde, sondern weil es westeuropäische Kolonialmächte bei ihrer Expansion nach Ost- und Südeuropa dahin gebracht und zurückgelassen haben. Aber nach unseren Moralvorstellungen gehört es nicht dahin, wo es heute ist. Also muss es zurückgegeben werden. Basta.

Restitution auf den Kopf gestellt

Unter dem Eindruck der Restitutionsdebatte in Frankreich und Deutschland haben deutsche Museen nun sogar begonnen, sich Rückgaben an das Osmanische Reich zu überlegen. In deutschen Museen lagern jede Menge Ausstellungsstücke, die durch Kriege gegen die Osmanen in deutschen Besitz gelangt sind oder die dahin kamen, als die Völker auf dem Balkan ihre Unabhängigkeit erkämpften und sich die osmanischen Truppen von dort zurückziehen mussten.

Das Problem dabei: Nach unseren heutigen Moralvorstellungen war das Osmanische Reich selbst eine Kolonialmacht, das weite Teil Nordafrikas und des Nahen Ostens unterworfen hatte und, als es im Ersten Weltkrieg unter Druck geriet, seine armenische Minderheit massakrierte. Es ist schon ein völkerrechtlicher Alptraum, herausfinden zu müssen, wem ein von den Truppen der Pforte aus Ägypten nach Istanbul verbrachter Kunstgegenstand, der dem polnischen König Jan Sobieski bei der Verteidigung Wiens in die Hände fiel, heute zurückgegeben werden müsste.

So richtig kompliziert wird es dann aber, wenn man sich dabei nicht auf das Recht, sondern auf die Moral stützt: Man müsste dann entscheiden, ob man dabei polnische oder deutsche Moralmaßstäbe anlegt. Diese „europäischen Werte“, von deren Existenz die westeuropäische Kolonialismus-Debatte ausgeht, sind so einheitlich nämlich nicht. Das wird sofort glasklar, wenn man die Baerbock-Doktrin mal ausnahmsweise nicht auf Afrika, sondern auf jenes Kulturgut anwendet, das die Nazis vor 70 Jahren im Osten Europas raubten.

Der größte deutsche Raubzug war gar nicht in Afrika

Nach außen hin trieb die Nationalsozialisten auch dieser Drang, alles, was nicht in ihre Moralvorstellungen passte, auszumerzen. Deshalb verbrannten sie Bücher und konfiszierten „entartete Kunst“ und wenn sie fremde Länder eroberten, verbrannten sie Bibliotheken und zertrümmerten Museen. Privat waren manche Nazis dagegen Krämerseelen, die die Kunst, die sie so empörend fanden, unter der Hand verkauften.

Und so kam es, dass auch Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges noch immer polnische Raubkunst in deutschen Wohnzimmern und in den Kammern deutscher Museen lagerte, die polnische Regierungen gerne (und über alle Parteigrenzen hinweg), wie man heute sagt, „restituiert“ sehen wollten.

Daraus wurde nichts, oder, von einigen eher symbolischen Rückgaben abgesehen, fast nichts, obwohl im deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 festgeschrieben ist, dass die Regierungen beider Länder über Restitution verhandeln werden. Und das tun sie auch, nur ohne Ergebnis, weil die Bundesregierung die Raubkunst einfach nicht finden kann (Museen sind Ländersache) und die Museumsdirektoren suchen und suchen, und, wie ein polnisches Sprichwort sagt, „je mehr sie suchen, desto weniger finden sie.“ Damit notfalls trotzdem alles beim Alten bleibt, hat die Behörde, der Annalena Baerbock vorsteht, sogar eine Gegenrechnung aufgemacht. Und die geht so.

Raubgut ist auch, wenns nicht geraubt wurde

In der unmittelbaren Nachkriegszeit, nachdem die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz beschlossen hatten, die Gebiete östlich von Oder und Neiße „unter polnische Verwaltung“ zu stellen, entdeckten polnische Ermittler, die auf der Suche nach Raubkunst waren, in einem niederschlesischen Kloster einen riesigen Schatz: Da lagen Briefe von Goethe, Schiller und Luther, Notenblätter von Mozart, Bach und Beethoven, Landkarten und illustrierte Handschriften und uralte Manuskripte und Inkunabeln.

Aus Furcht, die Sowjets könnten sie sich nehmen, brachten die Polen den Schatz in die Jagiellonen-Bibliothek nach Krakau. Dort ist er bis heute, digitalisiert, zugänglich und bekannt unter dem Kosenamen „Berlinka“. Das sei, fanden deutsche Diplomaten, ebenfalls Beutekunst, die zurückgegeben werden müsse.

Die Crux dabei: Die Nazis hatten die „Berlinka“ selbst aus Berlin nach Niederschlesien gebracht, um sie vor der Schlacht um Berlin in Sicherheit zu bringen. Und die Bundesrepublik erkennt seit dreißig Jahren an, dass Niederschlesien ein Teil Polens ist. Die Hausjuristen des Auswärtigen Amts mussten sich gewaltig ins Zeug legen, um Argumente dafür zu finden, dass Kulturgut, das Polen gefunden, gerettet und für jedermann zugänglich aufbewahrt haben, genauso „Beutegut“ ist und zurückgegeben werden muss, wie polnische Gemälde, die von den Nazis verbrannt oder insgeheim auf dem Schwarzmarkt verkauft wurden.

Ab und zu taucht etwas davon bei Auktionen auf, dann gibt es jedes Mal einen Skandal, besonders, wenn das Auktionshaus sich dann darauf beruft, das entsprechende Objekt „in gutem Glauben“ erworben zu haben, obwohl die Liste der aus Polen geraubten Kunstgegenstände online abrufbar ist.

Die guten Absichten führen direkt in Teufels Küche

Rechtlich ist die Lage oft sehr kompliziert, moralisch ist sie eindeutig. Ob Polen nach der Baerbock-Doktrin die „Berlinka“ zurückgeben müsste, weiß ich nicht. Auch im Fall der Benin-Bronzen hat sie es ja peinlichst vermieden, zu erklären, warum diese von Deutschland an Nigeria zurückgegeben werden, obwohl Deutschland sie nie geraubt hat und es Nigeria noch gar nicht gab, als sie von den Briten geraubt wurden.

Moral ist halt einfach flexibler als das Recht. Recht muss man notfalls beugen, die Moral ist von Natur aus sehr biegsam. Hängt der moralische Imperativ zur Rückgabe nun am „Herkunftsprinzip“ (restituiert werden muss dem Staat, der die Nachfolge des Staates angetreten hat, dessen Bürger der Schöpfer der Kunst war) oder am „Territorialprinzip“ (restituiert werden muss an den Staat, der jetzt über das Territorium herrscht, von dem der Kunstgegenstand verbracht wurde)? Oder vielleicht sogar an noch etwas anderem, zum Beispiel an den Moralvorstellungen der Deutschen oder ihrer Außenministerin?

Ich kann mir vorstellen, dass viele Grüne Bauchschmerzen bekommen, wenn die Baerbock-Doktrin so ausufert, dass die „Berlinka“ wieder zu Beutekunst erklärt wird. Aber wie will man ernsthaft erklären, dass Nigeria von Deutschland bekommt, was Deutschland ihm nie geraubt hat, Polen von Deutschland nicht bekommt, was Deutschland ihm geraubt hat und Polen zugleich das zurückgeben soll, was es auch nie geraubt hat? So kommt es, wenn man sich auf einen solchen niederländischen Moral-Wettlauf einlässt: Die guten Absichten führen direkt in Teufels Küche.

Deutschland klopft sich selbst auf die Schulter

Als Wim Koks Minister ihren Wettbewerb darum austrugen, wer die radikalste Moral und das radikalste Verantwortungsbewusstsein zur Schau stellt, da spielten die Ereignisse von Srebrenica eigentlich gar keine Rolle. Niemand dachte damals an Visaerleichterungen für die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer.

Entschädigungen mussten sich letztere in jahrelangen Prozessen vor niederländischen Gerichten selbst erkämpfen. Sogar die Soldaten, die man nach Srebrenica geschickt hatte, wurden alleingelassen. Viele litten später an PTSD. Es ging nicht um Bosnien, es ging nicht um Srebrenica, es ging um die niederländische Moral. Und so ist es auch jetzt in Deutschland: Wenn deutsche Politiker, deutsche Journalisten, deutsche Medien über Kolonialismus diskutieren, dann diskutieren sie eigentlich nur über sich selbst und ihr Land. Es ist eine Selbstbespiegelung, für die Afrikaner überhaupt nicht notwendig. Es geht darum, wer heute in der deutschen Politik und Öffentlichkeit auf der richtigen Seite steht.

Niemand fällt es auf, dass dabei ständig Begriffe in ihrer heutigen Bedeutung auf Situationen angewandt werden, in denen sie gar keine oder eine ganz andere Bedeutung als heute hatten: Der kapitalistische, individualistische Eigentumsbegriff wird übertragen auf eine Zeit, in der es in Afrika entweder gar nichts entsprechendes oder kollektives Eigentum gab, das von (in der Regel männlichen) Klan-Oberhäuptern und Königen verwaltet wurde.

Welchen Sinn macht es, von Landbesitz und Privateigentum in Länder zu sprechen, in denen sich nomadische Rinderzüchter und Bauern das Land teilten und die Nomaden jedes Jahr woanders hinzogen? Im 19. Jahrhundert wurden in Europa die Menschenrechte formuliert und das humanitäre Völkerrecht entstand. Es trennte klar zwischen Zivilisten und Kriegsgefangenen (die man human behandeln musste) und Kombattanten, die man umbringen durfte, wenn sie sich nicht ergaben.

Die Logik dahinter ging an der Kriegsrealität in Afrika völlig vorbei: Dort gab es keine Schlachten, die nur zwischen Armeen ausgetragen wurden, man konnte Zivilisten und Kombattanten nicht trennen und man konnte Kriegsgefangene nicht human behandeln, ohne den eigenen Leuten Nahrung und Wasser zu entziehen.

Als die Zulu im 19. Jahrhundert gen Süden zogen und dabei kleinere Völkerschaften unterwarfen, machten sie keine Gefangenen. Die feindlichen Krieger wurden erschlagen, ihre Frauen wurden mit Zulu verheiratet, die Kinder adoptiert, nach einiger Zeit wurden sie alle zu Zulu. Nach heutigem Völkerstrafrecht war das Völkermord. Es macht nur wenig Sinn, das in diesem Licht zu betrachten, denn man kann einem Zulu-Königtum im 19. Jahrhundert nicht ernsthaft vorwerfen, keine liberale Demokratie mit Minderheitenschutz gewesen zu sein.

Das wäre ja fast so, als würde man dem Oba von Benin vorwerfen, seine Vorfahren seien Sklavenhändler gewesen zu einer Zeit, als fast alle Herrscher in Westeuropa und Westafrika Sklavenhändler waren. Das hat nur einen Sinn: Nämlich zu demonstrieren, dass wir heute gegen Sklavenhandel sind.

Dieser Nachweis ist überaus sinnvoll und nützlich, aber die Opfer des heutigen Sklavenhandels hätten mehr davon, wenn wir diese Debatte nicht über Kolonialismus vor über hundert Jahren, sondern jetzt in den Billig-Bordellen unserer Großstädte oder bei der Debatte um eine rationale Einwanderungspolitik führen würden. Sonst wird daraus nur ein erneuter Schönheitswettbewerb, wie vor 21 Jahren in den Niederlanden: Wer ist Weltmeister im moralischen Handeln und kommt damit schneller in Teufels Küche.

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