Reigen | Interpretation
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Interpretation

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„Reigen“ von Arthur Schnitzler ist auf den ersten Blick eine leichte Unterhaltung. Doch in dem Stück steckt viel Gesellschaftskritik in Bezug auf Wien um 1900. Viele Aspekte lassen sich auch auf die heutige Gesellschaft übertragen. Das trifft ebenfalls auf die Darstellung des Frauenbildes und die implizite Kritik an der Ungleichstellung zwischen den Geschlechtern zu.

In dieser Interpretation findest Du interessante Einblicke in die Themen Gesellschaftskritik und Frauenbild/Emanzipation. So fällt es viel leichter, die tiefere Bedeutung hinter dem leichten Stück zu erkennen. Lass Dich dazu anregen, den „Reigen“ selbst zu deuten – mit dieser einfach verständlichen, mit zahlreichen Textbeispielen ausgestatteten Interpretation!

Gesellschaftskritik

Die Moralvorstellungen

Die Szenen in Arthur Schnitzlers „Reigen“ enthalten einige direkte und indirekte gesellschaftskritische Aussagen. Doch auch als Ganzes wirkt das Stück zur Zeit seiner Premieren in Berlin und Wien wie ein Fingerzeig auf die spießbürgerliche Intoleranz der Gesellschaft. Die große Ablehnung, die dem Stück „Reigen“ entgegenschlägt, besonders, als es auf die Bühne gebracht wird, deckt die Prüderie und Engstirnigkeit der Gesellschaft auf. Obwohl nicht ein einziges Mal die Beschreibung  einer tatsächlichen Sexszene enthalten ist – der Autor spart diesen Teil aus und markiert ihn mit Gedankenstrichen – wird er als „Pornograph“ bezeichnet. Inwiefern Schnitzler geplant hat, mit dem Stück an sich zu provozieren, damit sich die bürgerliche Verklemmtheit zeigt, ist nicht geklärt.

In den Dialogen sind an manchen Stellen verschiedene Formen der Kritik an der gesellschaftlichen Ordnung und dem Zustand der österreichischen Hauptstadt zur Zeit des Fin de Siècle eingebaut. Zunächst lässt sich feststellen, dass viele der Figuren unglücklich sind, was ein Indikator dafür sein könnte, dass etwas an den Lebensbedingungen der Bürger nicht stimmt.

Die dargestellte Verdrossenheit

Die Dirne hat über den Zustand, dass das Leben flüchtig sei, resigniert. Auch deswegen drängt sie den Soldaten zum schnellen Abenteuer an Ort und Stelle: „Wer weiß, ob wir morgen noch’s Leben haben“, (S. 9). Der Soldat selbst ist des Lebens sogar überdrüssig. Als die Dirne ihn davor warnt, er könnte in der Nähe des Ufers ausrutschen und in die Donau fallen, antwortet er: „Wär eh das Beste“, (S. 9). Aber nicht nur in der unteren Schicht der Gesellschaft werden finstere Gedanken und Gefühle der Figuren gezeigt. Auch die junge Frau, eigentlich eine gut situierte Bürgerin, die in sicheren Verhältnissen lebt, ist „unglücklich“ und freut sich darüber, dass ihr Geliebter dies anerkennt (S. 33).

Die Schauspielerin antwortet auf die Frage, ob sie die Menschen, also auch ihre Anhängerschaft, gern hat: „Gern —?? Ich hasse sie! Ich kann keine seh’n! Ich seh’ auch nie jemanden. Ich bin immer allein, dieses Haus betritt niemand“, (S. 102), und fügt gleich noch hinzu: „Ich habe keine Ahnung, wozu ich lebe!“, (ebd.). Und sogar der Graf, der an der sozialen Spitze der „Reigen“-Pyramide steht, hat seine Lebenslust verloren. Nicht einmal das Essen bringt ihm noch Genuss: „Es ist ja wirklich kein Vergnügen, das Dinieren“, (S. 100). Statt einen Sinn im Leben zu finden, betäubt er sich am Ende, indem er eines Nachts so viel Alkohol trinkt, dass er am nächsten Tag nicht einmal mehr weiß, dass er Sex mit der Dirne hatte (S. 111 ff.).

Mitglieder der verschiedensten Gesellschaftsschichten sind in „Reigen“ meistens unzufrieden mit ihrem Leben. Es kommt nicht darauf an, wie gesichert ihre Umstände sind, ob sie verheiratet sind oder was sie beruflich tun. Etwas stimmt nicht mit den Lebensumständen der Menschen. Der Leser kommt den Problemen in der Gesellschaft näher auf die Spur, wenn er sich weitere Aspekte des „Reigen“ ansieht.

Glück und Reichtum

In dem Bild, das Schnitzler von der Wiener Gesellschaft zeichnet, sind die Menschen bestimmten Rollen zugeordnet. Ihre gesellschaftlichen Positionen sind fest, und sie haben keine Perspektive, aus diesen ausbrechen zu können. Die sozialen Stufen, auf denen die verschiedenen Figuren stehen, klaffen teilweise sehr weit auseinander. Die Protagonisten äußern auch keine Ambitionen, diesen Zustand zu ändern. Sie scheinen sich alle mit ihrem Status abgefunden zu haben. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht macht in der Erzählung keine wesentlichen Unterschiede für die Protagonisten: Sowohl die Reichen als auch die Armen suchen Glück und Liebe, sexuelle Lustbefriedigung oder Trost in flüchtigen Affären mit fremden Menschen.

Was könnte sonst der Sinn der großen sozialen Unterschiede sein, wenn Reichtum nicht glücklich macht? In der letzten Szene wird die Bedeutung der Gesellschaftsklassen kritisch hinterfragt. Der Graf, der sich bei der Dirne auf dem Zimmer befindet, beobachtet sie im Schlaf und stellt fest, dass man der schlafenden Dirne ihren Beruf, also ihre soziale Stellung, gar nicht ansieht: „Wenn man nicht wüßt’ (sic), was sie ist! (Betrachtet sie lange.) Ich hab’ viel ’kennt, die haben nicht einmal im Schlafen so tugendhaft ausg’seh’n“, (S. 112). Es kommt ihm eine Erkenntnis: „… der Schlaf macht auch schon gleich, kommt mir vor; — wie der Herr Bruder, also der Tod“, (S. 112).

Im Tod sind alle Menschen gleich, egal, welche soziale Stellung sie im Leben haben (siehe zum Beispiel „Dantons Tod“). Beim Schlafen ist es genauso. Alle Menschen erfüllen sich, wenn sie schlafen, ein ihnen gemeinsames Grundbedürfnis. Auch wenn Menschen Sex haben, trifft dies meistens zu. Unglück und Krankheit sind ebenso Elemente, die die Menschen ohne Rücksicht auf den gesellschaftlichen Status treffen können (siehe zum Beispiel „Buddenbrooks“).

Glück und Liebe sind universell und wären für alle ohne Klasseunterschied zugänglich, wenn die Menschen nicht auch hier durch die Moral, die Politik oder die Religion Barrieren errichtet hätten (siehe zum Beispiel „Kabale und Liebe“). Dies könnte vielleicht und beispielsweise das Dilemma des Grafen erklären.

Sex und gesellschaftlicher Stand

Sex ist im Prinzip klassenlos, denn er ist naturgegeben und nicht vom Menschen geschaffen. Und er bringt mit sich, dass es schwer zu erkennen ist, welche soziale Stellung die Menschen haben, eben weil sie oft dabei nackt sind, also z. B. nicht durch bestimmte Kleidungsstücke über ihren Reichtum Auskunft geben. Der Mensch aber schafft es, dass auch Sex mit sozialen Schichten in Zusammenhang gebracht wird. Es wird in der Welt des „Reigen“ z. B. als unschicklich angesehen, dass der höhergestellte Bürgersohn, der junge Herr, mit dem Stubenmädchen schläft, das sozial niedriger als er gestellt ist und für ihn arbeitet. Obwohl er sie eindeutig begehrt, ist er nach dem Akt „unangenehm berührt“ und will so schnell wie möglich der Situation entfliehen (S. 24).

Abgesehen von der Dirne, die Sex als Beruf ausübt, und der emanzipierten Schauspielerin, sind die Figuren in Schnitzlers Stück in starke soziale Strukturen eingebunden, auch wenn es darum geht, mit wem sie schlafen. Für eine bürgerliche verheiratete Frau gilt es als undenkbar, eine außereheliche Affäre zu haben. Deswegen ist die junge Frau so verzweifelt über die Situation, in der sie sich befindet, begibt sich verschleiert zum Treffpunkt ihrer Affäre und ist immer noch panisch darüber, dass ein Bekannter sie entdeckt haben könnte (S. 26 f).

Die Figur des Ehegatten wirkt wie die personifizierte Heuchelei des Bürgertums, zu der die Menschen aufgrund des starken gesellschaftlichen Drucks gezwungen sind. Statt sich über das Thema auszuschweigen, führt er seiner Ehefrau lange aus, dass er mit Frauen, die sich auf Affären einlassen, nur Mitleid habe und dass es diesen an „Auffassung für das, was erlaubt, was sittlich und edel ist“, fehle (S. 46). Er verlangt sogar von seiner Frau, Freundschaften zu „solchen“ Frauen aufzugeben, sollte sie solche pflegen (S. 49).

Wie „tadellos“ sein eigenes Verhalten ist, das zeigt sich dann in der nächsten Szene, in der der Ehegatte dem süßen Mädel nachsteigt, es zum Essen einlädt und verführt (S. 54 ff.). Das süße Mädel ist eine der Frauen von der Art, für die er angeblich Mitleid empfindet und die nicht gut und tugendhaft seien, wie er es seiner Gattin erklärt. Dem Mädel gegenüber tut er aber, als wäre nichts dabei, dass es mit ihm geschlafen hat, und als denke er deswegen nicht schlecht von ihm: „Ja — was machst du dir denn da für Sorgen. Ich glaub’ gar nichts Schlechtes von dir. Ich glaub’ halt, daß (sic) du mich lieb hast“, (S. 66).

„Reigen“ stellt eine Welt dar, in der soziale Unterschiede groß sind. Bis auf wenige Ausnahmen sind ganz besonders die Frauen, aber auch die Männer von gesellschaftlichen Zwängen und moralischen Erwartungen umgeben. Sie können nicht frei leben und lieben und versuchen daher, durch Lügen und Heuchelei ihren zu Status erhalten.

Frauenbild und Emanzipation

Das Festhalten an alten Rollenbildern

In der Zeit um die Jahrhundertwende 1900 bilden sich in Österreich und Deutschland Frauenbewegungen, die sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzen. Das stößt in der männlichen Bevölkerung teilweise auf Zweifel und Unmut. Einige Wissenschaftler, Ärzte und Psychologen versuchen, das Frauenbild wieder zu definieren, und häufig wird sich dabei an den traditionellen Geschlechterrollen orientiert. Frauen sollen immer noch als dem Mann intellektuell unterlegen angesehen ...

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