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italienisch

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Sachliteratur, Epik / Prosa

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Philosophie, Politik / politische Theorie, Brief

Während seiner langjährigen politischen Gefangenschaft hat Gramsci seine Überlegungen 1929 bis 1935 in den sogenannten Quaderni del carcere, 1948–1951 (Gefängnishefte, 1991–2002, K. Bochmann u. a.), niedergeschrieben. Die insgesamt 32 Hefte mit fast 3000 Seiten können als sein politisch-philosophisches Hauptwerk gelten, auch wenn sie sich der Kategorie des Werkes durch ihren notizenhaften Charakter gerade entziehen.

Die zunächst nur in edierter Auswahl, ab 1975 in einer italienischen kritischen Gesamtausgabe, seit 2002 auch in deutscher Übersetzung komplett vorliegenden Quaderni del carcere zählen zu den originellsten und einflussreichsten Beiträgen zur marxistischen Diskussion des 20. Jh.s und werden zu den Gründungstexten des sogenannten westlichen Marxismus gezählt, der bemüht ist, sich von den deterministischen und ökonomistischen Tendenzen des orthodoxen Marxismus abzugrenzen.

Thematisch und methodologisch decken die Gefängnishefte eine enorme Bandbreite ab, die von der Geschichte Italiens und der Arbeiterbewegung über Analysen des Fordismus – jener Form der standardisierten industriellen Massenproduktion, die nach dem US-amerikanischen Industriellen H. Ford benannt ist –, und des Bildungssystems bis zu einer Theorie des Alltagsverstands, der Populärkultur und der Hegemonie reicht, aber auch gründliche und innovative Auseinandersetzungen mit Theoretikern wie N. Machiavelli, B. Croce und natürlich K. Marx umfasst. Insgesamt ist Gramscis Werk dem Projekt verpflichtet, den Marxismus als eine Philosophie der Praxis weiterzuentwickeln, die sich gegen jeglichen ökonomistischen Reduktionismus wendet. Politik und Kultur werden von ihm daher nicht als Reflex der ökonomischen und sozialen Verhältnisse begriffen, sondern als Austragungsorte von Kämpfen, denen eine eigenständige Bedeutung zukommt.

Angesichts der schwerwiegenden Rückschläge, die die revolutionären Bewegungen im ersten Drittel des 20. Jh.s in den westlichen Gesellschaften erlitten haben, rückt Gramsci die kulturellen und strukturellen Hindernisse, die für das bisherige Ausbleiben der Revolution zumindest mitverantwortlich sind, ins Zentrum seiner Analyse. Damit lässt er die kulturellen Bedingungen sowie das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft als relevante Faktoren neben die ökonomischen Verhältnisse treten. Als besonders zentral für Gramscis Analyse erweisen sich dabei die Begriffe ‚Hegemonie‘ und ‚Zivilgesellschaft‘ sowie die Rolle der Partei und der Intellektuellen.

Unter Hegemonie versteht man im Allgemeinen die Vorherrschaft einer gesellschaftlichen Kraft – z. B. einer Klasse –, insofern diese nicht bzw. nicht allein durch Zwang, sondern zumindest auch kulturell-politisch sowie ideologisch vermittelt durch die Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen etabliert und reproduziert wird. Gramsci kennt zwei hegemoniale Hauptgruppen, deren Führungsstatus sich aus den ökonomischen Produktionsverhältnissen ergibt: Proletariat und Bourgeoisie. In Abgrenzung zu Herrschaft, die allein auf Autorität und Zwang beruht, beschreibt Gramsci Hegemonie als eine Art der (alltags-)kulturellen, moralischen und intellektuellen Führung und Zustimmungsmobilisierung, mit der diese Hauptgruppen sich selbst eine einheitliche Identität verschaffen, das soziale Feld strukturieren und ihre eigene Position so gegen Angriffe der gegnerischen Hauptgruppe zu stabilisieren suchen. In modernen Gesellschaften sind Gewalt und Konsens, Zwang und Zustimmung untrennbar miteinander verflochten.

In diesem Kontext verliert die Strategie des Bewegungskrieges, in dem es primär um die Übernahme der Staatsmacht geht, zugunsten der Strategie des Stellungskrieges an Bedeutung, also des alltäglichen und kleinteiligen Kampfes um Hegemonie durch den Aufbau einer Gegenhegemonie in den Institutionen der Zivilgesellschaft und der öffentlichen Meinung. Unter dem Begriff der Zivilgesellschaft, die als Stütze des Staates im engeren Sinn (politische Gesellschaft) fungiert, von ihm aber zum Staat im weiteren Sinn (integraler Staat) gerechnet wird, fasst Gramsci so unterschiedliche Institutionen wie Medien, Museen, Kirchen und Schulen, aber auch die Architektur und die Gestaltung des öffentlichen Raumes. Gramscis Hegemoniebegriff betont damit die Materialität der entsprechenden Strukturen des Denkens, Handelns und Fühlens.

Gramsci entwickelt seine Überlegungen zur politischen Praxis in Auseinandersetzung mit Machiavelli – dessen Theoriebildung ebenfalls in der politischen Praxis verankert und stets historisch spezifisch ist – und präsentiert die politische Partei als den „modernen Fürsten“. Der Partei kommt die Rolle zu, als überindividuelle Instanz den Kollektivwillen zugleich zu manifestieren sowie zu konkretisieren und in diesem Prozess allererst zu bilden und so die zersplitterte Masse zu einem einheitlichen Akteur zu formen. Die politische Wirklichkeit wird von Gramsci ebenso wie von Machiavelli dabei nicht als statisch und gegeben, sondern als sich in ständiger Bewegung befindliches Kräfteverhältnis verstanden, in das die politischen Akteure permanent zu intervenieren gezwungen sind.

In diesem Prozess spricht Gramsci auch den Intellektuellen eine wichtige Rolle zu. Zwar ist seinem den Alltagsverstand („senso commune“) nicht abwertenden, sondern ernst nehmenden Ansatz zufolge jeder Mensch ein Intellektueller, aber nicht jeder hat die gesellschaftliche Funktion oder Rolle eines Intellektuellen, die für die Etablierung und Stabilisierung politischer Hegemonie wesentlich ist. Gramsci unterscheidet des weiteren traditionelle Intellektuelle (wie Akademiker und Künstler, die sich für klassenunabhängig halten, letztlich aber dem Status quo verpflichtet sind) und organische Intellektuelle, die sich innerhalb der sozialen Klassen herausbilden, die Erfahrungen und Interessen dieser Klassen zugleich artikulieren und formen und daher für die Herstellung des Kollektivbewusstseins und -willens zentral sind.

Gramscis theoretische Überlegungen – insbesondere zum Begriff der Hegemonie sowie der theoretischen und politischen Bedeutung von Kultur und Zivilgesellschaft – sind von so unterschiedlichen Autoren wie L. Althusser, E. Laclau und C. Mouffe sowie den Vertretern der Cultural Studies und Postcolonial Studies aufgegriffen und weiterentwickelt worden und erweisen sich damit bis heute als theoretisch und politisch fruchtbar.

Aufschlussreich mit Blick auf Gramscis Werk und dessen Entstehung sind auch Gramscis Lettere dal carcere, 1947 (Gefängnisbriefe, 1995–2014, U. Apitzsch u. a.), die vor allem aus Briefen an seine Familie, insbesondere seine Frau Giulia und seine Schwägerin Tatjana bestehen. Bei ihnen handelt es sich um ein Zeugnis nicht nur der zunehmend belastenden und entfremdenden Isolation der Gefangenschaft, sondern auch von Gramscis den Umständen abgetrotzter denkerischer Originalität und Radikalität.