1.1 Eine kurze Geschichte der Antikörper

Emil von Behring und Shibasaburō Kitasato haben als erstes nachgewiesen, dass eine Substanz im Blut existiert, die Toxine neutralisieren kann (von Behring und Kitasato 1890). Diese Substanz wurde damals als „Antitoxin“ bezeichnet. Durch die aus dieser Erkenntnis abgeleitete Serumtherapie konnte erstmals die Diphtherie (Krupphusten) behandelt werden. Von Behrings Forschung ist ein gutes Beispiel für das, was wir heute als „translationale Forschung/Medizin“ bezeichnen. Für seine Beiträge zur Serumtherapie hat Emil von Behring 1901 den ersten Nobelpreis für Medizin bekommen (Linton 2005). 1904 gründete er die Behringwerke in Marburg, um die Serumtherapie weiter zu entwickeln und um medizinisch breit anwendbare Serumprodukte herzustellen.

1897 veröffentlichte Paul Ehrlich die „Seitenkettentheorie“. Er postulierte, dass Zellen im Körper spezielle Moleküle – die er „Seitenketten“ nannte – bilden und diese chemisch an die Toxine binden und somit das Toxin an der Zelle fest verankert wird. Bei erneuter Immunisierung und höheren Giftdosen würden diese Seitenketten sekretiert. Diese sekretierten Seitenketten besäßen eine „größere Verwandtschaft“ zu dem Gift. Er schlug auch vor, dass diese „Seitenketten“ – die, wie wir heute wissen, nichts anderes als Behrings Antitoxine sind, heute als Antikörper bekannt – und Toxin wie Schlüssel und Schloss zueinander passen müssen (Ehrlich 1897). Paul Ehrlich erahnte so in hellsichtiger Weise nicht nur die strukturelle Grundlage der hochspezifischen Bindung der Antikörper an Fremdstoffe, sondern antizipierte bereits die B-Zell-Reifung mit ihrer frühen Form membrangebundener Antikörper als Rezeptoren, dem Umschalten auf sekretierte Antikörper, der Affinitätsreifung durch somatische Hypermutation und sogar der Gedächtnisfunktion des Immunsystems. Er bekam dafür 1908 zu Recht den Nobelpreis.

Ein weiterer wichtiger Schritt für die Antikörperforschung war die Arbeit von Astrid Elsa Fagraeus-Wallbom in Schweden. Sie zeigte Ende der 1940er Jahre, dass Antikörper von Plasmazellen gebildet werden (Fagraeus 1948). Der Australier Frank Macfarlane Burnet stellte Ende der 1950er Jahre in Melbourne die Klon-Selektionstheorie der adaptiven Immunantwort auf. Diese Theorie beschreibt, wie B-Zell-Klone, deren Antikörper körpereigene Strukturen erkennen, deletiert werden, wie B-Zell-Klone durch Kontakt mit dem Antigen selektioniert werden, ein solcher Klon dann expandiert und letztendlich lösliche Antikörper produziert (Burnet 1959, 1957). Burnet bekam hierfür zusammen mit dem Briten Peter Medawar 1960 den Nobelpreis für Medizin. Mit Unterstützung von Frank Burnet fanden der Doktorand Gustav Nossal und der amerikanische Gastprofessor Joshua Lederberg heraus, dass jede individuelle B-Zelle nur jeweils eine Antikörperspezifität produziert, was die Klon-Selektionstheorie unterstützte (Nossal und Lederberg 1958).

Die Struktur von Antikörpern wurde von dem Briten Rodney Porter und dem Amerikaner Gerald Edelman aufgeklärt. Sie beschrieben, dass ein Antikörper aus zwei schweren Polypeptidketten und zwei leichten Polypeptidketten besteht (Edelman und Gally 1964; Edelman und Poulik 1961; Porter 1959) (Abb. 1.1). Hierfür wurden sie 1972 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. David Givol und Kollegen konnten 1973 am Weizmann Institut in Israel aufklären, dass der Fv-Teil für die Antigenbindung verantwortlich ist (Hochman et al. 1973). Ein weiterer wichtiger Schritt bei der Strukturaufklärung war die erste Röntgenstrukturanalyse eines Antikörpers durch Allen Edmundson (Edmundson et al. 1972; Schiffer et al. 1973).

Abb. 1.1
figure 1

Schematische Darstellung eines Immunglobulins (IgG) und davon abgeleiteten antigenbindenden Fragmenten. a Röntgenkristallstruktur eines IgG. Die linke Hälfte ist zur Darstellung der Polypeptidketten halbdurchsichtig gezeigt. Der Carboxyterminus der schweren Kette (grau) liegt unten, jener der leichten Ketten (rot) in der Nähe der hinge. Eine genauere Darstellung der Glykosylierungen des Fc-Teils ist in Abb. 3.7 gezeigt. b Schematische Darstellung eines IgG, Fab und scFv. Abkürzungen: CDR: complementarity-determining region ; CL, CH1–CH3: konstante Regionen; Fab: fragment antigen binding; Fc: fragment crystallizable; Fv: fragment variable; HC: heavy chain/schwere Kette (grau); LC: light chain/leichte Kette (rot); scFv: single chain-Fv (Abschn. 3.1 und Abb. 1.8b). VL: variable Region der leichten Kette; VH: variable Region der schweren Kette; tag: Carboxyterminale Verlängerung zur Veränderung der biochemischen Eigenschaften des Fusionsproteins (Abschn. 4.4.3.2). Disulfidbindungen zwischen Polypeptidketten sind gelb dargestellt

1975 wurde ein Meilenstein für die gezielte Nutzung von Antikörpern erreicht: Generierung und Produktion von monoklonalen Antikörpern gelangen durch die Hybridom-Technologie (Abschn. 2.3). Diese Technologie ermöglichte es erstmals, antikörpersekretierende B-Zellen im Labor zu vermehren und damit die daraus sezernierten Antikörper in größerer Menge und konstanter Qualität zu produzieren (Köhler und Milstein 1975). Diese Arbeit des Deutschen Georges Köhler und des Argentiniers César Milstein wurde 1984 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Heute weiß man, dass monoklonale Antikörper nicht notwendigerweise monospezifisch sind, wie der Name suggeriert, da Hybridome oft mehrere Antikörpergene exprimieren (Abschn. 2.3.1 und 5.1.2). Dennoch haben die monoklonalen Antikörper die biologische Forschung revolutioniert, insbesondere unsere Kenntnisse über Proteine, weil mit ihnen erstmals hochselektive und beliebig produzierbare Nachweisreagenzien für die Vielfalt dieser Molekülklasse zur Verfügung standen.

Wie entsteht die Diversität der Antikörper? Diese essenzielle Frage wurde Anfang der 1980er Jahre am Immunologischen Institut in Basel durch Susumu Tonegawa geklärt und 1987 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Er konnte zeigen, dass Antikörpergene kombinatorisch aus Genmodulen – vergleichbar mit Legosteinen – bei der Reifung der B-Zellen neu zusammengesetzt werden (Abschn. 1.4) (Hozumi und Tonegawa 1976; Tonegawa 1983).

Für die biotechnologische Nutzung von Antikörpern war es wichtig, dass der eigentliche antigenbindende Teil des Antikörpers, also das Fv-Fragment, in E. coli produziert werden konnte. Dies gelang 1988 Arne Skerra während seiner Promotion bei Andreas Plückthun (Skerra und Plückthun 1988). Wesentlich besser funktionierte diese Produktion aber, wenn beide V-Regionen durch einen Peptidlinker zu einer durchgehenden Polypeptidkette, einem scFv-Fragment, verbunden wurden (Abb. 1.1, Huston et al. 1988).

Ein nächster bahnbrechender Schritt für die Generierung von humanen Antikörpern war das Antikörperphagendisplay, dass es ermöglichte, Antikörperfragmente in vitro – ohne Tierversuche – zu selektionieren (Abschn. 2.6). Diese Technologie wurde zeitgleich am Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg von Frank Breitling und Stefan Dübel, von John McCafferty am MRC Laboratory of Molecular Biology in Cambridge (UK) und Carlos F. Barbas III am Scripps Research Institute in La Jolla (Kalifornien) entwickelt (Barbas et al. 1991; Breitling et al. 1991; Clackson et al. 1991; McCafferty et al. 1990). Die Entwicklung dieser Technologie wurde im Jahr 2018 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Eine zweite bedeutende Technologie für die Generierung von menschlichen Antikörpern, die einige Jahre später entstand, war die Entwicklung von transgenen Mäusen, die anstelle der Chromosomenabschnitte für die murinen Antikörpergenfragmente die menschlichen Antikörpergenfragmente tragen (Abschn. 2.5) (Jakobovits 1995; Lonberg und Huszar 1995). Das Antikörperphagendisplay und die transgenen Tiere wurden seit den 1990er Jahren kontinuierlich weiterentwickelt und sind heutzutage die Kerntechnologien für die Generierung von rein menschlichen Antikörpern für therapeutische Anwendungen.

1.2 Wofür braucht der Mensch Antikörper?

1.2.1 Antikörper sind Teil des Immunsystems

Antikörper sind Teil des Immunsystems, des vielseitigen Abwehrsystems des Körpers gegen Eindringlinge. Antikörper oder Immunglobuline sind Teil des adaptiven Immunsystem und haben ihren Ursprung vor etwa 500 Mio. Jahren, als die Vertebraten während der kambrischen Radiation entstanden sind (Pancer und Cooper 2006). Sie sind Glykoproteine und haben die Aufgabe, körperfremde Substanzen spezifisch zu binden, sie für das Immunsystem zu markieren und letztendlich unschädlich zu machen. Solche fremden Substanzen können Pathogene wie Bakterien, Viren, Pilze, Parasiten, aber auch eigentlich harmlose Substanzen wie z. B. Pflanzenpollen sein. Pathogene werden unschädlich gemacht, indem Antikörper direkt deren Bindung an die menschliche Zielzelle verhindern oder sie bedecken (opsonieren) und dadurch für Effektormechanismen des Immunsystems markieren, sodass die Pathogene z. B. durch das Komplement zerstört oder von Makrophagen aufgenommen werden können (Abschn. 1.3.3, Murphy et al. 2018).

1.3 Wie sind Antikörper aufgebaut und wie entstehen sie?

1.3.1 Wie sieht die Struktur von Antikörpern aus?

1.3.1.1 Antikörper bestehen aus selbstähnlichen Immunglobulindomänen

Antikörper sind aus einer unterschiedlichen Anzahl von Immunglobulindomänen aufgebaut, die alle eine hohe strukturelle Ähnlichkeit zueinander aufweisen: den immunglobulin fold (engl.). Charakteristisch für diese Domänen ist eine Sekundärstruktur aus gegenläufigen β-Faltblättern, welche eine fassförmige Struktur bilden und durch jeweils eine interne Disulfidbrücke pro Domäne stabilisiert werden (Chothia et al. 1985) (Abb. 1.1 und 1.6). Dieses „framework“ aus gegenläufigen β-Faltblättern bildet eine stabile Gerüststruktur für Peptidschleifen welche eine ausreichend große Kontaktfläche zum Antigen bilden, um dieses hochaffin und hochspezifisch zu binden zu bieten (Abb. 1.3).

Die hohe strukturelle Ähnlichkeit zwischen den verschiedenen Domänen von Antikörpern gibt ein Hinweis darauf, dass der immunglobulin fold die Evolution der Antikörper und des gesamten Wirbeltier-Immunsystems wahrscheinlich stark beschleunigt hat. Durch den modularen Aufbau aus ähnlichen Grundmodulen konnten Antikörper – wie auch viele andere Moleküle des Immunsystems wie CD4, CD8 oder viele Zelladhäsionsmoleküle (vgl. auch Abb. 1.5) – durch Genduplikation schnell an neue Funktionen angepasst werden, ohne dass eine komplette Neuentwicklung der Struktur notwendig gewesen wäre (Bork et al. 1994; Chen et al. 2018).

1.3.1.2 Aufbau eines Immunglobulins (IgG)

Die häufigste Antikörperklasse in unserem Blut ist das Immunglobulin G (IgG) (Maddison und Reimer 1976). Von dieser Antikörperklasse gibt es im Menschen vier Subklassen: IgG1, IgG2, IgG3 und IgG4, wobei IgG1 am häufigsten ist (Heiner 1984; Morell et al. 1972). Antikörper sind aus zwei unterschiedlichen Polypeptidketten aufgebaut, zwei identischen leichten Ketten (LC) und zwei identischen schweren Ketten (HC), die untereinander über Disulfidbrücken kovalent verbunden sind (Edelman1973; Edelman et al. 1963; Edelman und Gally 1964; Edelman und Poulik 1961) (Abb. 1.1).

Die leichte Kette besteht aus zwei Immunglobulindomänen und hat eine molare Masse von etwa 25 kDa. Es gibt zwei Typen von strukturell unterschiedlichen leichten Ketten, Kappa (κ) und Lambda (λ) (Cohen und Gordon 1965; Kabat et al. 1975; Milstein et al. 1967). Die schwere Kette besteht beim IgG aus vier Immunglobulindomänen mit einer molekularen Masse von etwa 50 kDa. Die gesamte molekulare Masse eines IgG beträgt ~ 150 kDa (Cohen und Milstein 1967; Tomasi 1965).

Die zwei C-terminalen Immunglobulindomänen der schweren Kette bilden das fragment crystalizable oder constant (Fc) (Porter 1959). Das Fc-Fragment ist in der CH2 Domäne an der Position Asparagin-297 glykosyliert (Jefferis et al. 1998) (Abschn. 3.5.1 und Abb. 3.7). Über die flexible hinge - oder Gelenkregion ist das Fc-Fragment mit den fragment antigen binding (Fab) verbunden. Im Bereich der hinge sind beide schweren Ketten über Disulfidbrücken verbunden. Aufgrund der flexiblen hinge ist der Winkel und die Orientierung der beiden Fab-Fragmente zueinander sehr flexibel (Abb. 1.6). Das Fab-Fragment besteht aus der leichten Kette und dem fragment difficult (Fd) der schweren Kette, die über eine Disulfidbrücke zwischen CH1 und CL verbunden sind. Die Antigenbindung erfolgt über die N-terminalen Domänen des Fab-Fragments, des fragment variable (Fv) (Mestecky 1972). Das Fv-Fragment besteht aus der variablen Domäne der schweren Kette (VH) und der variablen Domäne der leichten Kette (VL) (Hsu und Steiner 1992) (Abb. 1.1). Der Teil des Antigens, an den das Fv-Fragment bindet, wird als Epitop bezeichnet, das Gegenstück der Bindung – also der Kontaktbereich mit dem Epitiop auf dem Fv-Fragment – heißt Paratop (Abb. 1.7 und Abschn. 2.7.2). Die Bindung erfolgt über nicht-kovalente Wechselwirkungen, wie ionische Wechselwirkungen, Van-der-Waals-Bindungen, hydrophobe Interaktionen und Wasserstoffbrücken. Die relativ große zur Verfügung stehende Interaktionsfläche des Paratops (Abb. 1.2 und 1.3 sowie Abschn. 2.7.2 ff.) ermöglicht dabei hohe Affinitäten und die erstaunliche Spezifität von Antikörpern, welche eine einzige molekulare Determinante in einem hochkonzentrierten Gemisch aus unzähligen anderen Proteinen und Substanzen, wie zum Beispiel in ihrer Heimat, dem Blutplasma, erkennen können.

Abb. 1.2
figure 2

Die strukturelle Vielfalt der Antigenbindungsstellen in den V-Regionen wird durch hypervariable Regionen ermöglicht. Die hypervariablen Regionen wurden aufgrund der in den V-Regionen vorgefundenen Orte erhöhter Variabilität von Kabat et al. (1977) als die Regionen vorhergesagt (b), welche im Antikörper komplementär zum Antigen angeordnet sind (CDR). Die spätere Aufklärung der dreidimensionalen Struktur der V-Regionen (c) bestätigte dies. In der Abbildung sind die sechs verschiedenen CDR (je drei in der VH und VL) verschiedenfarbig markiert, um ihre Anordnung im Schema (a), der Primärstruktur (Sequenz) (b) und der Tertiärstruktur (c) zu zeigen. Gezeigt ist in der Mitte die Sequenz der V-Region der leichten Kette (Aminoterminus links), die hypervariablen Regionen der schweren Kette weisen analoge Hypervariabilitätsregionen auf

Abb. 1.3
figure 3

Dreidimensionale Darstellung eines Fab-Fragmentes zusammen mit seinem gebundenen Antigen. An der Kontaktstelle mit dem Antigen (hier: Lysozym) sind die sechs CDR farbig eingefärbt (siehe kleines Insert). Die Interaktionsfläche von Antikörper und Antigen definiert Paratop und Epitop, Details dazu in Abschn. 2.7.2 und Abb. 1.7. Strukturkoordinaten: 1MLC aus der PDB-Datenbank (https://www.rcsb.org/)

1.3.2 Die variablen Domänen vermitteln die Antigenbindung

Die Bindung an das Antigen erfolgt über die variablen Domänen der Antikörper (Abb. 1.2 und Abschn. 1.3.1.2) (Hochman et al. 1973; Mestecky 1972). Beim Vergleich von Antikörpersequenzen untereinander fielen innerhalb jeder der variablen Domäne Sequenzabschnitte innerhalb von VH und VL auf, die eine Vielzahl unterschiedlicher Peptidsequenzen enthalten konnten (Kabat 1970; Kabat et al. 1977; Wu und Kabat 1970). Diese hypervariablen Regionen sind über die Länge der Antikörpersequenz verteilt (Abb. 1.2b). Die Röntgenstrukturanalyse zeigte aber, dass sie sich im fertig gefalteten Protein außen und zusammen an einer Stelle zusammenfinden (Abb. 1.2b).

Insgesamt sechs dieser hypervariablen Regionen – drei der schweren Kette und drei der leichten Kette – stellen so die eigentliche Kontaktstelle des Antikörpers zum Antigen dar. Man nennt diese Bereiche des Antikörpers deshalb auch „CDR“ (engl. complementarity-determining region ), denn sie bilden eine Struktur, die komplementär zum Antigen ist (Abb. 1.3). Der restliche Teil der variablen Regionen hat dabei die Aufgabe, die räumliche Struktur der hypervariablen Bereiche zu stabilisieren, also ein Gerüst einzuziehen. Dies geschieht mit Hilfe der rigiden Faltblattstruktur der Gerüstregionen ( framework ) (Amit et al. 1986; Chothia et al. 1986; Segal et al. 1974; Tello et al. 1990). Die Sequenz von CDR1 und -2 sind durch die Varianten der V-Gene vorgegeben, die von CDR3 basiert auf der Kombination von mehreren Genelementen, sowie (bei der schweren Kette) zusätzlichen Zufallsmutationen (Details in Abschn. 1.4.1 und Abb. 1.8). Insbesondere die Länge der CDR3 der schweren Kette (CDRH3) ist dadurch sehr variabel. Hier kann die Länge von zwei bis 34 Aminosäuren variieren (Kügler et al. 2015; Zemlin et al. 2003).

Es gibt noch einen weiteren Trick, strukturelle Vielfalt der Antigenbindungsregionen aus einem limitierten Genrepertoire zu erzeugen, damit auch Fv-Regionen gebildet werden können, welche an erst in der Zukunft auftretende, also während der Entwicklung der Immunglobulingene noch nicht bekannte Krankheitserreger, binden. Die Evolution hat die Strukturen so gebildet, dass ein funktionales Fv-Fragment bei sehr unterschiedlichen Bindungswinkeln der beiden V-Regionen zueinander gebildet werden kann (Abhinandan und Martin 2010). Damit steigt wiederum auch die Anzahl möglicher Paratopstrukturen auf Basis der gleichen Proteinsequenz, denn die aus der Anordnung der CDR resultierende Oberfläche ändert sich dadurch stark. Heute nutzt man diese Eigenschaft – quasi ein Drehgelenk – um Antikörperaffinitäten allosterisch zu beeinflussen (Abschn. 5.3.6).

1.3.2.1 Nomenklaturen zur Beschreibung der Antigenbindungsstelle

Um die Primärstruktur verschiedener Antikörper miteinander vergleichen zu können, ist eine vereinheitlichte Nummerierungsmethode für die einzelnen Aminosäurereste der hypervariablen Bereiche erforderlich. Durch solche Vergleiche findet man z. B. die Keimbahn-Gene, von denen der Antikörper abstammt, oder aber die durch die somatische Hypermutation eingeführten Sequenzveränderungen. Definitionsprobleme bereitet dabei die Längenheterogenität in den CDR, insbesondere der CDR3 der schweren Kette (CDRH3). Dazu kommt die unterschiedliche Definition der oft fälschlicherweise synonym verwendeten Begriffe „hypervariable Region“ und „CDR“. Die ursprüngliche Nummerierung erfolgte, benannt nach dem Entdecker, nach dem Kabat-Nummerierungsschema (Kabat et al. 1987) (Abb. 1.4). Es ermöglichte den einfachen Vergleich verschiedener Antikörper nach einem Alignment der Proteinsequenzen. Mit der wachsenden Zahl bekannter Sequenzen mussten allerdings zusätzliche Aminosäurepositionen eingefügt werden. Der Grund dafür ist der große Längenpolymorphismus der hypervariablen Regionen .

Abb. 1.4
figure 4

Vergleich der Nummerierungsmethoden für die V-Regionen nach verschiedenen Autoren. Die Begriffe „CDR“ und „hypervariable Regionen “ beschreiben unterschiedliche Sequenzregionen, und es gibt verschiedene Nomenklaturen für CDR. a Die „Kabat“-Definition basiert auf beobachteter Sequenzvariabilität. Die „Chothia“ -Definition basiert auf der Anordnung der strukturellen Loops. Die „AbM“-Definition ist ein Kompromiss zwischen Kabat und Chothia (benutzt in der Oxford Molecular’s AbM Antikörper-Modellierungs-Software). Die „contact“ -Definition (MacCallum et al. 1996) basiert auf Röntgenkristallstrukturdaten und identifiziert Seitenketten, welche mit dem Antigen interagieren (nach Andrew Martin, (Martin 2010); b „Collier-de-Perles“-Darstellung am Beispiel der VH-Region des Maus Anti-Lysozym-Antikörpers D1.3 (Online-Erstellung: http://www.imgt.org/3Dstructure-DB/cgi/Collier-de-Perles.cgi). Der gelbe Balken im Hintergrund zeigt die Disulfidbrücke innerhalb der Domäne. Die Collier-de-Perles-Darstellung ermöglicht einen raschen Vergleich verschiedener IgG-Domänen und CDR-Identifikation nach standardisierter IMGT-V-Domänen-Nummerierung. Jede „Perle“ ist ein Aminosäurerest, gestrichelte Positionen sind nicht besetzt (Lefranc et al. 2003). Konservierte hydrophobe Reste und Tryptophan (W) sind hellblau unterlegt. Proline (P) sind gelb unterlegt. Die Pfeile geben die Richtung des jeweiligen β-Faltblatts an. Die CDR-Regionen sind analog zu (a) und Abb. 1.2 und 1.3) eingefärbt

Der Begriff „CDR“ ( complementarity-determining regions ) definiert sich dagegen aus der Bindung an das Antigen. Seit der Beschreibung der hypervariablen Regionen sind eine ganze Reihe von Kristallstruktur-Datensätzen verfügbar geworden, die zeigten, dass die eigentliche Antigenbindungsstelle nicht genau mit den hypervariablen Regionen übereinstimmt. Bald war auch klar, dass die nach der Kabat-Definition eingefügten Positionen nicht dem strukturell sinnvollen Insertionspunkt entsprachen. Deshalb wurde eine modifizierte Zählweise eingeführt, die dieser Tatsache Rechnung trägt: die Chothia-Nummerierungsmethode (Chothia und Lesk 1987) (Abb. 1.4a). Die Nummerierung der Aminosäurereste erfolgt im System nach Chothia im Prinzip genauso wie bei Kabat, nur werden die zusätzlichen Aminosäurereste an einer anderer Stelle eingefügt. Ein Kompromiss aus der Kabat- und der Chothia-Nummerierung ist die AbM-Nummerierung von Andrew Martin (Martin et al. 1989). Die Definition der Aminosäurepositionen nach MacCallum et al. (1996) (Contact-Nummerierung) nimmt noch konsequenter Bezug auf die CDR und beruht ausschließlich auf der Analyse der tatsächlichen Antigenkontakte aus Strukturdaten (Abb. 1.4a).

Die aktuellste Darstellungsweise (IMGT®-Nomenklatur) stammt von Marie Paul Lefranc und wird in der größten Datenbank von Molekülen des Immunsystems verwendet. In dieser Nomenklatur werden deshalb Immunglobuline und T-Zell-Rezeptoren einheitlich erfasst (Lefranc et al. 2003). Dieser Standard wird auch von der WHO/IUIS (World Health Organisation/International Union of Immunological Societies) sowie bei den INN (WHO International Nonproprietary Names) als Standard anerkannt (Abb. 1.4b).

Nicht nur die direkt am Antigenkontakt beteiligten Aminosäurereste sind allein für die Bindung des Antikörpers verantwortlich. Auch die frameworks tragen essenziell zur tatsächlichen Konformation der CDR-Schleifen bei und beeinflussen so die Spezifität und Affinität wie auch die Stabilität (Ewert et al. 2003; Hawkins et al. 1993; Honegger und Plückthun 2001; Jung et al. 2001).

1.3.2.2 Einige Kamelantikörper kommen mit einer V-Region aus

Bestimmte VH-Domänen können allein, also ohne VL, spezifisch an ihr Antigen binden (Utsumi und Karush 1964; Ward et al. 1989; Holt et al. 2003). Seltener ist dies für die VL-Domäne allein beschrieben worden. Im Prinzip sollte es also möglich sein, die Fv-Fragmente noch weiter zu verkleinern. Dies war technisch bereits für humane Domänen-Antikörper sehr erfolgreich (Abschn. 2.6.1.10). Die Natur hat aber schon lange vorher erfolgreich ein ähnliches Experiment gemacht: Ein Großteil der Antikörper von Kamelen, Lamas und ihrer Verwandten besitzt nur eine variable Domäne. Die leichten Ketten fehlen vollkommen. Auch die CH1-Domäne der schweren Kette ist deletiert (Desmyter et al. 1996; Hamers-Casterman et al. 1993; Muyldermans et al. 1994). Um die geringere Diversität solcher Antikörper auszugleichen (sie besitzen nur drei statt sechs hypervariable loops), besitzen sie oft eine längere CDR3-Region, und darin eine zweite Disulfidbrücke zur zusätzlichen Stabilisierung des größeren loops in der Paratopstruktur (Li et al. 2016). Diese variablen Domänen der Kamelantikörper können auch ohne konstante Domänen für verschiedenste Anwendungsbereiche genutzt werden (Abschn. 2.6.1.9 und Abb. 5.4).

1.3.2.3 Die chemischen Grundlagen der Antigenbindung

Die Bindung des Paratops eines Antikörpers an das Epitop des Antigens erfolgt durch vier nicht-kovalente Bindungstypen. Bei den Van-der-Waals Kräften gibt es Dipol-Dipol Interaktionen zwischen unpolaren Seitenketten, z. B. zwischen Valin und Alanin. Bei der Wasserstoffbrückenbindung treten elektrostatische Wechselwirkungen zwischen polaren Seitenketten auf, z. B. zwischen einer Hydroxyl-Gruppe von Serin und einer Carbonylgruppe von Glutamin. Ionenbindungen kommen zwischen einer negativ geladenen Carboxylgruppe, z. B. von Glutaminsäure, und einer positiv geladenen Aminogruppe, z. B. von Arginin, vor. Hydrophobe Wechselwirkungen treten zwischen unpolaren Seitenketten auf, z. B. zwischen den aromatischen Ringsystemen von Tyrosin und Phenylalanin oder zwischen den aliphatischen Kohlenwasserstoffketten von z. B. Leucin und Isoleucin (Horton et al. 2008; Reverberi und Reverberi 2007; Van Oss 1995). In der wässrigen Umgebung typischer Antikörper-Antigen-Bindungsreaktionen liefern dabei hydrophobe Wechselwirkungen den größten Beitrag zur Bindungsstärke, während die anderen Bindungstypen wegen der Kompetition durch die allgegenwärtigen Wassermoleküle weniger zur Affinität beitragen können. Aber erst alle Typen in der Summe und insbesondere ihre räumliche Anordnung zueinander definieren jeweils die Affinität und Spezifität eines Paratops.

1.3.2.4 Die fünf Antikörperklassen/Isotyp beim Menschen

Die grundlegende Struktur von Immunglobulinen setzt sich aus selbstähnlichen Domänen aus antiparallelen Beta-Faltblättern zusammen (Abb. 1.5a). Beim Menschen gibt es neben dem IgG weitere Antikörperklassen (auch als Isotyp bezeichnet), die sich u. a. in der Anzahl der Immunglobulindomänen und der Anzahl, sowie der Position der Disulfidbrücken unterscheiden: IgD, IgE und IgM als Monomer, sowie IgA als Dimer und IgM als Pentamer (Abb. 1.5). Auch bei der Erzeugung dieser Antikörperklassen für unterschiedliche Funktionsbereiche nutzt die Natur also das modulare Prinzip der Kombination ähnlicher Grundeinheiten – diesmal von ganzen IgG-ähnlichen Einheiten. Bei IgE und IgM besteht der Fc-Teil im Gegensatz zu IgG, IgA und IgD aus drei Immunglobulindomänen (CH2, CH3 und CH4) (Fudenberg und Warner 1970; Mestecky 1972) (Abb. 1.5b).

Abb. 1.5
figure 5

Antikörper-Isotypen. Antikörper setzen sich modular aus selbstähnlichen Untereinheiten zusammen. Diese Untereinheiten haben eine gemeinsame Grundstruktur ( immunoglobulin superfamily fold ), welche in verschiedenen Kombinationen vielfältig kombiniert werden kann. Dies wird deutlich, wenn die Einzeldomänen eines IgG einzeln nebeneinander betrachtet werden (oben rechts). b: durch weitere Kombinatorik mit mehreren Grundmolekülen entstehen größere Antikörpervarianten (hier gezeigt: IgM und IgA) mit mehr Antigenbindungsstellen zur Erhöhung der apparenten Affinität (Avidität)

Aufgrund der flexiblen hinge -Regionen ist der Winkel und die Orientierung der beiden Fab-Fragmente zueinander sehr flexibel (Abb. 1.6). Diese Flexibilität trägt stark dazu bei, dass Immunglobuline räumlich sehr unterschiedlich angeordnete Epitope auf den verschiedensten Antigenen erfolgreich binden können.

Abb. 1.6
figure 6

Antikörper sind extrem flexible Moleküle. Während die Röntgenkristallstruktur (a) nur einen einzigen durch die Kristallstruktur fixierten Zustand darstellt, zeigt die Untersuchung des gleichen Antikörpers in der Elektronentomographie (b), dass sich die beiden Fab – „Greifarme“ eines Antikörpers in der Realität sehr vielfältig im Raum orientieren können, sie können dadurch den verschiedensten Antigenanordnungen gerecht werden (Zhang et al. 2015)

1.3.2.5 Antikörper bei Kieferlosen

Immunglobuline kommen bei allen Gnathostomata (Kiefermünder), einer Überklasse innerhalb des Unterstamms der Vertebraten, vor. Die zweite Überklasse innerhalb der Vertebraten, die Agnatha (Kieferlose), haben jedoch keine Antikörper, die der Struktur von Immunglobulinen entspricht. Anstelle dessen besitzen sie variable Lymphocytenrezeptoren, die aus Leucin-reichen, sich wiederholenden Polypeptiddomänen bestehen und bei diesen Tieren die Aufgabe von Antikörpern übernehmen (Pancer et al. 2004, 2005; Velikovsky et al. 2009).

1.3.2.6 Affinität, Avidität und Spezifität

Die Stärke der Bindung eines Antikörpers an sein Antigen, die „Affinität“, ist neben der Spezifität der zweite wichtige Faktor eines Antikörpers. Die Stärke dieser Bindung wird durch die Dissoziationskonstante angegeben:

$$ K_{\rm D} = \, \left[ {{\text{Antik\"orper}}} \right] \cdot \left[ {\text{Antigen}} \right] \, / \, \left[ {{\text{Antik\"orper :: Antigen}} - {\text{Komplex}}} \right]. $$

Sie beschreibt somit für das Reaktionsgleichgewicht, das sich zwischen den an das Antigen bindenden und den davon dissoziierten Antikörpermolekülen einstellt (Massenwirkungsgesetz). Je mehr Antikörper im Gleichgewicht in gebundener Form vorliegen, desto höher ist die Affinität des Antikörpers für sein Antigen. Typische Werte für die Dissoziationskonstanten von Antikörpern sind 10−6 M bis 10−11 M, also: je geringer die Dissoziationskonstante, desto höher ist die Affinität. Gute Antikörper haben Affinitäten im nanomolaren Bereich (10−9 M und geringer). Die Dissoziationskonstante kann auch aus der Geschwindigkeit der Assoziation (on-rate) an das Antigen und der Dissoziation (off-rate) berechnet werden: KD = koff/kon, wobei die Assoziationsrate von der Antikörperkonzentration und der Zeit abhängig ist [M−1 s−1] und die Dissoziationsrate nur von der Zeit [s−1] (Smith und Skubitz 1975; Voss 1993).

Die meisten Antikörper haben aber mehr als eine Antigenbindungsstelle, was die Berechnung der Bindungsstärke kompliziert. Sind genügend Antigene nahe beieinander, dann kann ein IgG aufgrund der enormen Flexibilität (Abb. 1.6) mit beiden Armen binden und somit einen Komplex mit zwei Antigenmolekülen bilden. IgA und IgM können sogar vier oder zehn Antigenmoleküle binden. Die Mehrfachbindung an ein Antigen liefert dabei eine zusätzliche Bindungsstärke, der entsprechende Effekt wird als „Avidität“ bezeichnet.

Die Stärke des Aviditätseffekts hängt von zahlreichen Faktoren ab, wie z. B. Häufigkeit des Epitops auf Zellen, ob das Antigen ein Monomer, Homodimer oder Homomultimer ist, und auch vom Abstand und von der Orientierung der Epitope zueinander. Man kann sich auch vorstellen, dass ein Antikörper, dessen einer Bindungsarm im Rahmen der normalen Molekülbewegung von seinem Antigen dissoziiert, nicht nur immer noch gebunden ist – der „abgefallene“ Bindungsarm hat sogar weit bessere Chancen, an sein immer noch in direkter Nähe befindliches Antigen wieder zurückzubinden, als ein frei in Lösung schwimmender Bindungsarm. Die Stärke der Avidität ist wegen dieses kooperativen Effekts meist mehr als die Summe der Einzelaffinitäten und auch nicht proportional zur Anzahl der Bindearme eines Antikörpers. Bei der Bestimmung von Affinitäten für die praktische Anwendung ist zudem zu beachten, dass diese auch stets von den jeweiligen Assays abhängig ist, es gibt also keine „wahre“ Affinität. Verschiedene Methoden zur Bestimmung der Affinität von Antikörpern sind in Abschn. 2.7.1 erklärt.

Als Spezifität wird die Eigenschaft eines Antikörpers bezeichnet, ein bestimmtes Antigen in einer Mischung vieler anderer zu erkennen und zu binden. Die Definition der Spezifität ist aber alles andere als einfach, was schon allein daran erkennbar ist, dass es für Spezifität kein allgemein akzeptiertes Quantifizierungssystem gibt. Ob etwas „spezifisch“ ist, hängt stets vom Kontext ab, also der Konzentration und Diversität der im jeweiligen Fall präsenten anderen Moleküle. Man muss sich dazu vergegenwärtigen, dass es für alle nicht-kovalenten Reaktionen zwischen Antikörpern und anderen Molekülen eine Gleichgewichtskonstante gibt – allerdings mit sehr unterschiedlichen Größenordnungen. Unsere Konvention, die eine praktische Nutzung des Begriffs „spezifisch“ erst ermöglicht, ist deshalb, hier irgendwo eine Linie zu ziehen, welche „unspezifisch“ von „spezifisch“ trennt. Wir sehen also, dass der Begriff der Spezifität stets eine kontextbezogene Sammlung verschiedener Affinitäten beinhaltet. Die höchste Affinität definiert dabei typischerweise die Reaktion, die wir als spezifisch betrachten. Die Trennlinie zur Unspezifität kann aber – abhängig von der jeweiligen Verwendung – sehr unterschiedlich liegen, eine festgelegte Definition gibt es nicht. Als groben Anhaltspunkt kann man davon ausgehen, dass bei Antikörpern üblicherweise Dissoziationskonstanten deutlich besser als 1 × 10−6 M für eine brauchbare Spezifität vorausgesetzt werden.

Antikörper können zudem auch mit ähnlich hoher Affinität an mehrere verschiedene Antigene binden, dies wird als Kreuzreaktion bezeichnet (Abb. 1.7). Eine Kreuzreaktion ist demnach immer eine spezifische Bindung – wenn auch oft unerwünscht. Kreuzreaktionen können beispielsweise darauf basieren, dass ein strukturell ähnliches Epitop in sehr verschiedenen Proteinen vorkommt. Solche strukturell – hier insbesondere in Bezug auf die Oberfläche – ähnlichen Epitope können durchaus aus völlig unterschiedlichen Polypeptidstrukturen gebildet werden, entscheidend ist, dass sie genügend nicht-kovalente Interaktionen mit dem Paratop eingehen können, um eine ausreichende Affinität zu generieren (Mariuzza 2006; Sethi et al. 2006). Bei der experimentellen Untersuchung von Epitopen (Abschn. 2.7.2) findet man nicht allzu selten solche Strukturen, welche mit ähnlicher Affinität an das Antigen binden (Kramer et al. 1997; anderes Beispiel in Abb. 2.13c). Aber auch bei Reaktionen mit von Natur aus homologen Proteinen, zum Beispiel Varianten des gleichen Enzyms aus verschiedenen Spezies oder innerhalb einer Genfamilie, welche sich nur in wenigen Aminosäurepositionen unterscheiden, spricht man von Kreuzreaktion.

Abb. 1.7
figure 7

Einige Begriffe zur Beschreibung der Bindungsreaktionen von Antikörpern, bezogen auf das Antigen. Die Struktur des Paratops – also des Gegenstücks zum Epitop auf dem Antigen – definiert den Idiotyp eines Antikörpers, d. h. seine Spezifität. Weitere Details in Abschn. 2.7.2 ff.

Erkennt der Antikörper eine größere Zahl deutlich unterschiedlicher Epitope mit höherer Affinität, spricht man von Polyspezifität (Dimitrov et al. 2012; Kamatari et al. 2014; Pinilla et al. 1995). Solche polyreaktiven Antikörper könnten durchaus eine wichtige Funktion im Immunsystem haben – sie könnten bei weniger Aufwand für die B-Zellen eine größere Zahl von Eindringlingen abfangen. Bei der technischen Anwendung ist Polyreaktivität dagegen meist störend.

Von einer unspezifischen Bindung spricht man, wenn ein Antikörper nachweisbar bindet, dabei jedoch eine definierte Spezifität nicht erkennbar ist. Dies kann zum Beispiel auftreten, wenn die Antikörper partiell oder vollständig denaturiert sind und dadurch verstärkt hydrophobe Interaktionen mit anderen Molekülen eingehen können – also schlicht „klebrig“ werden – oder wenn die Bindung nicht über die Paratope in den variablen Domänen erfolgt (Abb. 1.7). Eine typische technisch relevante Erscheinungsform unspezifischer Bindung ist die Klebrigkeit von Antikörpern an verschiedene Plastikoberflächen – die man sich umgekehrt aber auch zunutze machen kann, um diese zu beschichten – zum Beispiel beim typischen ELISA.

1.3.3 Die konstanten Domänen vermitteln Effektorfunktionen

Nur in wenigen Fällen übt ein Antikörper für sich allein seine Schutzfunktion aus. Es gibt neutralisierende Antikörper gegen bakterielle Toxine oder Antikörper, die direkt das Eindringen von Viren in ihre Zielzellen verhindern, indem sie die natürlichen Kontaktstellen sterisch blockieren (Abschn. 5.4.4 und 5.4.5).

Ihre große Wirksamkeit gewinnen Antikörper jedoch erst durch eine enge Zusammenarbeit mit dem restlichen Immunsystem. Antikörper sind Adaptoren: Die variablen Domänen binden das Antigen und sind somit für die Markierung des Ziels zuständig, während die konstanten Regionen die Aktivierung des Immunsystems vermitteln. Bakterien können durch Antikörper opsonisiert werden, und anschließend binden Makrophagen an die Fc-Teile der gebundenen Antikörper mittels eines Fcγ-Rezeptors und die Bakterien werden mittels Phagocytose aufgenommen und lysiert (Aderem und Underhill 1999). Antikörper, die an Bakterien gebunden haben, können auch das Komplementsystem aktivieren (Klassischer Weg). C1q kann an den Fc-Teil von auf einer Bakterienoberfläche in einer bestimmten Orientierung angeordneten Antikörper binden und so die Komplementkaskade auslösen. Am Ende dieser Kaskade werden durch das C9 Protein Poren in der Membran gebildet, was zu einem ungehinderten Austausch des Cytoplasmas mit der Umgebung, dem Verlust des Membranpotenzials und damit zum Zelltod führt (Foster 2005; Tomlinson 1993). Körpereigene Zellen, die entartet sind, können neben den cytotoxischen CD8-T-Zellen (Rubin 2009) auch von Antikörpern erkannt werden, wenn sie Neoantigene präsentieren. Makrophagen und Natürliche Killerzellen (NK-Zellen) binden über ihren Fcγ-Rezeptor an die Antikörper. Die NK-Zellen töten diese Zellen durch die Freisetzung von Perforinen, um die Membran der Zielzellen zu zerstören, und von Granzymen, die eine Apoptose auslösen (Klein und Mantovani 1993; Oflazoglu et al. 2009).

Verschiedene konstante Regionen können eine ganze Reihe unterschiedlicher biologischer Effekte vermitteln. Zu allergischen Reaktionen kommt es beispielsweise nach der Bindung an ein IgE, während die Bindung an ein IgM zur Aktivierung des Komplementsystems führen kann. Die modulare Bauweise der Moleküle ermöglicht auch den Austausch der konstanten Regionen ( class switch ) währen der B-Zell-Differenzierung unter Beibehaltung der Antigenspezifität. Je nach Anforderung kann das Immunsystem damit während der Entwicklung einer Immunantwort sehr flexibel reagieren. Der Einsatz eines bestimmten Fc-Teils ist deshalb für viele Anwendungen entscheidend und mittlerweile sind Fc-Regionen vielfach molekular für eine bestimme Aufgabe verändert worden (Abschn. 3.5 und Abb. 3.8).

1.4 Wie entsteht die Antikörperdiversität?

Wie gelingt es dem Organismus, gegen praktisch jeden Fremdstoff einen spezifischen Antikörper zu bilden? Wie kann er möglichst alle potenziell „feindlichen“ Antigene erkennen, auch solche, die er noch gar nicht kennt? Der Mensch erreicht dies mit einem riesigen Arsenal von Antikörpern mit unterschiedlicher Bindungsspezifität. Jeden Tag werden vom Knochenmark etwa 3 × 106 unterschiedliche, reife, naive B-Zellen mit einem IgM- oder IgD-Rezeptor produziert (Rolink und Melchers 1993). Die Halbwertszeit der peripheren B-Zelle beträgt etwa fünf bis sechs Wochen (Fulcher und Basten 1997). Daraus lässt sich abschätzen, dass zu jedem Zeitpunkt im Menschen etwa 3 × 108 unterschiedliche naive B-Zellen vorhanden sind. Etwa 1012 B-Zellen sind beim Menschen insgesamt vorhanden (Rolink und Melchers 1993).

1.4.1 Die Antikörpervielfalt entsteht durch die zufällige Kombination von Peptidbausteinen

Der Mensch besitzt zwischen 20.000 und 25.000 proteincodierende Gene (International Human Genome Sequencing Consortium 2004) – also um viele Größenordnungen weniger Gene als unterschiedliche Antikörper. Wie kann das sein? Es wäre für den menschlichen Organismus viel zu aufwendig, für jeden der geschätzt > 108 unterschiedlichen Antikörper ein eigenständiges Gen bereitzuhalten. Die dafür nötige Informationsmenge würde die Kapazität seines Genoms sprengen. Die Kiefermäuler (Gnathostomata), Überklasse innerhalb des Unterstamms der Wirbeltiere (Vertebrata) – nur sie besitzen Antikörper – haben dieses Problem mit Hilfe eines eleganten Tricks gelöst, der Anfang der 1980er Jahre am Immunologischen Institut in Basel durch Susumu Tonegawa beschrieben wurde. Er konnte zeigen, dass die Sequenz einer Immunglobulinkette – also ein komplettes Antikörpergen einer B-Zelle – aus DNA-Stücken zusammengesetzt wird, welche aus mehreren homologen Kopien im Genom für jede B-Zelle individuell neu kombiniert werden (Abb. 1.8a) (Hozumi und Tonegawa 1976; Tonegawa 1983). So wie man mit wenigen genormten Lego-Bausteinen Millionen unterschiedlicher Häuser errichten kann, verknüpfen sie „genormte“ Polypeptidbausteine zu einem modular aufgebauten Antikörper. Dadurch müssen im Genom nur einige Hundert dieser Polypeptidbausteine codiert werden. Einige wenige (große) Bausteine codieren dazu noch die konstanten Bereiche des Antikörpers und bestimmen damit seine Effektorfunktionen, die die Nachrichtenübermittlung an das Immunsystem gewährleisten. Die Antigen-Bindungsspezifität eines Antikörpers jedoch wird nur von einem kleinen Teil des Gesamtproteins vermittelt: den variablen Regionen .

Abb. 1.8
figure 8

Die Quelle der Antikörpergenvielfalt. Während der natürlichen Entwicklung des B-Lymphocyten-Repertoires in unserem Körper setzt jeder B-Lymphocyt durch Rekombination der V-, J- und ggf. D-Sequenzen die Gene für „seinen“ spezifischen Antikörper neu zusammen (oberer Kasten). Die Information für alle Antikörpergene findet sich danach im Repertoire der B-Lymphocyten wieder, genetisch betrachtet: in ihrer mRNA. Daraus kann sie mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion (PCR) gewonnen werden (unterer Kasten). Mit je zwei Oligonucleotidprimern (hier durch graue Halbpfeile dargestellt), die an die beiden Enden des gewünschten Genstückes hybridisieren, werden die VH- und VL-Gene der Antikörper vervielfältigt. Die so gewonnenen Genstücke werden mit anderen DNA-Fragmenten – auch aus anderen Organismen – kombiniert und z. B. wie hier gezeigt zu scFv-Fragmenten zusammengesetzt. Die beiden Antikörperketten werden im hier gezeigten Beispiel durch ein Peptid von 15–18 Aminosäuren zu einem einzigen Protein (scFv-Fragment) verbunden. Das so entstandene einzelne Gen für ein scFv-Fc-Fusionsprotein ermöglicht eine einfache Produktion, und das resultierende Protein hat zu IgG äquivalente Eigenschaften. Die Längen der Gen- und Proteinregionen sind nicht maßstabsgerecht dargestellt

1.4.2 Antikörper-Gene werden aus Gensegmenten zusammengesetzt

Die Antikörpergene entstehen bei der Differenzierung von lymphatischen Vorläuferzellen zu B-Lymphocyten durch somatische Rekombinationen in Genom. Die Domänen VH und VL werden von mehreren Gensegmenten codiert. VH wird von drei Gensegmenten (V, D, J) codiert und VL von zwei Gensegmenten (V, J) (Tonegawa 1983; Taussig 1988). Die unterschiedlichen Gensegmente für V, (D) und J sind auf den jeweiligen Chromosomen perlenschnurartig hintereinander angeordnet (Taussig 1988). Es ist hervorzuheben, dass CDR3 der schweren Kette von drei Gensegmenten und CDR3 der leichten Kette von zwei Gensegmenten gebildet wird (Abb. 1.8a). Im humanen Genom befinden sich die V-, D- und J-Gensegmente für die schwere Kette sowie die Gensegmente für die konstanten Regionen der schweren Kette auf Chromosom 14. Die Gensegmente V- und J-der leichten Ketten sowie CL vom Typ Kappa (κ) liegen auf Chromosom 14 und vom Typ Lambda (λ) auf Chromosom 2 (Honjo 1983). Es gibt unterschiedlich viele Gensegmente für V, (D) und J (IMGT, http://www.imgt.org/IMGTrepertoire/LocusGenes/) (Tab. 1.1).

Tab. 1.1 Zahl der humanen Immunglobulin-Gensegmente.

Von den meisten Gensegmenten gibt es auch mehrere Allele, z. B. sind bei Gensegment IGHV1-69 (IGHV1-69*01 bis IGHV1-69*14) 14 Allele bekannt. Die Bezeichnung IGHV1-69*01 bedeutet: Subfamilie 1 des V-Gensegments der schweren Kette, Gen 69, Allel 1. Achtung: Die Gennummern/Genbezeichnungen haben nichts mit der Gesamtzahl von Genen in einer Subfamilie zu tun.

1.4.3 Die kombinatorische Diversität entsteht durch VDJ-Rekombination und durch die Kombination von leichter und schwerer Kette

Bei der somatischen Rekombination wird zufällig ein V-Gensegment, (ggf. mit einem D) und einem J-Gensegment verknüpft. Um jeweils ein V-Gensegment mit einem D-Gensegment – bei der schweren Kette – und einem J-Genelement zu verknüpfen, befindet sich zwischen den Genelementen eine charakteristische Anordnung von Heptamer- und Nonamer-Palindrom-Nucleotidsequenzen, die durch 23 oder 12 bp-Spacer getrennt sind. Die Rekombination der V-, D- und J-Gensegmente wird durch das „recombinase activating gene“-(RAG-)Enzym gewährleistet. Im ersten Schritt wird bei der V-Gen-Rekombination ein zufälliges D-Segment mit einem zufälligen J-Segment verbunden. Die dazwischen liegenden Genomabschnitte werden herausgeschnitten. Eine differenzierte B-Zelle enthält somit nicht mehr das komplette humane Genom. Im nächsten Schritt wird ein DJ-Segment mit einem zufälligen V-Gensegment verknüpft und ein komplettes V-Gen, das eine variable Domäne codiert, ist entstanden (Collins et al. 2003; Manis et al. 1998; Steen et al. 1997). Hierbei sind ~ 7500 verschiedene Kombinationen für VH, 200 Kombinationen für Kappa und 165 Kombinationen für Lambda möglich. Die Kombination von jeweils einer schweren mit einer leichten Kette führt zu einer kombinatorischen Diversität von ~ 3 × 106 verschiedenen Antikörpern. Bei der Kombination der VDJ-Segmente der schweren Kette bilden diese drei Gensegmente die CDRH3, er ist die diverseste CDR und die wichtigste CDR-Region für die Antigenbindung.

1.4.4 Junktionale Diversität: Erzeugung neuer Gensequenzen in jeder B-Zelle

In der CDR3 der schweren Kette wird die Diversität mit einem weiteren erstaunlichen Mechanismus zusätzlich gesteigert, die sogar Gen-Neusynthese umfasst. Bei der Rekombination der V-Gene wird die Diversität dazu durch P-(„palindrome“-)Nucleotide durch das RAG-Enzym und N-(„non-templated“-)Nucleotide durch die Terminale Desoxynucleotidtransferase (TdT) weiter erhöht. Neben den genannten Enzymen sind noch weitere Enzyme (z. B. DNA-Ligasen, DNA-abhängige Proteinkinasen) an den Reaktionen beteiligt. Die P-Nucleotide entstehen beim Schneiden des DNA-Doppelstrangs und die N-Nucleotide sind zufällige Desoxynucleotide, die zwischen den entstandenen DNA-Enden eingefügt werden. Das zufällige Einfügen von Nucleotiden bringt enormen Zuwachs an zusätzlicher struktureller Diversität der Antigenbindungsstelle, dadurch variieren die Aminosäuren der CDR3 der schweren sehr stark. Es können hierbei aber auch aufgrund von Leserasterverschiebungen oder Stoppcodons nicht funktionale V-Gene entstehen.

Durch die Kombination von kombinatorischer Diversität und die „Zufallsmutagenese“ der junktionalen Diversität wird das mögliche praktische V-Gen-Repertoire auf etwa 1011 unterschiedliche B-Zell-Rezeptoren geschätzt (Billips et al. 1995; Collins et al. 2003; Lewis 1994; Rolink und Melchers 1993). Unser B-Zell-Repertoire enthält damit zahlreiche Sequenzen, die wir nicht von unseren Eltern vererbt bekamen, und die individuell sehr unterschiedlich sein können, und sich selbst bei eineiigen Zwillingen unterscheiden. Bei der Herstellung rekombinanter Antikörper macht man sich oft die bereits erfolgte Rekombination zunutze, indem man entsprechende Gene – oder gesamte Genrepertoires – in vereinfachte Formate wie das scFv-Fragment (Abb. 1.1) oder scFv-Fc-Fusionen umkloniert (Abb. 1.8b).

1.5 Wie entsteht eine spezifische Immunantwort aus dieser Antikörper-Vielfalt?

1.5.1 Klonale Deletion, Selektion und Expansion

Einem neuen Antigen (z. B. Grippevirus), welches in unseren Körper eindringt, steht also ein Repertoire von geschätzt >108 verschiedenen Antikörpern gegenüber. Um dieses Repertoire zu erzeugen, sind zahlreiche Schritte der B-Zell-Differenzierung nötig, welche zum einen verhindern, dass Antikörper gegen Selbst-Antigene entstehen (klonale Deletion), andererseits aber auch spezifische Antikörper produzierende B-Zell-Klone gezielt zur weiteren Differenzierung in Plasmazellen und damit zu sehr starkem Wachstum bringen (klonale Selektion und klonale Expansion) (Abb. 1.9). Aus den unzähligen Bindemolekülen, die durch Zufallsrekombination von Genstücken und Zufallsmutagenese entstanden und in Form eines riesigen Repertoires an B-Zell-Klonen vorliegen, muss also bei einer Abwehrreaktion jene eine B-Zelle identifiziert werden, welche den Eindringling mit der geeigneten Spezifität ihres Antikörpers bekämpfen kann. Jeder Antikörper wird von einem eigenen B-Lymphocyt gebildet, und jede Zelle aus diesem Repertoire verschiedener B-Lymphocyten präsentiert für den Auswahlprozess „ihren“ Antikörper auf der Oberfläche. Nur wenige der B-Lymphocyten aus diesem Repertoire tragen passende Antikörper gegen den Eindringling auf der Oberfläche. Die Präsentation dieses Antigens durch dafür spezialisierte Zellen veranlasst nun diese besondere B-Zelle – mit Hilfe zahlreicher zusätzlicher Mechanismen – sich zu differenzieren und auch weiter zu teilen. Dadurch wird der Anteil dieses speziellen B-Lymphocyten-Klons an der Gesamtpopulation stark vermehrt (klonale Expansion). Es findet also eine klonale Selektion statt. Ein Teil dieser B-Lymphocyten entwickelt sich dabei weiter zu den antikörpersezernierenden Plasmazellen. Mit Hilfe eines alternativen splicing-Wegs für die Antikörper-mRNA schaltet die Plasmazelle dann von membrangebundenem Antikörper (IgM) auf die sezernierte Variante (meist IgG) um. Diesen Vorgang nennt man Isotypwechsel oder auch class switch .

Abb. 1.9
figure 9

Klonale Selektion in unserem Körper bei der primären Immunantwort . Im Blut zirkuliert ein großes Repertoire von B-Lymphocyten, die jeweils unterschiedliche Antikörper-Gen-Rearrangements durchgeführt haben (Abb. 1.8). Jeder B-Lymphocyt präsentiert seinen spezifischen Antikörper auf der Oberfläche. Kommt er in Kontakt mit einer antigenpräsentierenden Zelle, deren Antigen von „seinem“ Antikörper gebunden wird, wird in diesem B-Lymphocyt ein Wachstumsprogramm ausgelöst (klonale Selektion). Der B-Lymphocyt vermehrt sich stark (Expansion), wobei ein Teil seiner Nachkommen zu Plasmazellen differenziert. Diese sezernieren dann große Mengen dieses einen Antikörpers

Am Schluss resultiert so eine große Zahl von Abkömmlingen der Ursprungs-B-Zelle, welche einen einzigen Antikörper in sehr großen Mengen produzieren – Antikörper sind das zweithäufigste Serumprotein. Einen detaillierteren Überblick über diese ganzen Vorgänge bietet Murphy et al. 2018.

1.5.2 Affinitätsreifung durch somatische Hypermutationen

Schon lange ist bekannt, dass sich die Immunantwort des Menschen gegen ein Antigen im Laufe der Zeit verbessern kann. So bekommen wir viele Krankheiten nur einmal, danach sind wir geschützt gegen diesen Erreger, wir sind „immun“. Auch für einzelne Antikörper ließ sich diese Verbesserung zeigen: Immunisiert man eine Maus, dann binden die dabei gebildeten Antikörper (die Immunglobuline) das Antigen zunächst relativ schwach. Wiederholt man die Immunisierung nach einiger Zeit, so binden die dann gebildeten Antikörper dieses Antigen deutlich besser, im Laufe der Zeit ist es zu einer Affinitätsreifung gekommen. Warum ist das so?

Etwa eine Woche nach der Antigenstimulierung haben die Plasmazellen große Mengen an Antikörpern gebildet. Dadurch entsteht ein Überschuss von Antikörpern gegenüber dem Antigen (beispielsweise dem Grippevirus), das dabei eliminiert wird. Einige aktivierte B-Lymphocyten sind jedoch nicht zu Plasmazellen differenziert. Aus ihnen gehen später die Gedächtniszellen hervor. Die B-Lymphocyten teilen sich nun, wobei die Gene der rearrangierten variablen Antikörperdomänen (und nur diese Gene!) einer milliardenfach erhöhten Mutationsrate, verglichen mit dem restlichen Genom, ausgesetzt sind.

Einige dieser Mutationen codieren zufällig einen besser bindenden Antikörper. Da antikörperpräsentierende B-Lymphocyten in den Keimzentren um die Bindung an die antigenpräsentierenden dendritischen Zellen konkurrieren – und damit letztlich um Wachstumssignale – kann der Prozess der klonalen Expansion und Differenzierung zu Plasmazellen nun mit verbesserten Antikörpern neu beginnen, die durch die Mutationen eine höhere Affinität zum Antigen besitzen. Schon vor ihrer Aufklärung wurden diese molekularen Grundlagen der Antikörperentwicklung bei den empirisch entwickelten Impfprotokollen berücksichtigt. So liegen meist mindestens vier Wochen zwischen den einzelnen Immunisierungen. Dies entspricht etwa der Zeit, die zur Affinitätsreifung, d. h. dem Prozess der Bildung von Gedächtniszellen, benötigt wird.

Es würde den Rahmen des Buches sprengen, wenn hier ein kompletter Überblick über das Immunsystem gegeben würde. Der Leser ist hierfür an Lehrbücher wie beispielsweise das hervorragende Immunologie von Charles Janeway und Paul Travers verwiesen (Murphy et al. 2018). In den folgenden Abschnitten zeigen wir, wie die Grundprinzipien der Antikörper-Immunantwort, wie z. B. der modulare Aufbau der Antikörper oder die Mechanismen der genetischen Rekombination und der somatischen Evolution Lehrmeister für die Gentechnologen war, die dadurch inspiriert ähnliche Lösungen im Reagenzglas realisieren konnten.